Weltreich
Als Weltreich bezeichnet man meist ein Reich, das sowohl große Teile der jeweils bekannten Welt umfasst als auch bedeutenden Einfluss auf die geschichtliche Entwicklung (politisch, wirtschaftlich, technologisch, sozial, kulturell, religiös oder sprachlich) hat. Oft schloss das jeweilige Selbstverständnis den Anspruch ein, entweder weite Teile der (bekannten) Welt zu beherrschen oder zumindest die größte politisch-wirtschaftliche Macht zu sein. Im Unterschied zur Weltmacht benötigt es für ein Weltreich keine globale politische Ebene.
Begriffsproblematik
In verschiedenen historischen Epochen tauchen unterschiedliche Begriffe für ein solches Weltreich auf. Die Bezeichnungen Imperium, Großreich, Weltreich und zunehmend auch Empire werden in der Politik- und in der Geschichtswissenschaft meist synonym gebraucht. Es gibt derzeit keine einheitliche Definition, was ein Imperium, ein Großreich und was ein Weltreich eigentlich wäre, wenngleich jüngere politikwissenschaftliche Arbeiten eine Reihe von Abgrenzungskriterien (etwa zum Territorialstaat), Handlungsmotive und machttheoretische Strukturmodelle angeboten haben.[1] Dennoch findet der Begriff Weltreich in der Fachliteratur häufig im Zusammenhang mit den beiden Perserreichen (Achämenidenreich und Sassanidenreich), dem Alexanderreich, dem Imperium Romanum, dem Mongolenreich, dem Reich Karls V. sowie bei den Kolonialreichen Spaniens (Spanisches Kolonialreich) und Großbritanniens (Britisches Weltreich) immer wieder Anwendung. Heute werden die USA von Herfried Münkler als Imperium bezeichnet.[2]
Imperien reklamieren in diesem Zusammenhang die politische Dominanz über weite Teile der ihnen bekannten Welt, was bisweilen in Ansprüchen auf Weltherrschaft gipfelte.
„Imperien sind mehr als große Staaten; sie bewegen sich in einer ihnen eigenen Welt. Staaten sind in eine Ordnung eingebunden, die sie gemeinsam mit anderen Staaten geschaffen haben und über die sie daher nicht allein verfügen. Imperien dagegen verstehen sich als Schöpfer und Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen abhängt und die sie gegen den Einbruch des Chaos verteidigen müssen. Der Blick in die Geschichte der Imperien zeigt, dass sprachliche Wendungen wie die von der ‚Achse des Bösen‘ oder den ‚Vorposten der Tyrannei‘ nichts Neues und Besonderes sind. – Während Staaten an den Grenzen anderer Staaten Halt machen und es ihnen selbst überlassen, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln, mischen sich Imperien in die Verhältnisse anderer ein, um ihrer Mission gerecht zu werden. Deshalb können Imperien auch sehr viel stärker Veränderungsprozesse in Gang setzen, während die Ordnung der Staaten durch einen strukturellen Konservatismus geprägt ist.“[3]
In der Enzyklopädie der Neuzeit wird Weltreich wie folgt definiert:
„Weltreich. 1. Begriff und Bedeutung: Mit dem Begriff W. wird – als eine Erscheinungsform des Weltsystems – eine histor. Ordnungseinheit bezeichnet, die (1) größere Teile der bekannten Welt und ähnlich wie »Reich« eine ethnisch wie kulturell heterogene Untertanenschaft umfasst, die (2) einen auf polit. Macht, realer (oft militärischer) Gewaltandrohung und kultureller Hegemonie basierenden Herrschaftsraum mit entsprechender Selbstwahrnehmung und Vorherrschaftsbewusstsein bildet, (3) die beherrschten Gebiete kulturell, sprachlich und wirtschaftlich beeinflusst sowie (4) den Anspruch auf Weltherrschaft erhebt. Dabei steht »Welt« nicht im geographisch umfassenden Sinn, sondern ist als eine relative und variable Größe mit der durch Ausdehnung von Handelsbeziehungen, durch Kenntnis anderer Zivilisationen und durch Erwerb neuer Informationen einhergehenden jeweiligen Weltwahrnehmung verbunden [14.26]. »Welt« meint ebenso die durch Handlungen, Institutionen und Regeln auf ein Zentrum bezogene, integrierte territoriale, oft kontinentübergreifende Großregion. Doch nicht diese »Größe« an sich ist das entscheidende Kriterium; vielmehr sind die faktische Macht sowie die Ausübung von Herrschaft und Verwaltung (lat. imperium) entscheidend, die sich auf Expansion sowie auf die Potentiale der Bevölkerung und der Wirtschaft stützen [16. 610 f.]. Daher werden solche großräumigen und hierarchisch geordneten, d. h. in ein machtausübendes Zentrum und koloniale Peripherien unterscheidbaren [15.108] Herrschaftsräume nach dem Vorbild des bekanntesten W. der Antike, des Imperium Romanum, mit einem synonymen Begriff auch als Imperium [3] (engI. empire [7]; [17], span. imperio) bezeichnet. W. bzw. Imperien mit entsprechender imperialer Programmatik sind jedoch kein Spezifikum der europ. Geschichte. In der Nz. gab es sogar Imperien, deren »Welten« einander nicht berührten (z. B. das span. und das chines. W.).“[4]
Antike „Weltreiche“
Das achämenidische Perserreich gilt oftmals als das erste „echte“ Weltreich der Geschichte; in den davor liegenden Jahrhunderten gab es zwar mehrere Großreiche, die kurz- oder mittelfristig die umliegenden Territorien und Völker beherrschten, jedoch war ihre Größe mit der des Perserreiches nicht vergleichbar. Das größte vor dem Perserreich existierende Großreich war das heute relativ unbekannte Neuassyrische Reich, das sich zur Zeit seiner größten Ausdehnung vom Süden Ägyptens bis zum persischen Golf und dem heutigen Armenien erstreckte.
Von besonderer Bedeutung ist das Reich Alexanders des Großen, das von Makedonien und Ägypten bis zum Indus reichte. Das Alexanderreich war zwar nur äußerst kurzlebig, bewirkte aber über seine Nachfolgestaaten, die sogenannten Diadochenreiche, die Entstehung eines einheitlichen hellenistischen Kulturraums im östlichen Mittelmeerraum.
Das klassische Beispiel für ein Weltreich ist das Imperium Romanum. Es umfasste in seiner Blütezeit nicht nur große Teile Europas, Vorderasiens und Nordafrikas, sondern übte auf die von ihm über längere Zeit beherrschten Gebiete auch einen tiefgreifenden und nachhaltig prägenden zivilisatorischen, kulturellen und sprachlichen Einfluss aus, der (auch durch die spätere Verbindung mit dem Christentum) in vielen Bereichen bis heute nachwirkt. Heutige sprachliche und staatliche Strukturen können in vielen Fällen direkt mit dem römischen Imperium in Verbindung gebracht werden.
Außereuropäische „Weltreiche“
Bis zum Ende der Antike gab es mindestens drei europäische Weltreiche: das Alexanderreich, das Römische Reich und das (in direkter Nachfolge des Römischen Reiches stehende) Oströmische/Byzantinische Reich. Nach dem Untergang des Römischen Reiches in der Spätantike konnte kein Weltreich mehr auf dem europäischen Kontinent Fuß fassen, nur noch imperiale Peripherien anderer, außereuropäischer Weltreiche erstreckten sich über Randgebiete Europas. Byzanz bildete hier als europäisches Reich zunächst noch eine Ausnahme, war aber seit der Islamischen Expansion im 7. Jahrhundert praktisch ebenfalls kein Weltreich mehr. Stattdessen bildeten sich in Europa erst die Personenverbandsstaaten und dann das komplexe System der Territorialstaaten heraus. Mit Beginn der Europäischen Expansion im 15. Jahrhundert schufen diese Staaten dann ihrerseits außereuropäische Weltreiche (Kolonialreiche) auf anderen Kontinenten.
Aber beispielsweise sowohl beim Mongolenreich Dschingis Khans, als auch beim Reich der Kalifen (ca. 700 – 900 n. Chr.) und beim Chinesischen Kaiserreich (ca. 200 v. Chr. – 1911), lassen sich längerfristige historische Nachwirkungen ebenfalls nicht bestreiten. Auch sie waren alle für die Entwicklung ihrer Region nachhaltig bestimmende historische Größen.
Kolonialreich
In der Zeit des Kolonialismus und Imperialismus bauten einige europäische Länder Weltreiche auf und prägten nachhaltig die Länder, die sie kolonisierten. So wurden Lateinamerika von Spanien und Portugal, Nordamerika, Afrika, Asien und Australien durch Frankreich bzw. Großbritannien sprachlich und kulturell geformt. Die Tatsache, dass das Britische Empire die größte Kolonial- und Handelsmacht der Erde war, hatte die weltweite Verbreitung der englischen Sprache zur Folge, so dass Englisch heute zur universellen Welt- und Verkehrssprache geworden ist.
Weltreichslehre
Um 1900 schien es im internationalen wissenschaftlichen Diskurs ausgemachte Sache zu sein, dass über kurz oder lang die Welt von einigen wenigen Weltreichen dominiert werden würde. Als Voraussetzung galten ein großer Raum, eine hohe und wachsende Bevölkerung sowie unerschöpfliche ökonomische Ressourcen. Diese Eigenschaften trafen auf die USA und Russland voll zu, auf das Britische Empire weitgehend, auf Deutschland und Frankreich dagegen fast gar nicht. Dennoch wurden auch dort Möglichkeiten diskutiert, ein Weltreich zu gewinnen. Bekannt ist die Rede des späteren Reichskanzlers Bernhard von Bülow vom 6. Dezember 1897, in der er für Deutschland einen Platz an der Sonne einforderte und die deutsche Weltpolitik einleitete. Die Weltreichslehre wurde, nach ersten Anfängen in der nachnapoleonischen Ära, um die Jahrhundertwende von Geographen, Historikern und Nationalökonomen intensiv diskutiert, wobei die Chancen, selbst in den Club der Weltreiche aufsteigen zu können, stets den gedanklichen Hintergrund bildeten. Die Alternative schien der Untergang der eigenen Nation zu sein. Am intensivsten waren die Diskussionen in den Staaten, deren Status gefährdet oder prekär schien, nämlich in Deutschland und in Großbritannien.[5]
Universalmonarchie
Insbesondere das chinesische Kaiserreich sah sich als Universalmonarchie, d. h. dem Kaiser als dem „Sohn des Himmels“ kam die Oberherrschaft über alle anderen Fürsten der Welt zu. Eine ähnliche Vorstellung verband man im Europa des Mittelalters mit dem römisch-deutschen Reich, unter Berufung auf den heiligen Hieronymus, der den Bibeltext Dan 2, 21ff. vom Traume Nebukadnezars so auslegte, dass es nur vier Weltreiche geben werde: das babylonische Reich, das Reich der Meder und Perser, das Reich Alexanders des Großen und das Römische Reich, das bis ans Ende der Tage dauern sollte. Unter dieser Voraussetzung konnte das römisch-deutsche Reich die Nachfolge des römischen beanspruchen, eine Kontinuität, die von Karl dem Großen bewusst hergestellt wurde (Translatio Imperii). Allerdings verband sich mit diesem universalen Anspruch in der Regel keine entsprechende reale Machtausübung. Dennoch versuchten im Mittelalter einige römisch-deutsche Kaiser durchaus theoretische pro-kaiserliche universale Ideen zumindest teilweise realpolitisch zu nutzen (siehe Friedrich I. und Heinrich VII.),[6] hatten damit jedoch letztlich keinen bleibenden Erfolg. Die Idee der universalen Reichsidee wirkte aber bis in die Frühe Neuzeit hinein.
Erst nach der Entdeckung Amerikas lässt sich unter Karl V., in dessen Reich „die Sonne nicht unterging“, wieder von einem Weltreich sprechen. Dessen universalmonarchischen Herrschaftsanspruch vertrat insbesondere der Staatsmann Mercurino Arborio di Gattinara, wobei er an antikuriale und antifranzösische Stimmungen im Heiligen Römischen Reich anknüpfte und Erwartungen der Wiedergewinnung von an Frankreich verlorene Gebiete (Mailand, Genua, Provence) weckte (Neoghibellinismus).[7]
Postkoloniale Imperien
Auch in der Weltordnung nach 1945 werden von Wissenschaftlern wie Herfried Münkler und Hans-Heinrich Nolte imperiale Strukturen wahrgenommen, die Parallelen zu vorherigen Weltreichsordnungen aufweisen. So wäre etwa der Kalte Krieg eine Auseinandersetzung zwischen einem östlich-kommunistischen Weltreich, der Sowjetunion mit ihren Vasallenstaaten im Ostblock, und einem westlich-kapitalistischen, den USA mit ihren Verbündeten in der westlichen Welt. In dieser Interpretation ist die Herrschaft dieser postkolonialen Imperien nicht an Territorien gebunden, sondern äußert sich maßgeblich in der Kontrolle der Weltwirtschaft sowie einem überstarken und zugleich globalen Einfluss auf Politik, Technologie, Migration, Sprache und ganz besonders deutlich auf die Kultur (siehe auch Augusteische Schwelle). Münkler verwendet den Begriff Amerikanisches Imperium, zu dem die EU eine Art imperiales Subzentrum bilde.[8]
Literatur
- Peter Fibiger Bang u. a. (Hrsg.): The Oxford World History of Empire. 2 Bände. Oxford University Press, Oxford 2021.
- John Darwin: Der imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer Reiche 1400 – 2000. Aus dem Englischen von Michael Bayer und Norbert Juraschitz, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2010, ISBN 978-3-593-39142-7. (dradio.de, Deutschlandfunk, Andruck, 1. November 2010, Paul Stänner: Aufstieg und Fall großer Imperien.)
- Alexander Demandt: Das Ende der Weltreiche. Nikol, Berlin 2007, ISBN 978-3-937872-67-4.
- Michael W. Doyle: Empires. Cornell Studies in Comparative History, New York 1986, ISBN 0-8014-9334-X.
- Michael Gal: Staaten, Reiche, Dependanten. Grundlegung einer Theorie der Politate. In: ders.: Internationale Politikgeschichte. Konzeption – Grundlagen – Aspekte. Thelem, Dresden/München 2021 (2. Aufl.), ISBN 978-3-95908-446-8, S. 247–301.
- Michael Gehler, Robert Rollinger (Hrsg.): Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche. 2 Bände, Harrassowitz, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-447065-67-2.
- Sebastian Huhnholz: Krisenimperialität. Romreferenz im US-amerikanischen Empire-Diskurs. Campus-Verlag, Frankfurt am Main/New York 2014.
- Paul Kennedy: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000. Fischer, Frankfurt 2000, ISBN 3-596-14968-1.
- Ulrich Leitner: Imperium. Geschichte und Theorie eines politischen Systems. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-593-39503-6.
- John Mackenzie (Hrsg.): The Encyclopedia of Empire. 4 Bände. Wiley-Blackwell, Chichester 2016.
- Ulrich Menzel: Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, ISBN 9783518423721.
- Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Rowohlt, Berlin 2005 (mehrere NDe), ISBN 978-3-499-62213-7.
- Sönke Neitzel: Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Schöningh, Paderborn 2000.
- Wolfgang Reinhard (Hrsg.): Geschichte der Welt. Weltreiche und Weltmeere 1350 – 1750. C.H. Beck, München 2014.
- Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), Heft 1: Imperien im 20. Jahrhundert.
Weblinks
- Herfried Münkler: Imperium und Imperialismus. Version 1.0, In: Docupedia Zeitgeschichte. 11. Februar 2010.
Anmerkungen
- Sebastian Huhnholz: Krisenimperialität. Romreferenz im US-amerikanischen Empire-Diskurs. Campus, Frankfurt am Main und New York 2014.
- Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005.
- Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005, S. 8.
- Hans-Joachim König: Weltreich. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Band 14. Stuttgart/Weimar 2011, hier Sp. 869f.
- Sönke Neitzel: Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Schöningh, Paderborn 2000.
- Vgl. dazu etwa Othmar Hageneder: Weltherrschaft im Mittelalter. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 93, 1985, S. 257–278; Malte Heidemann: Heinrich VII. (1308–1313). Kaiseridee im Spannungsfeld von staufischer Universalherrschaft und frühneuzeitlicher Partikularautonomie. Warendorf 2008.
- Alfred Kohler: Karl V. (1519–1556). In: Anton Schindling, Walter Ziegler (Hrsg.): Die Kaiser der Neuzeit, 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland. Verlag C. H. Beck, München 1990, ISBN 3-406-34395-3, S. 36 (Google Books)
- Hans-Heinrich Nolte (Hrsg.): Imperien. Eine vergleichende Studie, Wochenschau Verlag, Schwalbach 2008, S. 69 ff; Herfried Münkler: Imperien: Die Logik der Weltherrschaft. Rowohlt, Berlin 2007, S. 224 ff.