Geschichte Kirgisistans
Die Geschichte Kirgisistans umfasst die Entwicklungen auf dem Gebiet der Kirgisischen Republik von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Die turksprachigen Kirgisen wanderten vom 8. Jahrhundert an in das Gebiet des heutigen Kirgisistans ein. In den Wirren der Mongolen- und Dschungarenzeit (13.–18. Jahrhundert) verstärkte sich die Wanderungsbewegung an den Tianshan, und mit dem Ende des russischen Kolonialzeitalters und der Sowjetzeit entstand im 20. Jahrhundert schrittweise der heutige Staat.
Zeit zwischen den Kök-Türk und dem kirgisischen Großreich
Kirgisische Volksstämme siedelten ursprünglich am oberen Jenissej. Als sogenannte Jenissej-Kirgisen traten sie im 5. und 6. Jahrhundert als Vasallen der Kök-Türk auf. Ab dem 8./9. Jahrhundert wanderten Gruppen von ihnen in das Gebiet des heutigen Kirgisistan ein, was anhand von einigen wenigen Hinweisen in Gestalt von Clan-Namen, Runeninschriften und Ortsnamen sichtbar ist.
Im 9. und 10. Jahrhundert formierten die Jenissej-Kirgisen ein Großreich, von dessen Bedeutung archäologische Zeugnisse (Berg- und Ackerbau, Runenschrift, Straßenbau, Bewässerungsanlagen und kleinere Städte) zeugen.
Mongolenherrschaft
In den Jahren 1207 und 1208 unterstellten sich die Khane der Jenissej-Kirgisen freiwillig Dschingis Khans ältestem Sohn Dschötschi. An den mongolischen Feldzügen nahmen auch Kirgisen teil. So nahmen diese an der Eroberung des heutigen Kirgisistans (um 1219) teil und ließen sich dort nieder. Ein kleiner Teil von ihnen nomadisierte in den benachbarten Steppengebieten des Flachlandes. Anfänglich gehörten die Jenissej-Kirgisen zur Orda-Horde. Doch im späten 15. Jahrhundert war ihr Gebiet vom stammverwandten Tschagatai-Khanat erobert und die Orda-Horde aufgelöst worden. Das Gebiet der einstigen Orda-Horde wurde zwischen der Weißen Horde und dem Tschagatai-Khanat aufgeteilt; der Norden des Gebietes stand unter dem Einfluss des Khanat Sibir. Doch wurden die Kirgisen immer wieder von Überfällen der westmongolischen Oiraten heimgesucht.
Bündnis mit dem Khan der Großen Horde und Dschungarenreich
Als die Dschungaren von der westlichen Mongolei aus begannen, ihr nomadisch geprägtes Steppenreich zu errichten, wanderten aufgrund dessen immer mehr Kirgisen aus dem Jenissejgebiet ins südlichere Tianshangebirge ab, wo sie sich mit der autochthonen Bevölkerung vermischten und ab dem 16. Jahrhundert in der Region zu einem Machtfaktor wurden. Die ca. 40 kirgisischen Stämme mit ihren Clans agierten in ihren neuen Siedlungsgebieten äußerst autonom.
Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert standen die Kirgisen auch in einem lockeren Bündnis mit den benachbarten Kasak-Kirgisen, die die weiten Steppengebiete Zentralasiens durchzogen. Diese hatten im 15. Jahrhundert das Kasachen-Khanat begründet. Nun war dieses in drei teilweise konkurrierende Horden zerfallen. Während die Kleine und Mittlere Horde weiterhin die Steppengebiete zwischen dem Balchaschsee und dem Kaspischen Meer beherrschten, gehörten sowohl die südlichen Steppengebiete mit den Städten als auch die Khanate Chiwa und Buchara zum Einflussgebiet der Großen Horde. Vor allem mit dem Khan der Großen Horde standen die Kirgisen in engem Kontakt und gehörten ebenfalls größtenteils zu dessen Einflussbereich.
Zeit der Zugehörigkeit zu China und zum Khanat Kokand
Aufgrund der ständigen Überfälle zogen die übrigen Kirgisen bis auf geringe Reste vom Jenissej an den Tianshan, während sich die Kasak-Kirgisen nach und nach der russischen Krone unterstellten. Im 18. Jahrhundert wurde das Dschungarenreich zerschlagen und das heutige Kirgisistan gehörte zum Kaiserreich China. In diesem Jahrhundert wurde das Gebiet endgültig islamisiert. Große Gebietsteile des Landes fielen zwischen 1830 und 1876 an das benachbarte Khanat Kokand.
Geschichte unter der Zarenzeit bis zur Sowjetrevolution
Um 1855 begann die russische Expansion, die sich das Siedlungsgebiet der Kirgisen schrittweise einverleibte. Der Nordteil des Landes wurde bis 1863 von den Truppen Michail Tschernjajews erobert. 1876 übernahm das Russische Reich mit der Besetzung des Alai-Tales die vollständige Herrschaft im Land.
1905 nahmen kirgisische Intellektuelle sowohl an einem „Kongress der turkestanischen Muslime“ in Taschkent als auch an zwei Veranstaltungen in Orenburg und Warny teil. Veranstalter waren der Dumaabgeordnete Älichan Bökeichan, der Sprachwissenschaftler Achmet Baitursynuly und der Schriftsteller Mirschaqyp Dulatuly. Aufgrund dieser letzteren Kongresse schlossen sich erstmals kasachische und kirgisische Intellektuelle zu einer konstitutionell-demokratisch sowie landsmannschaftlich betont national orientierten „Nationalbewegung“ zusammen, die den Namen „Alasch“ erhielt. Politisch blieb diese Alasch-Bewegung allerdings bedeutungslos.
Als 1916 der mittelasiatische Aufstand, der vor allem von den Basmatschi getragen wurde, nahmen auch zahlreiche Kirgisen teil. Im Frühjahr 1917 wurde offiziell in Bischkek durch Mustafa Tschokajew eine Sektion der Alasch-Partei gegründet und im November des gleichen Jahres wurde von diesem in Kokand die sogenannte „Kokander Autonomie“ ausgerufen. Diese umfasste auch das heutige Kirgisien und war de facto eine territoriale Einheit des im Dezember 1917 ausgerufenen Alasch-Orda-Staates. Das Khanat wurde im Februar 1918 durch die Rote Armee blutig beseitigt und im April 1918 faktisch in die neu gegründete Turkestanische ASSR eingegliedert. Aktives und passives Frauenwahlrecht wurden im Juni 1918 eingeführt.[1]
1919 ging der Alasch-Orda-Staat durch eine Niederlage gegen die Rote Armee unter und wurde im August 1920 aufgelöst. Infolgedessen wurde dann das heutige Kirgisistan auch rechtlich in die Turkestanische ASSR aufgenommen. Innerhalb der Turkestanischen ASSR bildete das heutige Kirgisistan den Karakirgisischen Autonomen Oblast und die ASSR dabei um Gebiete der früheren Regionen (oblast) Semirechenskaja, Syrdarinskaja, Ferganskaja und Samarkandskaja ergänzt.[2]
Geschichte innerhalb der UdSSR
Im Oktober 1924 wurde die Turkestanische ASSR aufgelöst. Am 25. Mai 1925 wurde das bisherige Karakirgisische Gebiet in Kirgisischer Autonomer Oblast umbenannt. Am 1. Februar 1926 wurde dem Kirgisischen Autonomen Oblast mit der Gründung der Kirgisischen ASSR im Rahmen der RSFSR der Status einer autonomen Republik zugestanden. Mit der Verfassung von 1936 erfolgte am 5. Dezember 1936 die Ernennung zur Unionsrepublik der Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik als Teil der Sowjetunion.[2] Diesen Status behielt Kirgisistan fortan bis zur Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991. Am 5. November 1938 fand südlich vom heutigen Bischkek eine Massenerschießung im Rahmen des Großen Terrors statt, bei der 137 führende Köpfe der Kirgisischen SSR ohne Gerichtsurteil getötet wurden. Heute erinnert die Gedenkstätte Ata-Bejit an die Opfer.[3]
1988 schlossen sich nationalistische Kirgisen mit den benachbarten Kasachen zu einer neuen Alasch-Partei zusammen, die nun den Namen „Alasch – Partei der nationalen Unabhängigkeit“ trug. Viele ihrer Mitglieder kamen aus der rechtsnationalen Bürgerrechtsbewegung „Aschar“ (kirgisisch Acar = türkisch Aşar = deutsch Schlüssel), deren Hauptforderungen vor allem in der Aussiedlung der nichttürkischen Bevölkerungsminderheiten aus dem Land und der Übergabe ihrer Häuser an Kirgisen bestanden.
Innerhalb der Sowjetunion gab es de jure keine offizielle Landessprache, auch wenn es de facto die Russische Sprache war. Bolschewiken sahen keinen Grund dazu, in entlegenen Regionen die Russische Sprache mit allen Mitteln als einzige Sprache durchzusetzen. Im Gegenteil fürchtete man damit unnötige Spannungen zu erzeugen. So wurde an den Schulen der Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik zwar Russisch als Pflichtgegenstand unterrichtet und sämtliche offiziellen amtlichen Anliegen mussten in Russisch vorgebracht werden, jedoch war Kirgisisch weiterhin Umgangssprache.[4] Erst im Jahr 1990 wurde mit dem Gesetz der Sprachen Russisch als offizielle Landessprache in der Sowjetunion eingeführt, allerdings stand es den sowjetischen Teilrepubliken zu, neben Russisch noch andere offizielle Landessprachen im Rahmen ihrer Rechtsprechung zu ernennen.[5] Am 15. Dezember 1990 erklärte Kirgisistan seine Souveränität innerhalb der UdSSR.
Nach Erlangung der Unabhängigkeit Kirgisistans wurde das gesamte öffentliche Wesen in Kirgisischer Sprache abgewickelt und es wurde damit begonnen, die Schreibweise wichtiger geographischer Bezeichnungen und Personennamen der Kirgisischen Aussprache anzupassen.[2] Es gab nach der Unabhängigkeit lange Zeit Bemühungen, eine Latinisierung der Schrift vorzunehmen. Jedoch sind Kirgisistan gemeinsam mit Kasachstan bis dato die einzigen beiden verbleibenden Turkstaaten mit kyrillischem Alphabet.
Geschichte seit der staatlichen Unabhängigkeit
Am 31. August 1991 erklärte das Parlament die Republik für unabhängig. Erster Staatspräsident wurde Askar Akajew, der seit 1990 Staatspräsident der Kirgisischen SSR gewesen war und bei der Präsidentschaftswahl in Kirgisistan 1991 zum Präsidenten des unabhängigen Kirgisistans gewählt wurde.
Die Ära Akajew 1991–2005
In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft vollzog Akajew einen radikalen Schritt von der Plan- zur Marktwirtschaft. Er leitete eine Demokratisierung der politischen Strukturen ein; eine neue Verfassung wurde durch das Parlament im Mai 1993 verabschiedet.
Staatliche Unabhängigkeit 1991
Am 31. August 1991 erklärte Kirgisistan seine Unabhängigkeit. Erster Präsident wurde Askar Akajew, der seit 1990 Staatspräsident der Kirgisischen SSR war und bei der Präsidentschaftswahl in Kirgisistan 1991 zum Präsidenten des unabhängigen Kirgisistans gewählt wurde. Sharipa Sadybakasova wurde 1995 als erste Frau nach der Unabhängigkeit ins Unterhaus des nationalen Parlament gewählt, im selben Jahr vier Frauen ins Oberhaus´.[6] Nach seiner Wiederwahl bei der Präsidentschaftswahl in Kirgisistan 1995 und der Parlamentswahl in Kirgisistan 1995 begann Präsident Akajew seine Machtposition zu stärken: Durch eine 1996 per Referendum gebilligte Verfassungsänderung erhielt er weit gehende Kompetenzen in der Innen- und der Außenpolitik. Im Referendum von 1998 wurde die Macht des Parlaments beschränkt.
Ab Ende der 1990er Jahre – besonders nach den Überfällen von Freischärlern im Südwesten des Landes in den Jahren 1999 und 2000 und infolge der Ereignisse vom 11. September 2001 – zeichnete sich ein zunehmend autoritärer Regierungsstil Akajews ab. Sowohl die Parlamentswahl in Kirgisistan 2000 wie auch die Präsidentschaftswahl am 29. Oktober 2000 wurden von der OSZE, die Beobachtermissionen entsandt hatte, als nicht den Kriterien der OSZE entsprechend kritisiert. Weitere Proteste im In- und Ausland lösten im März 2001 die Verurteilung des ehemaligen Ministers und Bischkeker Bürgermeisters Felix Kulow zu sieben Jahren Gefängnis wegen Amts- und Machtmissbrauchs, im Januar 2002 die Verhaftung des Parlamentariers Asimbek Beknasarow, ebenfalls wegen Machtmissbrauchs, und im März 2002 der Tod von fünf Demonstranten durch Polizeischüsse in der Stadt Aksy aus. Zwar herrschte insgesamt noch immer ein im Vergleich zu anderen zentralasiatischen Staaten eher liberales Klima mit einer aktiven und starken Zivilgesellschaft, aber positive Reformschritte wie Ansätze zu Reformen im Justizwesen und der Gefängnisverwaltung, Einführung von Wahlen auf Ebene der Lokaladministration u. a. waren begleitet von anhaltenden Einschüchterungsversuchen gegenüber unabhängigen Stimmen aus Presse und Opposition. In der Folge kam es häufiger zu Unruhen, in denen sich der ärmere Süden gegen den reicheren Norden erhob.
In Kirgisistan sprechen vorsichtige Schätzungen von einem Anstieg der Armut nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 auf über 75 % im Jahr 1993 bei einem Rückgang des BIP von 21 %. Auch 1997 lebten noch 50 % der kirgisischen Bevölkerung in Armut.[7]
Nach den Parlamentswahlen am 27. Februar 2005, die nach Angaben von OSZE-Beobachtern nicht demokratischen Standards entsprachen, kam es zu Unruhen, die zur so genannten Tulpenrevolution führten. Präsident Akajew und seine Regierung traten unter dem Druck der Demonstrationen am 24. März 2005 zurück. Akajew floh nach Russland, wo ihm Asyl gewährt wurde. Oppositionsführer Kurmanbek Bakijew wurde zum Übergangspräsidenten bestimmt und bei den Präsidentschaftswahlen am 10. Juli im Amt bestätigt. Sein Partner Felix Kulow wurde Regierungschef.
Die Jahre seit der „Tulpenrevolution“ 2005
Nach einem Zerwürfnis der beiden ging Kulow in die Opposition. Bakijew initiierte ein Verfassungsreferendum, das die Position des Staatspräsidenten stärken sollte, sowie eine Wahlrechtsänderung beinhaltete, die u. a. kleine Parteien benachteiligt. Die Änderungsvorschläge des Präsidenten wurden in der Abstimmung am 21. Oktober 2007 mit großer Mehrheit angenommen. Bakijew löste daraufhin das Parlament auf und setzte Neuwahlen an. Bei den Wahlen am 16. Dezember 2007 siegte seine Partei Ak Dschol mit knapp 50 % der Stimmen. Beobachter beurteilten Referendum und Parlamentswahl als nicht fair.[8] Auch die Präsidentschaftswahlen am 23. Juli 2009, bei denen Bakijew mit 76,1 % der Stimmen im Amt bestätigt wurde, wurden von der Opposition und internationalen Beobachtern als unfair bezeichnet.[9]
Regierungswechsel 2010
Bei Demonstrationen gegen die Regierung wurden im April 2010 Dutzende Menschen getötet, darunter soll auch der Innenminister Moldomussa Kongantijew gewesen sein, was später jedoch dementiert wurde.[10] Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Kirgisistans, Almasbek Atambajew, und weitere Oppositionelle wurden festgenommen. Gleichzeitig verhängte Präsident Bakijew in Bischkek sowie im Norden des Landes den Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre.[11][12] Die Opposition verkündete am 7. April 2010 den Sturz der Regierung und die Einrichtung einer Übergangsregierung unter der Ex-Außenministerin Rosa Otunbajewa. Präsident Bakijew weigerte sich zunächst zurückzutreten und flüchtete in die Stadt Dschalalabat im Süden des Landes.[13] Eine Woche nach dem Aufstand in Kirgisistan erklärte Bakijew jedoch seinen Rücktritt und setzte sich ins benachbarte Kasachstan ab.[14]
Am 27. Juni 2010 stimmte die Bevölkerung Kirgisistans einer umfassenden Verfassungsänderung zu, die die Einrichtung einer parlamentarischen Republik vorsieht.[15] Überschattet wurde das Referendum im Vorfeld durch schwere Ausschreitungen im Süden des Landes. Bei Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und Angehörigen der usbekischen Minderheit kamen in den Städten Osch und Dschalalabat bis zu 2000 Menschen ums Leben.[16]
Am 10. Oktober 2010 fand die erste Parlamentswahl nach der Annahme der neuen Verfassung statt.[17] Die Parteien Ata-Schurt, die Sozialdemokratische Partei Kirgisistans (SDPK), Ar-Namys, Respublika und Ata Meken gelangten ins Parlament. Obwohl die Partei Ata-Schurt, die vor allem von Anhängern des gestürzten Präsidenten Bakijew unterstützt wurde, die größte Fraktion im kirgisischen Parlament bildete, erteilte Übergangspräsidentin Otunbajewa der SDPK den Auftrag zur Regierungsbildung. Am 29. November 2010 unterzeichneten die Sozialdemokraten mit den Parteien Ata-Meken und Respublika einen Koalitionsvertrag, der die Bildung einer mitte-links Regierung in Kirgisistan bedeutete.[18] Bei der folgenden Präsidentschaftswahl in Kirgisistan 2011 und der Parlamentswahl in Kirgisistan 2015 konnte die SDPK weitere Wahlsiegen einfahren. Neuer Präsident wurde der Sozialdemokrat Almasbek Atambajew, der die Präsidentschaftswahl 2011 mit über 63 % der abgegebenen Stimmen deutlich für sich entscheiden konnte.[19] In der Legislaturperiode nach der Parlamentswahl 2015 führte die SDPK die Regierungskoalition als stärkste Fraktion im Parlament an, regierte allerdings mit wechselnden Koalitionspartnern.[20]
Nach der Wahl 2017
Bei der Präsidentschaftswahl in Kirgisistan 2017 wurde Sooronbai Dscheenbekow, früherer Premierminister und Wunschkandidat des scheidenden Atambajews, mit 54,2 Prozent Stimmen zum neuen Staatsoberhaupt Kirgisistans gewählt. Das Wahlergebnis wurde jedoch laut unabhängigen Forschungsinstitutionen wie „Pragma“ oder kirgisischen Menschenrechtlern von Unregelmäßigkeiten überschattet. Das Nachrichtenportal „Fergana“ berichtete sogar über Mafiakontakte der Atambajew-Administration, die Sooronbai Dscheenbekow zum Sieg verhalfen. Der Hauptkontrahent des gewählten Präsidenten, Ömürbek Babanow, sprach seinerseits von massiven Betrugspraktiken der Staatsmacht.[21]
Zwischen dem Präsidenten Dscheenbekow und seinem Vorgänger Atambajew entwickelte sich nach der Präsidentschaftswahl ein Machtkampf, der ein maßgebliches Thema der kirgisischen Innenpolitik darstellte. Im März 2018 wurde Atambajew zum Vorsitzenden der regierenden Sozialdemokratischen Partei gewählt, der auch Dscheenbekow angehört. Atambajew nutzte seine neue politische Funktion immer wieder für Kritik am Präsidenten und seiner Regierungsarbeit. Dieser reagierte mit der Verhaftung zahlreicher Vertrauter Atambajews auf Grund von Korruptionsvorwürfen.[22] Am 27. Juni 2019 hob das Parlament die Immunität Atambajews auf. Begründet wurde dieser Schritt mit einem Fall aus dem Jahr 2015 als während Atambajews Amtszeit ein bekannter Krimineller unter ungeklärten Umständen freigelassen wurde. Am 7. August 2019 kam es zu einem Einsatz von Spezialkräften, die den ehemaligen Präsidenten in seinem Wohnhaus in Koi-Tasch verhaften sollten. Die Operation wurde aber von Unterstützern Atambajews verhindert, ein Mann wurde bei den Ausschreitungen getötet, 80 Personen wurden verletzt. Am 8. August 2019 wurde Atambajew schließlich doch verhaftet, Präsident Dscheenbekow warf seinem Vorgänger die Verletzung der Verfassung und den bewaffneten Widerstand gegen Ermittlungsarbeiten vor.[23][24]
Die Ereignisse schürten in Kirgisistan Ängste vor wachsender politischer Instabilität. Nach dem friedlichen Regierungswechsel von Atambajew zu Dscheenbekow gab es vermehrt Hoffnungen auf eine dauerhafte Stabilisierung des Landes. Die rivalisierenden Lager Dscheenbekows und Atambajews, sowie die immer noch bestehenden Clan-Strukturen in der Politik bergen aber die Gefahr neuerlicher gewaltsamer Auseinandersetzungen.[25]
Neben diesen innenpolitischen Konflikten stellte die Verschärfung des Kirgisisch-Tadschikischen Grenzkonflikts ab dem Jahr 2018 mit zahlreichen Toten und Verletzten eine außenpolitische Herausforderung für Kirgisistan dar. Die Häufung gewaltsamer Zusammenstöße im Grenzgebiet war auf Streitigkeiten um Wasser und Land sowie auf umstrittene Infrastrukturprojekte in der Region zurückzuführen. Gespräche zwischen beiden Staaten, an denen auch Präsidenten Dscheenbekow und Premierminister Muchammedkaly Abylgasijew teilnahmen, brachten trotz beidseitiger Hoffnungen auf eine Lösung der umstrittenen Grenzfragen keinen Durchbruch.[26]
Politische Krise 2020
Das Jahr 2020 war in Kirgisistan von großer politischer Unsicherheit geprägt. Am 18. März 2020 wurde der erste bestätigte Fall von COVID-19 in Kirgisistan gemeldet. Die Fallzahlen stiegen in den folgenden Wochen langsam an und erreichten im Juli mit über 1.500 Neuinfektionen pro Tag ihren vorläufigen Höhepunkt. Eine zweite Welle im Herbst brachte erneut steigende Infektionszahlen mit sich, die Höchststände aus dem Sommer wurden jedoch nicht erreicht. Auch in Kirgisistan ging die Pandemie mit sozialen und wirtschaftlichen Problemen einher, die die politische Stabilität im Land gefährdeten.[27] Im Juni 2020 wurde das Land zudem von einer Regierungskrise erfasst, nachdem Premierminister Muchammedkaly Abylgasijew infolge eines Skandals um die staatliche Vergabe von Funkfrequenzen zurücktreten musste. Daraufhin bildete sich eine Übergangsregierung unter der Führung von Kubatbek Boronow, die bis zur Abhaltung der Parlamentswahl in Kirgisistan 2020 im Amt blieb.[28]
Die Parlamentswahl 2020 war von besonderer Bedeutung für Kirgisistan, da infolge der Spaltung der Regierungspartei SDPK mit veränderten politischen Machtverhältnissen gerechnet wurde. Als Favoriten für den Wahlsieg galten im Vorfeld der Wahl die Parteien Birimdik und Mekenim Kirgisistan. Während Birimdik insbesondere von Anhängern des damaligen Präsidenten Dscheenbekow unterstützt wurde, war die Partei Mekenim Kirgisistan eng mit Raimbek Matraimow, einem ehemaligen Zollbeamten, der inzwischen im Zentrum eines der größten Korruptions- und Geldwäscheskandale der kirgisischen Geschichte steht, verbunden. Der Wahlkampf war geprägt von gegenseitigen Beschuldigungen der Wahlmanipulation, des Stimmenkaufs und des Missbrauchs staatlicher Ressourcen, wobei insbesondere die von Matraimow finanziell unterstützte Partei Mekenim Kirgisistan im Zentrum dieser Vorwürfe stand. Insgesamt bildete sich eine weitverbreitete Skepsis hinsichtlich des geregelten Ablaufs der Parlamentswahl am 4. Oktober 2020.[29]
Diese Skepsis wurde durch zahlreiche Berichte über Unregelmäßigkeiten am Wahltag erhärtet. Am Abend des 4. Oktober gab die Zentrale Wahlkommission ein vorläufiges Wahlergebnis bekannt, demzufolge Birimdik die Wahl mit 24,52 % der abgegebenen Stimmen knapp vor Mekenim Kirgisistan gewonnen hatte. In der Nacht des Wahltags begannen die Proteste in der Hauptstadt Bischkek, die sich gegen die Manipulation der Parlamentswahl richteten. Am 5. Oktober weiteten sich die Proteste aus und es kam vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Protestanten sowie zwischen verschiedenen politischen Gruppen. In der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober kulminierten die Proteste in der Erstürmung des Weißen Hauses, dem Amtssitz des Präsidenten in Bischkek. Darüber hinaus wurden zahlreiche prominente Politiker aus der Haft befreit, darunter Ex-Präsident Atambajew und Sadyr Dschaparow. Letzterer schwang sich nach der Annullierung des Wahlergebnisses und dem Rücktritt der Übergangsregierung unter Boronow am 9. Oktober zum politischen Anführer der Proteste auf, die sich inzwischen primär gegen Präsident Dscheenbekow richteten. Am 10. Oktober wurde Dschaparow von den Abgeordneten des kirgisischen Parlaments zum neuen Premierminister gewählt und übte daraufhin verstärkt Druck auf Präsident Dscheenbekow aus, der infolgedessen am 15. Oktober seinen Rücktritt erklärte. Dschaparow wurde daraufhin kommissarischer Präsident und vereinte damit die beiden wichtigsten Staatsämter in Kirgisistan auf sich.[30]
In den folgenden Monaten konsolidierte Dschaparow seine politische Macht. Er besetzte zahlreiche Ämter mit seinen Vertrauten und kündigte weitreichende politische Reformen an, die insbesondere die Rolle des Präsidenten stärken sollen und die Entwicklung von einem Präsidialsystem hin zu einem parlamentarischen Regierungssystem, die Kirgisistan in den 2010er-Jahren vollzogen hatte, umkehren würden. Am 14. November trat Dschaparow von seinen Ämtern als kommissarischer Präsident und Premierminister zurück, um seine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl in Kirgisistan 2021 vorbereiten zu können. Seine kommissarischen Nachfolger wurden Talant Mamytow im Amt des Präsidenten und Artjom Nowikow im Amt des Premierministers.[31]
Die Präsidentschaftswahl am 10. Januar 2021 ergab einen deutlichen Sieg Dschaparows, der mehr als 79 % der abgegebenen Stimmen erhielt.[32][33] Parallel zur Präsidentschaftswahl stimmten die Kirgisen im ersten Wahlgang des Verfassungsreferendums in Kirgisistan 2021 für die Rückkehr zu einem präsidentiellen Regierungssystem.[34] Im zweiten Wahlgang des Verfassungsreferendums am 11. April 2021 unterstützte die absolute Mehrheit der Wähler einen von Dschaparow unterstützen Verfassungsentwurf, der daraufhin am 5. Mai 2021 durch die Unterschrift Dschaparows in Kraft trat.[35][36]
Einzelnachweise
- Mart Martin: The Almanac of Women and Minorities in World Politics. Westview Press Boulder, Colorado, 2000, S. 220.
- Rafis Abazov: Historical Dictionary of Kyrgyzstan. Scarecrow Press Forlag, Lanham, Maryland & Oxford 2004, ISBN 0-8108-4868-6.
- Ata-Beyit Memorial Complex in Chong-Tash. In: Museum Studies Abroad. 2. November 2014, abgerufen am 16. November 2019 (amerikanisches Englisch).
- Нужен ли обязательный государственный язык? (Ленин) In: Proletarskaja-Prawda, Nr. 14 (32), 18. Januar 1914. (russisch)
- ЗАКОН СССР ОТ 24.04.1990 О ЯЗЫКАХ НАРОДОВ СССР (Memento vom 8. Mai 2016 im Internet Archive) Artikel 4 im Gesetz der UdSSR vom 24. April 1990 über die Sprachen der UdSSR (russisch). Abgerufen am: 11. Februar 2012
- Mart Martin: The Almanac of Women and Minorities in World Politics. Westview Press Boulder, Colorado, 2000, S. 220/221.
- Sozialpolitik in Entwicklungsländern Markus Porsche-Ludwig. LIT Verlag Münster, 2013
- Wahlen in Kirgistan verfehlen OSZE-Standards (Memento vom 30. November 2011 im Internet Archive). Deutsche Welle online, 17. Dezember 2007
- Neue Zürcher Zeitung: OSZE kritisiert Präsidentenwahl in Kirgistan, 24. Juli 2009.
- Tote bei Protesten gegen Präsident Bakijew (Memento vom 11. April 2010 im Internet Archive)
- Viele Tote bei blutigen Unruhen in Kirgistan Welt Online, 7. April 2010
- Opposition protestiert hartnäckig Focus Online, 7. April 2010
- Bakijew klebt an der Macht, Focus Online, 9. April 2010.
- Kirgistans Präsident Bakijew tritt offiziell zurück, Welt Online, 16. April 2010.
- Spiegel Online: Kirgisen stimmen neuer Verfassung zu, 27. Juni 2010.
- Spiegel Online: Übergangsregierung rechnet mit 2000 Todesopfern, 18. Juni 2010.
- Schwierige Koalitionsverhandlungen. In: ORF. 11. Oktober 2010, abgerufen am 11. Oktober 2010.
- Neue Regierungskoalition in Kirgisistan. In: dw.com. Deutsche Welle, 1. Dezember 2010, abgerufen am 15. Mai 2021.
- AFP: Wahl: Kirgisen wählen Atambajew zum Präsidenten. In: Zeit Online. 31. Oktober 2011, abgerufen am 5. Oktober 2013.
- Daniel Wechlin: Abermalige Regierungskrise in Kirgistan. In: nzz.ch. Neue Zürcher Zeitung, 26. Oktober 2016, abgerufen am 15. Mai 2021.
- Stefan Scholl: In Kirgisistan regiert die Mafia mit. In: Frankfurter Rundschau. 17. Oktober 2017, abgerufen am 15. Mai 2021.
- Kirgistan: Ex-Präsident Atambajew kehrt in die Politik zurück. In: Novastan Deutsch. 1. April 2018, abgerufen am 28. August 2019 (deutsch).
- Kirgistan: Konflikt zwischen Präsidenten und Amtsvorgänger eskaliert. In: Novastan Deutsch. 8. August 2019, abgerufen am 28. August 2019 (deutsch).
- After Night Of Bloodshed, Kyrgyz Police Regroup And Arrest Atambaev. In: rferl.org. Radio Free Europe, abgerufen am 28. August 2019 (englisch).
- Versuchte Festnahme von Ex-Präsident wird zur Schlacht. In: welt.de. 8. August 2019, abgerufen am 15. Mai 2021.
- Everlasting or Ever-Changing? Violence Along the Kyrgyzstan-Tajikistan Border. In: ACLED. 8. Juni 2020, abgerufen am 14. August 2020 (amerikanisches Englisch).
- Asiatische Entwicklungsbank, Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (Hrsg.): COVID-19 in the Kyrgyz Republic: Socioeconomic and Vulnerability Impact Assessment and Policy Response. August 2020.
- Anna Chtork: Kirgistans Premierminister zurückgetreten. In: Novastan Deutsch. 16. Juni 2020, abgerufen am 15. Mai 2021 (deutsch).
- Bruce Pannier: Kyrgyzstan: A Guide To The Parties Competing In The Parliamentary Elections. In: rferl.org. 3. Oktober 2020, abgerufen am 27. November 2020 (englisch).
- Richard Schmidt: Chronik:Die Ereignisse in Kirgistan. In: zois-berlin.de. Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, 15. Oktober 2020, abgerufen am 9. Mai 2021 (deutsch).
- Nazir Aliyev Tayfur: Kyrgyz premier resigns, becomes presidential candidate. In: aa.com. 15. November 2020, abgerufen am 15. Mai 2021 (englisch).
- Schaparow gewinnt Präsidentenwahl in Kirgistan. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 10. Januar 2021, abgerufen am 10. Januar 2021.
- Информационная избирательная система. In: Zentrale Wahlkommission. 11. Januar 2021, abgerufen am 11. Januar 2021.
- Japarov Appears To Win Kyrgyz Presidential Election, Set To Get Sweeping Powers. In: rferl.org. 10. Januar 2021, abgerufen am 11. Januar 2021 (englisch).
- Подведены предварительные итоги голосования на референдуме Кыргызской Республики - ЦИК КР. In: shailoo.gov.kg. Zentrale Wahlkommission Kirgisistans, 12. April 2021, abgerufen am 15. Mai 2021.
- Kyrgyzstan: President signs new constitution into law. In: eurasianet.org. 5. Mai 2021, abgerufen am 15. Mai 2021.