Vincenz Müller
Vincenz Müller (* 5. November 1894 in Aichach, Oberbayern; † 12. Mai 1961 in Ost-Berlin) war ein deutscher Offizier, Generalleutnant der Wehrmacht und der Nationalen Volksarmee der DDR.
Leben
Müller wurde als Sohn des Gerbermeisters Ferdinand Müller und seiner Frau Viktoria, geb. Deuringer († 1922), in Aichach (Bayern) geboren. Er begann nach dem Abitur am St.-Michaels-Gymnasium der Benediktiner-Abtei Metten eine Karriere als Berufsoffizier der Pioniertruppe. Er trat zunächst in die bayerische Armee ein. Er wechselte zur württembergischen Armee. Den Ersten Weltkrieg verbrachte der 1914 zum Leutnant ernannte Müller nach schwerer Verwundung in den Vogesen.[1] Ab Juni 1915 zog er mit 250 unterstellten Soldaten der deutschen Militärmission in der Türkei nach Konstantinopel.[2] Nach dem November 1915 zog er von Berlin[3] nach Bagdad. Ende 1916 erkrankte er an Thyphus und Malaria und kehrte zum Lazarettaufenthalt nach Ulm zurück. Nach seiner Genesung meldete er sich im Juni 1917 freiwillig als Lehrer an der Pionieroffiziersschule in Caspali im Osmanischen Reich, wo er Taktiklehrer wurde.[4] Von Anfang 1918 bis zum Kriegsende kämpfte er an der Westfront.[5]
Nach dem Ende des Krieges diente er als Zugführer im Pionier-Bataillon in Ulm und beim Wehrkreiskommando V, Stuttgart. Im Jahre 1923 wechselte er in das Reichswehrministerium nach Berlin, wo er bis 1933 zum Kreis der Mitarbeiter von Kurt von Schleicher gehörte. Dieser Dienststellung schloss sich von 1926 bis 1927 eine Generalstabsausbildung an. Im gleichen Jahr wurde er zum Major befördert. Müller kehrte ins Reichswehrministerium zurück und diente bis 1931 in der politischen Abteilung. Nach einem kurzen Intermezzo als Kompaniechef beim Pionierbataillon 7 in München war er als Berater beim Befehlshaber des Wehrkreises III in Berlin tätig.
Dabei spielte er seine erste Rolle in der deutschen Geschichte: Beim „Preußenschlag“ am 20. Juli 1932 führte er auf Weisung des Ministers Schleicher und des Befehlshabers Rundstedt die Absetzung der preußischen Regierung aus und nahm die Polizeiführung in Arrest.[6]
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg
Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 diente Müller von 1933 bis 1935 als Leiter des Aufbaus der Mobilmachungsorgane im Generalstab des Wehrkreiskommando VII, München, wo sein oberster Vorgesetzter General Wilhelm Adam war, den er bereits aus dem Reichswehrministerium persönlich kannte. Anschließend war er bis 1937 Leiter der Gruppe Mobilmachung im Generalstab des Heeres. Nach dem Besuch der Wehrmachtakademie diente Müller von 1938 bis 1940 als Erster Generalstabsoffizier (Ia) der Heeresgruppe 2, Kassel. In dieser Zeit wurde er zum Oberst befördert.
Müller gehörte bereits 1939 zu den Mitwissern einer Verschwörung um Erwin von Witzleben und Kurt von Hammerstein-Equord, die das Ziel hatte, Hitler und Göring zur Vereitelung weiterer Kriegspläne zu stürzen. So beteiligte er sich als Kurier zum OKH, wo er Generaloberst Franz Halder über die Lage informierte und zur Mithilfe aufforderte. Zuvor warnte er Oberst Hans Oster vor übereilten Aktionen. Die Verschwörungspläne blieben erfolglos.[7]
Von 1940 bis 1943 war Müller Chef des Stabes der 17. Armee am Südabschnitt der Ostfront. Nach seiner Ernennung zum Generalmajor und einem Lazarettaufenthalt diente der zum Generalleutnant beförderte Müller 1943 kurzzeitig als Kommandeur der 56. Infanterie-Division, dann bis Juni 1944 als Kommandeur der aus den Resten seiner eigenen und der 262. Infanterie-Division entstandenen „Korpsabteilung D“. Am 4. Juni 1944 wurde er mit der Führung des XII. Armeekorps beauftragt. Während der Zerschlagung der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 versuchte Müller als Befehlshaber einer Kampfgruppe aus Teilen der 4. Armee vergeblich, einer Einkesselung durch die Rote Armee zu entgehen.
Nach eigenen Angaben ritt Müller am 8. Juli 1944 in aussichtsloser Lage zur sowjetischen Seite, wo er sich gefangen nehmen ließ und umgehend veranlasste, dass ein von ihm verfasster Befehl, die Waffen niederzulegen, per Flugblatt über seinen Truppen abgeworfen wurde. Dies rettete zahlreichen Soldaten das Leben.[8] Unter dem Eindruck eines Gesprächs mit dem sowjetischen Generalleutnant Lew Mechlis, das er am Tag nach seiner Gefangennahme geführt hatte, beschloss Müller, sich aktiv gegen Hitler zu stellen. Die Geschwindigkeit Müllers beim Wechsel der Seiten rief unter deutschen Gefangenen und Emigranten Verblüffung hervor.[9] Zu dem Schaumarsch an der Spitze von 50.000 deutschen Gefangenen durch Moskau am 17. Juli 1944, dessen Bilder sofort um die Welt gingen, soll er sich freiwillig gemeldet haben.[10] Müller trat dem NKFD und dem BDO bei und absolvierte die Antifa-Schule in Krasnogorsk. Ein engeres Verhältnis entwickelte Müller zu dem NKWD-Mitarbeiter Wolf Stern, der sich seinerseits später für Müllers Rückkehr nach Deutschland einsetzte.[11]
Nachkriegszeit und DDR
Nach seiner Entlassung aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft trat Müller in die NDPD ein. Von 1949 bis 1952 war er Erster stellvertretender Vorsitzender dieser Partei und Vizepräsident der Volkskammer.
Seit 1949 leitete er als Chefinspekteur der Volkspolizei, später als einer der Stellvertreter des Ministers des Innern den militärischen Aufbau der DDR. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überwachte ab Oktober 1952 Müller durch dessen persönlichen Sekretär Hauptmann Heinz Sperling, den es 1958 auch als Geheimen Informanten (GI) schriftlich verpflichtete.[12] Im Jahr 1953 wurde Müller zum Generalleutnant befördert und zum Chef des Stabes der Kasernierten Volkspolizei (KVP) ernannt. Mit deren Umwandlung in die Nationale Volksarmee (NVA) wechselte er 1956 als Chef des Hauptstabes der NVA in das Ministerium für Nationale Verteidigung und wurde zugleich Stellvertreter des damaligen Innen- und späteren Verteidigungsministers Willi Stoph. Müller war damit der Ranghöchste der (im Vergleich zur Bundeswehr) wenigen ehemaligen Offiziere der Wehrmacht in den DDR-Streitkräften.
Sämtliche westlichen Nachrichtendienste interessierten sich für ihn und ehemalige Kameraden besuchten ihn 1952 in Ostberlin auch im Auftrag der „Organisation Gehlen“.[13] Über Kontakte, die er zu alten Kameraden – vor allem nach Bayern – hatte, traf er 1955 und 1956 im Auftrag der DDR-Regierung den damaligen Bundesfinanzminister Fritz Schäffer (CSU) in Ostberlin und führte Gespräche über die Chancen einer deutsch-deutschen Verständigung mit dem Ziel einer Konföderation. Müller deutete einen bevorstehenden Sturz Ulbrichts und die Möglichkeit eines wiedervereinigten Deutschlands an, das aber so neutral wie Österreich sein solle.[14]
Auf Beschluss des Politbüros der SED vom 15. Februar 1957 wurden fast alle ehemaligen Offiziere der Wehrmacht bis Ende der 1950er-Jahre schrittweise aus der NVA entlassen und pensioniert,[15] im Februar 1958 auch Müller. Bereits im März 1958 wurde dies in der bundesdeutschen Presse gemeldet und zusätzlich dargelegt, Müller sei bereits im Dezember 1957 vom Dienst suspendiert worden. Weiter hieß es, DDR-Verteidigungsminister Stoph habe ihm vorgeworfen, sich gegen Beschlüsse des SED-Zentralkomitees bezüglich der führenden Rolle der SED in der Volksarmee gestellt zu haben. Im September 1958 wurde dann auch offiziell bekannt gegeben, dass Müller wegen einer schweren Herzkrankheit auf eigenen Wunsch in den Ruhestand versetzt worden sei.[16]
Am 12. Mai 1961 beging Müller durch einen Sprung aus der Loggia seines Hauses in Berlin-Schmöckwitz Suizid.[17] Kurz darauf flüchteten Müllers Sohn und Schwiegertochter in den Westen. Die DDR-Berichterstattung verschwieg den Selbstmord. Der Autor Heinz Sperling schrieb im Jahr 1997 in seinem Beitrag für die Neue Deutsche Biographie zu Vincenz Müller vom lediglich „wahrscheinlichen Freitod“.[18] Wider besseres Wissen verbreitete der ehemalige GI Heinz Sperling gegenüber Fernsehjournalisten 1998 die Version vom möglichen Unfalltod.[19]
Auszeichnungen
- Eisernes Kreuz (1914) II. und I. Klasse[20]
- Verwundetenabzeichen (1918) in Schwarz[20]
- Ritterkreuz II. Klasse des Friedrichs-Ordens mit Schwertern[20]
- Mecidiye-Orden V. Klasse mit Säbeln[20]
- Liakat-Medaille in Silber mit Schwertern[20]
- Eiserner Halbmond[20]
- Wiederholungsspange zum Eisernen Kreuz (1939) II. und I. Klasse
- Deutsches Kreuz in Gold am 26. Januar 1942[21]
- Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes am 7. April 1944.[22]
- Vaterländischer Verdienstorden der DDR in Gold.
Autobiographisches
- Ich fand das wahre Vaterland. Hrsg. von Klaus Mammach, Deutscher Militärverlag, Berlin 1963.
Literatur
- Bernd-Rainer Barth, Helmut Müller-Enbergs: Müller, Vincenz. In: Wer war wer in der DDR? 5. Ausgabe. Band 2. Ch. Links, Berlin 2010, ISBN 978-3-86153-561-4.
- Hans Ehlert und Armin Wagner; Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen. Ch. Links Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-86153-312-X.
- Klaus Froh, Rüdiger Wenzke: Die Generale und Admirale der NVA. Ein biographisches Handbuch. 4. Auflage. Ch. Links Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-86153-209-3.
- Hanns Jürgen Küsters: Wiedervereinigung durch Konföderation? Die informellen Unterredungen zwischen Bundesminister Fritz Schäffer, NVA-General Vincenz Müller und Sowjetbotschafter Georgij Maksimowitsch Puschkin 1955/56. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Jg. 40 (1992) Heft 1, S. 107–153. online hier.
- Peter Joachim Lapp: General bei Hitler und Ulbricht. Vincenz Müller – Eine deutsche Karriere. Ch. Links Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-86153-286-7 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche). Rezension von Bernd Stöver bei H-Soz-Kult
Weblinks
Einzelnachweise
- Auszug aus den deutschen Verlustlisten (württ. 43) vom 27. Oktober 1914, S. 1345 – Fähnrich, Pionier-Bataillon Nr. 13, 4. Kompagnie
- wie sich später herausstellte, war der Marschbefehl auf eine andere Person mit demselben Namen ausgestellt
- Peter Joachim Lapp: General bei Hitler und Ulbricht: Vincenz Müller – eine deutsche Karriere. S. 19–22 (online)
- Hans Ehlert, Armin Wagner (Hrsg.): Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen. S. 127 (online)
- Hans Ehlert, Armin Wagner (Hrsg.): Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen. S. 127 (online)
- Lapp: General bei Hitler und Ulbricht. S. 41–43.
- Hans Ehlert, Armin Wagner: Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen. Ch. Links Verlag, Berlin 2003.
- Lapp (Lit.), S. 139 f.
- Lapp (Lit.), S. 141–143
- Sowjetischer Propagandafilm Bewachter Marsch der kriegsgefangenen Deutschen durch Moskau. Vincenz Müller erscheint ab Minute 1,50 mit Nennung des Kommandos und der Information, dass er am 8. Juli die Einstellung der Kämpfe befohlen hatte.
- Lapp (Lit.), S. 248 f.
- Lapp (Lit.), S. 187 f. Sperling (* 1923) schied 1958 im Rang eines Oberstleutnants mit seinem Vorgesetzten Müller aus dem aktiven Dienst aus, war als Militärhistoriker in Potsdam tätig und veröffentlichte später im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik.
- General bei Hitler und Ulbricht. Vincenz Müller – eine deutsche Karriere. 3.sat.de, abgerufen am 7. Sep. 2010.
- Jan von Flocken, Michael F. Scholz: Ernst Wollweber. Aufbau-Verlag, Berlin 1994, S. 197.
- Hans Ehlert, Armin Wagner: Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen. Ch Links Verlag, Berlin 2003.
- http://www.3sat.de/page/?source=/ard/sendung/69885/index.html
- Zum Tod Müllers siehe Lapp (Lit.), S. 241 ff.
- Heinz Sperling: Müller, Vincenz. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 18, Duncker & Humblot, Berlin 1997, ISBN 3-428-00199-0, S. 479 f. (Digitalisat).
- Lapp (Lit.), S. 242.
- Rangliste des Deutschen Reichsheeres. Mittler & Sohn Verlag, Berlin 1930, S. 145.
- Lapp, Berlin 2003, S. 130.
- Lapp, Berlin 2003, S. 246.