Helena Radziwiłłowa
Fürstin Helena Radziwiłłowa geborene Przezdziecka[1] (* 6. Januar 1753 in Vilnius, Großfürstentum Litauen; † 1. April 1821 in Warschau, Kongresspolen) war eine litauische Adlige. Wie andere Mitglieder der Magnatenschicht kollaborierte sie beim Untergang der Rzeczpospolita mit Russland, weshalb der Schriftsteller Tadeusz Nowakowski den Landschaftsgarten Arkadia, den sie bei Nieborów anlegen ließ, ein „Arkadien auf den Trümmern des Vaterlandes“ nannte.[2]
Jugend und Ehe
Helena Przezdziecka wurde 1753 in Vilnius geboren. Ihre Eltern waren Graf Antoni Tadeusz Przezdziecki (1718–1772), Vizekanzler des Großfürstentums Litauen, und dessen Gattin Katarzyna geborene Ogińska (* 1731), Tochter des Woiwoden von Trakai (Litauen). Nach dem frühen Tod der Mutter wurde sie von ihrer Tante Józefa Aleksandra geborenen Czartoryska (1730–1798) aufgezogen, der Gattin des Großhetmans von Litauen Fürst Michał Kazimierz Ogiński (1730–1800). Fürstin Ogińska machte Siedlce (Polen) zu einem Zentrum des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Helena konnte dort ihre Intelligenz und ihre Leidenschaft für Kunst entwickeln. Sie galt als ausgezeichnete Tänzerin, spielte Klavier und Orgel und sang eine schöne Altstimme. Die Musikalität der Ogińskis sollte sie ihrem Sohn Antoni Henryk (siehe unten) vererben. Obwohl sie wegen des Widerstands ihres Gatten nie im Ausland war, schrieb sie ein elegantes Französisch und beherrschte (neben Litauisch und Polnisch) Englisch, Deutsch und Italienisch.
Den erwähnten Gatten konnte sie dank ihres Reichtums und ihrer Schönheit selber wählen. 1771 heiratete sie den ebenso reichen Fürsten Michał Hieronim Radziwiłł (1744–1831). Mit diesem „gehorsamen Werkzeug russischer Politik“[3] lebte sie zunächst in einem hölzernen Palast in Tscharnautschyzy bei Brest (Belarus), ab 1774 auf Schloss Nieborów (zwischen Warschau und Łódź) sowie in der Hauptstadt Polens, wo Radziwiłł später den heutigen Präsidentenpalast gegen den Królikarnia-Palast tauschte. Zwischenzeitlich (1790–1795) war er Woiwode von Vilnius, bevor dieses bei der letzten Teilung Polen-Litauens von Russland annektiert wurde. Während des Aufstands von Tadeusz Kościuszko (1794) floh er nach London. Helena wurde an der Flucht Richtung Petersburg gehindert, aber nicht verhaftet, weil man im Gepäck ihrer unehelichen Tochter Krystyna Magdalena (siehe unten) ein selbstgezeichnetes Porträt des Freiheitshelden fand.[4]
Libertinage und Wohltätigkeit
Als weitaus stärkere Persönlichkeit als Michał Hieronim[5] hatte Helena Erfolg in der High Society, bis hinauf zu König Stanisław August Poniatowski (1732–1798). Ihr freies Verhalten, ihre Missachtung des öffentlichen Anstands schockierten sogar Kaiserin Katharina II. Zu ihren Liebhabern zählten die diplomatischen Vertreter Russlands in Warschau, Otto Magnus von Stackelberg (1736–1800)[6] und Jakob Sievers (1731–1808). Gab bei diesen die Macht den Ausschlag, von der auch ihr gehörnter Gatte profitierte, so war es beim britischen Gesandten Charles Withworth (1752–1825) die Schönheit. Michał Hieronim unterhielt derweil ohne Wissen der Gattin Romanzen mit den Töchtern eines Müllers.
Ein anderes Betätigungsfeld Helenas, die der 1785 gegründeten Adoptionsloge de la Bienfaisance angehörte,[7] war die Wohltätigkeit.
Landschaftsgarten Arkadia
Neben dem Sammeln von Kunst und Büchern widmete sie sich vier Jahrzehnte lang der Anlage des romantischen Landschaftsgartens Arkadia bei Nieborów. Dieser liegt in einem ehemaligen Sumpf. Sie konzipierte ihn mit Hilfe von Fachleuten zugleich als Idyll (Locus amoenus) und als Mahnmal der Vergänglichkeit (Locus terribilis). Ein zentrales Element bildete die Pappelinsel nach dem Vorbild der Île des Peupliers im Park von Ermenonville bei Paris. Befand sich dort das Kenotaph Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778), so auf Helenas Insel ihr eigenes.[9]
Mit dem „Radziwillschen Disney-Land“[10] vergleichbare Gärten schufen Fürstin Izabela Czartoryska (1746–1835) in Powązki bei Warschau (zerstört) sowie in Puławy bei Lublin und Gräfin Zofia Potocka (1760–1822), welche die Anregung dazu 1795 in Nieborów erhielt, in Sofijiwka bei Uman (Ukraine). Im zuletzt erwähnten Jahr besuchte auch König Friedrich Wilhelm II. von Preußen Arkadia, später Kaiser Alexander I. von Russland. „Während sie die Gäste in dem Riesengarten herumführte, trug die Hausherrin gewöhnlich das Gewand einer griechischen Priesterin, mit einem goldenen Band im Haar oder einem Kranz von Rosen um den Hals; dabei spielte sie die Zither oder summte im Kontraalt.“[11]
Alter und Tod
In den letzten Lebensjahren raubten Schulden der Fürstin ihre frühere Fröhlichkeit. Warwara Turkestanowa fand sie 1818 zwar noch immer nett und liebenswürdig, aber sehr gealtert.[12] Sie starb mit achtundsechzig Jahren 1821 in Warschau. Sie soll sich bis an ihr Lebensende immer eine Rose ins Haar geflochten und gesagt haben, es sei eine blühende Rose im Schnee.
Nach Helenas Tod verfiel Arkadia, bis es 1893 von ihrem Urenkel Michał Radziwiłł erworben wurde. In der Zwischenzeit waren Marmorbildwerke verkauft, Bauten abgerissen worden. 1945 übergaben die Kommunisten die Anlage samt dem Schloss Nieborów dem Nationalmuseum in Warschau, das dort eine Zweigstelle (Muzeum w Nieborowie i Arkadii) unterhält.
Nachkommen
Von Helenas zehn Kindern erreichten sechs das Erwachsenenalter (wobei die beiden Töchter im Gegensatz zu den vier Söhnen jung starben):
- Ludwik Mikołaj (1773–1830) ⚭ 1804 Marianna Wodzińska verwitwete Colonna-Walewska (1778–1823), Majoratsherr in Klezk (Belarus)
- Antoni Henryk (1775–1833), studierte ab 1782 mit seinen Brüdern in Göttingen, 1794 an den Berliner Hof eingeladen, ⚭ 1796 Prinzessin Luise von Preußen (1770–1836, Nichte Friedrichs II.), Majoratsherr in Przygodzice (Polen), 1814 in Njaswisch (Belarus) und Olyka (Ukraine), 1815–1831 Statthalter der preußischen Provinz Posen (repräsentative Funktion), Mitglied des preußischen Staatsrats, Cellovirtuose und Komponist[13]
- Krystyna Magdalena (1776–1796), uneheliche Tochter mit Otto Magnus von Stackelberg, nachdem Prinz Louis Ferdinand (1772–1806, Bruder Luise von Preußens) um sie geworben hatte, als Hoffräulein nach Petersburg versetzt, erkältete sich an der Beisetzung Katharinas II., worauf sie an einer Lungenentzündung starb
- Michał Gedeon (1778–1850), beteiligte sich 1806 am polnischen Aufstand gegen Preußen, im Herzogtum Warschau 1811 Brigadier, 1812 Teilnehmer an Napoleons Russlandfeldzug, ⚭ 1815 Gräfin Aleksandra Stecka (1796–1864), die Schpaniw bei Riwne (Ukraine) in die Ehe mitbrachte, in Kongresspolen 1815 als Divisionär entlassen, nach dem Novemberaufstand 1831 kurze Zeit Oberbefehlshaber der polnischen Truppen, bis 1836 in Jaroslawl (Russland) inhaftiert, lebte danach in Dresden (Sachsen)
- Andrzej Walenty (1780–1837), russischer Staatsrat
- Aniela (1781–1808) ⚭ 1802 Fürst Konstanty Adam Czartoryski (1773–1860)
Galerie
- Treppenhaus mit holländischen Keramikfliesen, Schloss Nieborów, 1760er Jahre.
- Jean-Pierre Norblin: Aquädukt, Arkadia, 1784, Warschau.
- Jean-Pierre Norblin: Dämmerung, Tempel der Diana, Arkadia, 1782–1785.
- Giuseppe Grassi: Krystyna Magdalena Radziwiłłowa mit Gitarre.
Literatur
- X. M. R. (Michał Radziwiłł): Ostatnia wojewodzina wileńska […] (Die letzte Woiwodin von Vilnius […]). Gubrynowicz i Schmidt, Lemberg 1892 (Digitalisat ).
- Tadeusz Nowakowski: Die Radziwills: Die Geschichte einer großen europäischen Familie. Nach dem polnischen Manuskript übersetzt von Janusz von Pilecki und Josef Hahn, vom Autor durchgesehene und ergänzte Fassung, dtv, München 1975 (Erstausgabe 1966), S. 253 ff.
- Adam Galos, Alina Nowak-Romanowicz: Radziwiłł Antoni Henryk (1775–1833). In: Polski Słownik Biograficzny, Band 30, Krakau 1987, S. 156–160.
- Krystyna Lesińska: Radziwiłł Michał Hieronim (1744–1831). In: Polski Słownik Biograficzny, Band 30, Krakau 1987, S. 306–160.
- Zbigniew Zacharewicz, Władysław Zajewski: Radziwiłł Michał Gedeon (1778–1850). In: Polski Słownik Biograficzny, Band 30, Krakau 1987, S. 309–309 (Digitalisat ).
- Andrzej Ryszkiewicz: Radziwiłłowa Helena (1753–1821). In: Polski Słownik Biograficzny, Band 30, Krakau 1987, S. 390–392 (Digitalisat ).
- James Stevens Curl: Arkadia, Poland: garden of allusions. In: Garden History, 23: 1, London 1995, S. 91–112 (Digitalisat ).
- Włodzimierz Piwkowski: Arkadia Heleny Radziwiłłowej: studium historyczne. (Helena Radziwiłłowas Arkadia: historische Studie). Ośrodek Ochrony Zabytkowego Krajobrazu (Zentrum für den Schutz historischer Landschaften), Warschau 1998, ISBN 978-83-85548-71-3.
- Małgorzata Ludwisiak: Arkadia Heleny Radziwiłłowej – zagadnienie śmierci w XVIII-wiecznym ogrodzie (Helena Radziwiłłowas Arkadia – das Thema Tod in einem Garten des 18. Jahrhunderts). In: Acta Universitatis Lodziensis, Folia Historica, 77/2003, S. 35–62, mit englischsprachiger Zusammenfassung (Digitalisat ).
- Jakub Zdzisław Lichański: Arkadia koło Nieborowa: homagium dla romantyzmu. (Arkadia bei Nieborów: Hommage an die Romantik.) In: In: Rocznik historii sztuki (Jahrbuch für Kunstgeschichte), 34/2009, S. 81–93, mit englischsprachiger Zusammenfassung (Digitalisat ).
- Teresa Grzybkowska: Ogród Armidy arkadyjskiej – Heleny Radziwiłłowej. (Der Garten der arkadischen Armida – Helena Radziwiłłowa.) In: Rocznik historii sztuki, 35/2010, S. 5–42, mit englischsprachiger Zusammenfassung (Digitalisat ).
- Witold Banach: Radziwiłłowie […] (Die Radziwiłłs […]) Wydawnictwo Poznańskie, Posen 2017, ISBN 978-83-7976-806-6.
Weblinks
Einzelnachweise und Anmerkungen
- Litauisch: Helena Radvilaitė geborene Pšezdecka.
- Tadeusz Nowakowski: Die Radziwills: Die Geschichte einer großen europäischen Familie. Nach dem polnischen Manuskript übersetzt von Janusz von Pilecki und Josef Hahn, vom Autor durchgesehene und ergänzte Fassung, dtv, München 1975 (Erstausgabe 1966), S. 253 (Zitat), 258 („eifrige Verfechterin einer prorussischen Orientierung“).
- Tadeusz Nowakowski: Die Radziwills: Die Geschichte einer großen europäischen Familie. dtv, München 1975, S. 262 (Zitat), 264.
- Tadeusz Nowakowski: Die Radziwills: Die Geschichte einer großen europäischen Familie. dtv, München 1975, S. 262, 264–266.
- Tadeusz Nowakowski: Die Radziwills: Die Geschichte einer großen europäischen Familie. dtv, München 1975, S. 256.
- 1772–1790 „der wahre, wenn auch ungekrönte Herrscher Polens“. Tadeusz Nowakowski: Die Radziwills: Die Geschichte einer großen europäischen Familie. dtv, München 1975, S. 256.
- Stanisław Małachowski-Łempicki: Wykaz polskich lóż wolnomularskich oraz ich członków w latach 1738–1821 […] (Liste der polnischen Freimaurerlogen und ihrer Mitglieder in den Jahren 1738–1821 […]). Polska Akademia Umiejętności, Krakau 1929, S. 290.
- Inschrift unterhalb des Reliefs, das über einem Brunnen angebracht ist: L’Espérance nourrit une Chimère et la Vie s’écoule. (Haus des Hohepriesters)
- James Stevens Curl: Arkadia, Poland: garden of allusions. In: Garden History, 23: 1, London 1995, S. 91–112 (Digitalisat ); Małgorzata Ludwisiak: Arkadia Heleny Radziwiłłowej – zagadnienie śmierci w XVIII-wiecznym ogrodzie (Helena Radziwiłłowas Arkadia – das Thema Tod in einem Garten des 18. Jahrhunderts). In: Acta Universitatis Lodziensis, Folia Historica, 77/2003, S. 35–62, mit englischsprachiger Zusammenfassung (Digitalisat ).
- Tadeusz Nowakowski: Die Radziwills: Die Geschichte einer großen europäischen Familie. dtv, München 1975, S. 259.
- Tadeusz Nowakowski: Die Radziwills: Die Geschichte einer großen europäischen Familie. dtv, München 1975, S. 260 (Zitat), 263.
- Д. И. Исмаил-Заде (D. I. Ismail-Zade): Княжна Туркестанова […] (Fürstin Turkestanowa […]) Крига (Kriga), Petersburg 2012, ISBN 978-59-0180-551-0, S. 568.
- Chopin widmete Antoni Henryk das Trio für Klavier, Violine und Violoncello in g-Moll, op. 8. Radziwiłłs bedeutendste Komposition ist eine Vertonung von Goethes Faust.