Emil Kirdorf
Emil Kirdorf (* 8. April 1847 in Mettmann bei Düsseldorf; † 13. Juli 1938 in Mülheim an der Ruhr) war ein deutscher Industrieller. Kirdorf war einer der ersten bedeutenden angestellten Ruhrindustriellen, die ausschließlich Manager und nicht, wie beispielsweise August Thyssen oder Hugo Stinnes, selbst Eigentümer ihrer Konzerne waren.
Leben
Ursprung, Ausbildung und Berufsstart
Kirdorf wurde als Sohn des Webereibesitzers Martin Kirdorf (1811–1847) und der Amalie Dickes (* 1811)[1] in wohlhabenden Verhältnissen geboren. Er absolvierte eine kaufmännische Lehre im Familienunternehmen, besuchte die Textilschule in Mülheim am Rhein und volontierte ab 1864 ein Jahr in Hamburg in einem Exportunternehmen. Ein Jahr später beteiligte er sich an einem Krefelder Textilunternehmen. Die Weigerung der Geschäftsführung, einen mechanischen Webstuhl einzuführen, führte zum Bankrott der elterlichen Weberei, was die Übernahme dieses Betriebes als berufliche Perspektive für Kirdorf ausschloss.
Vermittelt durch seinen älteren Bruder Adolph Kirdorf wechselte er in den Bergbau, wo er als Buchhalter bei der Grubenverwaltung der Zeche Holland in Wattenscheid begann. 1871 wurde Kirdorf ihr Direktor.
Unternehmensleitung
Der Unternehmer Friedrich Grillo wurde auf Kirdorf aufmerksam und bot ihm 1873 die Stellung als kaufmännischer Direktor bei der soeben gegründeten Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG) an. 1893 wurde Kirdorf Generaldirektor der GBAG, dem zu dieser Zeit nach Fördermenge größten deutschen Bergbauunternehmen. Kirdorf war entscheidend am Aufbau der GBAG beteiligt und lenkte das Unternehmen durch die Krise der 1870er Jahre. Diese Position hatte er bis 1926 inne, als die GBAG nach verschiedenen Fusionen schließlich in den neugebildeten Vereinigten Stahlwerken aufging. Unter seiner Leitung wurde die GBAG zum größten Kohlebergbauunternehmen Europas. Er erwarb sich den halb kritischen, halb ehrfürchtigen Titel eines „Bismarcks des Ruhrbergbaus“. Durch die Übernahme der Zechen Hansa, Zollern und Germania erweiterte Kirdorf die GBAG, gliederte ihr 1904 den von Grillo gegründeten Schalker Gruben- und Hüttenverein an und baute durch die Übernahme von Kohlehandels- und Reedereiunternehmen die GBAG zu einem gemischten Konzern aus. Den von seinem Bruder Adolph wesentlich aufgebauten „Aachener Hütten-Aktien-Verein Rothe Erde“ gliederte er nach einer Interessengemeinschaft seit 1904 im Jahre 1907 endgültig seinem Unternehmen an. Unmittelbar darauf begann die Vorplanung für die ab 1909 in Esch-sur-Alzette in Luxemburg, das zum Deutschen Zollverein gehörte, errichtete Adolf-Emil-Hütte, die 1912 fertiggestellt wurde und als eine der modernsten Anlagen ihrer Zeit galt.
Nach dem Ersten Weltkrieg verlor die GBAG ihre Bedeutung als gemischter Konzern und wandelte sich zu einem reinen Kohleunternehmen zurück. In der GBAG verlor Kirdorf seine tonangebende Stellung zugunsten von Hugo Stinnes, mit dem er heftige Meinungsverschiedenheiten über die Unternehmenspolitik hatte. Stinnes beabsichtigte, die GBAG zum Fundament eines deutschen Kohle-Trusts zu machen, wogegen Kirdorf Widerstand leistete. Da er auch nach dem Tode von Stinnes 1924 sich nicht durchsetzen konnte, gab Kirdorf seine Stellung bei der GBAG 1926 auf und schied aus dem Vorstand aus.
Initiativen und Mitgliedschaften
Aufgrund einer akuten Absatzkrise war Kirdorf 1893 einer der Initiatoren des Rheinisch-Westfälischen Kohlesyndikats, dessen Aufsichtsratsvorsitz er bis 1913 innehatte. In diesem Syndikat verpflichteten sich 98 Bergwerksunternehmen des Ruhrgebiets, ihre Produkte fortan ausschließlich über das Syndikat zu vermarkten, was das Dumping verhindern sollte.
Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern des 1891 entstandenen Alldeutschen Verbandes und des Vereins Freie Ukraine sowie des Kolonialvereins und des Flottenvereins. Von 1887 bis 1905 gehörte er für den Wahlbezirk Gelsenkirchen dem Provinziallandtag der Provinz Westfalen. Er vertrat konservative Positionen.
Kirdorf war Mitbegründer der Wirtschaftsvereinigung zur Förderung der geistigen Wiederaufbaukräfte, die das Kapital für das Presseimperium von Alfred Hugenberg bereitstellte.
Auch der Bau des Bismarckturms auf dem Mechtenberg beruhte auf seiner Initiative, denn er war zudem Vorsitzender vom 1896 gegründeten Bismarck-Verein des Kreises Gelsenkirchen.
Am 15. Juni 1915 forderte er in seiner Kriegszieldenkschrift, Frankreich so zu schwächen, dass es niemals wieder Großmacht werden kann sowie Russland möglichst weit zurückzudrängen, um Siedlungsland für die Vermehrung der bäuerlichen Bevölkerung zu erwerben.[2] 1917 trat Kirdorf der Deutschen Vaterlandspartei bei.[3]
Im September 1918 verlangte er die Abdankung des Kaisers Wilhelm II.
Er war von 1924 bis 1928 Präsident im Industrie-Club Düsseldorf.
1926 war er an der Gründung der Vereinigte Stahlwerke AG beteiligt, in die auch die von Kirdorf 1920 mitgegründete Siemens-Rhein-Elbe-Schuckert-Union integriert wurde.
Nikolaus Eich, Leiter der Mannesmannröhren-Werke schrieb 1914 über Kirdorf:
„Kirdorf ist der größte Störenfried in den Eisenverbänden und der intensivste Förderer des Kohlensyndikats zugleich. Er möchte ebenso großer Eisenmann werden, wie er Kohlemann ist; in Kohle braucht er Ruhe, um im Eisen immer neue Unruhe zu stiften.“[4]
Kirdorf war bis zum 8. September 1989 Ehrenbürger der Stadt Gelsenkirchen und bis 1995 Ehrenbürger der Stadt Mülheim an der Ruhr.
Beziehung zum Nationalsozialismus
Kirdorf war zeitlebens als Reaktionär für seine autoritären Ansichten bekannt. Er lehnte die Weimarer Republik ab, die er „Pöbelherrschaft“ nannte, und trat gegen die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften an. Nach seiner Überzeugung hätte der Staat und Unternehmer die soziale Ordnung festzulegen. Den demokratischen Staat bekämpfte er.
Am 27. April 1927 hielt Hitler einen Vortrag mit dem Titel „Führer und Masse“ vor Wirtschaftsführern in Essen. Auch Kirdorf war anwesend.[5]
So wurde Kirdorf aktiver Förderer des Aufstiegs Adolf Hitlers. Am 4. Juli 1927 traf er sich erstmals mit Hitler. Bald darauf wurde er unter der Mitgliedsnummer 71.032 in die NSDAP aufgenommen.[6] Weil ihm der Antikapitalismus der Nationalsozialisten um Gregor Strasser zu stark erschien, trat Kirdorf schon 1928 aus der Partei aus und wandte sich wieder der DNVP zu. Den Kontakt zu Hitler pflegte er jedoch, sodass er beim Reichsparteitag in Nürnberg vom 1. bis 4. August 1929 Ehrengast war.
Auf Kirdorfs Veranlassung hin verfasste Hitler eine Broschüre mit dem Titel Der Weg zum Wiederaufstieg, die von Kirdorf an andere Unternehmer verteilt wurde. Daraufhin hörten sich am 26. Oktober 1927 14 „Wirtschaftsführer“ einen Vortrag Hitlers im Hause Kirdorfs an. Er förderte Hitlers Verbindungen zur Industrie, organisierte beispielsweise im August 1931 einen Meinungsaustausch Hitlers mit 30 bis 40 Vertretern der Kohle- und Stahlindustrie. Kirdorf selbst bemühte sich zwar, Hitler in der Ruhrindustrie die Tür zu öffnen und der NSDAP so neue Geldquellen zu erschließen, wenn auch mit nur geringem Erfolg.[7] Er selbst hat Hitler finanziell aber höchstens mit geringen Beträgen direkt gefördert. Der Grund dafür war, dass er in Gelddingen immer knauserig war und ihm als Pensionär der direkte Zugang zu dem Geld der von ihm früher geführten Unternehmen oder den Fonds der zentralen Kassen der Ruhrindustrie fehlte.[8] In seinem Tagebuch machte Joseph Goebbels unter dem 15. November 1936 die Eintragung:
„Wie arm sind wir damals gewesen. Führer erzählt, wie er sich einmal erschießen wollte, weil ihm die Wechselschulden über den Kopf wuchsen. Da hat ihm Kirdorf mit 100.000 Mark geholfen.“[9]
1934 trat Kirdorf der NSDAP wieder bei. 1937 schrieb er über Hitler:
„Vor allem befreite er uns von dem mörderischen Klassenkampf. Der ganz große Gewinn im Innern ist in der Wiedererstehung und Wiedererstarkung der Volksgemeinschaft zu erblicken.“[10]
Hitler umschmeichelte Kirdorf als „nationale Legende“. Dessen Geburtstage ließ er mit Fackelzügen feiern. Kirdorf war Träger des Goldenen Parteiabzeichens. Am 10. April 1937 notierte Joseph Goebbels in sein Tagebuch:
„Der Führer ist sehr lieb zu Kirdorf. Er verdankt ihm aus der Kampfzeit die Rettung seiner Partei und seiner Person.“[11]
Zu seinem 90. Geburtstag verlieh Hitler den Adlerschild an Kirdorf, die höchste zivile Auszeichnung des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Die Berliner Illustrierte Zeitung berichtete am 15. April 1937 in einer Fotoreportage unter dem Titel „Klein Dietmar spricht mit dem Führer“ über die Feierlichkeiten im Haus Streithof bei Mülheim an der Ruhr. Nach Kirdorfs Tod am 13. Juli 1938 ließ Hitler ihn mit einem Staatsbegräbnis beisetzen. Die Trauerfeierlichkeiten fanden in Gelsenkirchen-Ückendorf auf dem Gelände der Zeche Rheinelbe im Beisein Hitlers statt.[12] Die Trauerreden hielten Water Funk und Albert Vögler.[13]
Der Bochumer Verein, Teil der Vereinigte Stahlwerke AG, baute ab 1934 für das Werk Höntrop eine neue Arbeitersiedlung.[14] Die Straßen wurden nach Physikern benannt bis auf die Hauptstraße die ins Viertel führte, die Kirdorfstraße.[15] Die Straße wurde schon kurz nach Kriegsende am 24. November 1945 umbenannt. In Bezug auf die umliegenden Straßen hieß der neue Name Röntgenstraße.[16]
Im Jahr 1939 wurden der frühere Hohenzollernplatz in Berlin-Köpenick in Kirdorfplatz und die Kaiser-Wilhelm-Straße in Kirdorfstraße umbenannt. Das Berliner Adressbuch formulierte zum Namensgeber: „Geheimrat, Dr. Ing. e. h, langjähriger Führer des westdeutschen Bergbaues“.[17][18] Nach Kriegsende wurden sie nach Opfern des Nationalsozialismus umbenannt; der Platz erhielt den Namen Mandrellaplatz, die Straße wurde umbenannt in Seelenbinderstraße.
In Dortmund-Eving existiert bis heute die Kolonie Kirdorf. Um auf die Vergangenheit des Industriellen hinzuweisen, beantragte die VVN-BdA im Juli 2011 in der Bezirksvertretung Eving eine Mahntafel. Obwohl es dazu einen Beschluss der Bezirksvertretung Eving gibt, wurde die Tafel bis heute (2020) nicht aufgestellt.[19]
Literatur
- Helmut Böhme: Kirdorf, Emil. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 11, Duncker & Humblot, Berlin 1977, ISBN 3-428-00192-3, S. 665–668 (Digitalisat).
- Walther Bacmeister: Emil Kirdorf. Der Mann. Sein Werk. (Mit einem Geleitwort von Hjalmar Schacht) 2. Auflage. Essen 1936. DNB 572100604
- Henry Ashby Turner: Faschismus und Kapitalismus in Deutschland. Studien zum Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaft. Göttingen 1972, ISBN 3-525-01310-8.
- Kurt Unbehau: Die Ehrenbürger der Stadt Mülheim an der Ruhr. Mülheim an der Ruhr 1974, S. 64–69.
Weitere Quellen
- Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr, Bestand 1550 (Mülheimer Persönlichkeiten)
- Alfred Bruns (Hrsg.), Josef Häming (Zusammenstellung): Die Abgeordneten des Westfalenparlaments 1826–1978 (= Westfälische Quellen- und Archivverzeichnisse, Band 2). Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Münster 1978, S. 376.
Weblinks
- Alexander Mühle, Arnulf Scriba: Emil Kirdorf. Tabellarischer Lebenslauf im LeMO (DHM und HdG)
- Literatur von und über Emil Kirdorf im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Emil Kirdorf (1847–1938). route-industriekultur.de
- Zeitungsartikel über Emil Kirdorf in der Pressemappe 20. Jahrhundert der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
Einzelnachweise
- Helmut Böhme: Kirdorf, Emil. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 11, Duncker & Humblot, Berlin 1977, ISBN 3-428-00192-3, S. 666–668 (Digitalisat).
- Reinhard Opitz (Hrsg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900–1945. Köln 1977, S. 333 ff.
- Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. C.H. Beck, 2003, ISBN 3-406-32264-6 (google.de [abgerufen am 30. Juni 2017]).
- Hartmut Pogge von Strandmann: Widersprüche im Modernisierungsprozess Deutschlands. Der Kampf der verarbeitenden Industrie gegen die Schwerindustrie. In: Dirk Stegmann, Bernd-Jürgen Wendt, Peter-Christian Witt: Industrielle Gesellschaft und politisches System. Bonn 1978, S. 234 f.
- Wolf Heß (Hrsg.): Rudolf Heß, Briefe 1908–1933. München 1987, S. 380.
- Henry Ashby Turner: Emil Kirdorf and the Nazi Party. In: Central European History. Band 1, Nr. 4. Cambridge University Press, Cambridge Dezember 1968, S. 324–344, JSTOR:4545506 (englisch).
- Hans Mommsen: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar 1918–1933. Berlin 1998, S. 412.
- Thomas Trumpp: Zur Finanzierung der NSDAP durch die deutsche Großindustrie. Versuch einer Bilanz. In: Karl Dietrich Bracher u. a. (Hrsg.): Nationalsozialistische Diktatur. Eine Bilanz. Bonn 1986, ISBN 3-921352-95-9, S. 138 f.
- Elke Fröhlich (Hrsg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente. München 1987, Band 2, S. 727.
- Dieter Halfmann: Der Anteil der Industrie und Banken an der faschistischen Innenpolitik. Köln 1974, S. 18.
- Fröhlich, Band 3, S. 105.
- http://www.gelsenzentrum.de/totenfeier_kirdorf_gelsenkirchen.htm
- Stiftung Deutsches Historisches Museum: Gerade auf LeMO gesehen: LeMO Biografie. Abgerufen am 19. April 2020.
- Bochumer Anzeiger, Pfingstausgabe 1942 (online)
- Stadtplan Bochum, Gauhauptstadt von Westfalen Süd, 1939
- Straßennamenbuch der Stadt Bochum, 2014
- Kirdorfplatz. In: Berliner Adreßbuch, 1943, Teil 4, Köpenick, S. 2154.
- Kirdorfplatz. In: Straßennamenlexikon des Luisenstädtischen Bildungsvereins
- Die braune Vergangenheit des Emil Kirdorf: Verwirrung um verschwundene Tafel, VVN-BdA NRW