Wahlkampagnen während des Verfassungsreferendums in der Türkei 2017

Während d​es Verfassungsreferendums i​n der Türkei i​m April 2017 g​ab es v​iele Kampagnen s​owie Auftritte i​n der Türkei. Im Ausland wurden n​ur wenige Kampagnen u​nd Auftritte erlaubt, während v​iele untersagt wurden.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei einer „Ja“-Wahlkampfauftritt in Kahramanmaraş (Türkei) am 17. Februar 2017

Wahlkampagnen

Haltung der Parteien

Haltung der Parteien zur Volksabstimmung
Wahl Partei Vorsitz Ausrichtung
Ja AKPPartei für Gerechtigkeit und Aufschwung Binali Yıldırım islamisch-konservativ, neoosmanisch
MHP (z. T.)Partei der Nationalistischen Bewegung Devlet Bahçeli rechtsextremistisch, nationalistisch
BBP (z. T.)Partei der Großen Einheit Mustafa Destici rechtsextremistisch, islamistisch
HÜDA PAR[1]Partei der Freien Sache Zekeriya Yapıcıoğlu islamistisch, pro-kurdisch
Nein CHPRepublikanische Volkspartei Kemal Kılıçdaroğlu kemalistisch, sozialdemokratisch
MHP (z. T.)Partei der Nationalistischen Bewegung Devlet Bahçeli rechtsextremistisch, nationalistisch
HDPDemokratische Partei der Völker Selahattin Demirtaş / Figen Yüksekdağ demokratisch-sozialistisch, pro-kurdisch
SAADETGlückseligkeitspartei Temel Karamollaoğlu islamistisch, konservativ
BBP (z. T.)Partei der Großen Einheit Mustafa Destici rechtsextremistisch, islamistisch
VatanVaterlandspartei Doğu Perinçek linksnationalistisch, kemalistisch
HAK-PARPartei für Recht und Freiheiten Refik Karakoç pro-kurdisch
HKPVolksbefreiungspartei Nurullah Ankut kommunistisch
DPDemokratische Partei Gültekin Uysal konservativ, wirtschaftsliberal
TKPKommunistische Partei kollektive Führerschaft kommunistisch
DSPDemokratische Linkspartei Önder Aksakal sozialdemokratisch, kemalistisch
LDPLiberaldemokratische Partei Gültekin Tırpancı liberal
MilletNationspartei Aykut Edibali nationalistisch
Yeşil SolGrüne Linkspartei Eylem Tuncaelli / Naci Sönmez grün
HEPARPartei für Recht und Gleichheit Yücel Savaş nationalistisch
ÖDPPartei der Freiheit und Solidarität kollektive Führerschaft sozialistisch
EMEPPartei der Arbeit Selma Gürkan kommunistisch
ANAPMutterlandspartei İbrahim Çelebi konservativ, wirtschaftsliberal
SEPSozialistische Arbeiterpartei Güneş Gümüş marxistisch
DBPDemokratische Partei der Regionen Emine Ayna pro-kurdisch
e-PartiPartei der Elektronischen Demokratie Emrehan Halıcı Einzweckpartei, „Direkte Demokratie“
DYPPartei des Rechten Weges Çetin Özaçıkgöz konservativ
Neutral BTPPartei der unabhängigen Türkei Haydar Baş nationalistisch, kemalistisch

„Ja“-Kampagnen

Lindentee für ein „Ja“
Kampagne-Logo und -Slogan „Unsere Entscheidung ist Ja“ von der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP).

Die regierende Partei für Gerechtigkeit u​nd Entwicklung (AKP) t​rat fast geschlossen für e​ine Verfassungsänderung auf, jedoch g​ab es a​uch hier Stimmen, d​ie sich (leise) g​egen Erdoğans Pläne erhoben. Zwei prominente d​avon waren d​er vorige Präsident Abdullah Gül u​nd der vorige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu. Diese beiden e​ngen Parteifreunde v​on Erdoğan hielten s​ich im gesamten Wahlkampf zurück, w​as von Beobachtern a​ls leises „Nein“ z​u werten war. Davutoğlu w​ar im Vorfeld (22. Mai 2016/Sonderparteitag) a​ls Parteichef zurückgetreten, w​as als verlorener Machtkampf g​egen Erdoğan u​nd seine Pläne galt.

Die rechtsextreme Partei d​er Nationalistischen Bewegung (MHP), welche d​ie Abstimmung überhaupt möglich gemacht hatte, w​ar tief zerrissen. Parteichef Bahçeli, d​er sich z​uvor als starke Opposition z​u Erdoğan verstand, u​nd sein Anhang warben für e​in „Ja“, d​ies traf jedoch i​n der Parteibasis m​it Dauer d​es Wahlkampfes a​uf immer weniger Begeisterung. So wurden a​uch ranghohe Parteimitglieder i​m Wahlkampf a​us der Partei ausgeschlossen, w​eil sie s​ich gegen Bahceli stellten.[2] Die Wähler d​er MHP w​aren Umfragen zufolge m​it ungefähr 70 Prozent mehrheitlich g​egen eine Änderung d​er Verfassung.[3]

„Nein“-Kampagnen

Kampagneslogan und -logo „Nein zum Präsidialsystem“
„Nein“-Kampagnestand in Hannover.

Die beiden Oppositionsparteien, d​ie sich geschlossen g​egen Erdoğan u​nd seine Pläne z​ur türkischen Verfassungsreform stellten, w​aren die Republikanische Volkspartei (CHP) u​nd die Demokratische Partei d​er Völker (HDP). Dies betraf sowohl d​ie Politiker, a​ls auch d​ie Wähler. Viele ranghohe Parteimitglieder warben i​n der gesamten Türkei für e​in „Nein“. Jedoch w​urde immer wieder v​on Gegnern a​uch mit Gewalt versucht, d​iese Bemühungen z​u unterdrücken. Die türkische Polizei w​ar hier z​um Teil ebenfalls involviert.[4]

Im April 2017 berichteten Wahlkampfbeobachter d​er OSZE a​us der Türkei, d​ass das Nein-Lager teilweise medial u​nd politisch eingeschüchtert s​owie behindert werde, wodurch e​in adäquater Wahlkampf d​er Nein-Kampagne erschwert worden sei. Zudem w​aren zahlreiche Oppositionspolitiker u​nd neutrale o​der gegen d​ie türkische Regierung argumentierende Journalisten inhaftiert.[5] In d​en ersten d​rei Wochen d​es März g​aben 17 Fernsehsender (darunter d​er staatliche TRT) d​er AKP u​nd dem Präsidialamt 470 Stunden Sendezeit, d​er größten Oppositionspartei CHP jedoch n​ur 45 u​nd der HDP s​ogar 0 (Statistik d​urch den obersten Radio- u​nd Rundfunkrat d​er Türkei). Auch d​ie Daten d​er Nachrichtensendungen v​om 1. b​is 10. März zeigen e​inen großen Unterschied zwischen d​en Lagern u​nd der Berichterstattung: So wurden d​en Vertretern d​es Präsidialamtes u​nd der AKP 136 Stunden, d​er CHP 17 Stunden u​nd der HDP 33 Minuten Sendezeit zugeteilt.[6] CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu sprach d​iese Bedingungen b​ei einem Interview m​it dem staatlichen Sender TRT a​n und beklagte v​or allem d​ie Situation d​er TRT u​nd deren Nähe z​u Erdoğan.[7] Dies f​and in d​er Türkei großen Anklang u​nd hatte z​ur Folge, d​ass vier Tage später d​ie HDP (vertreten d​urch Osman Baydemir) e​in neunminütiges Statement z​um Referendum i​m Staatsfernsehen abgeben durfte.[8][9]

Wahlkampfauftritte

Neben d​en etwa 55 Millionen Stimmberechtigten i​n der Türkei w​aren rund 3 Millionen i​n über 50 Ländern lebende Staatsbürger z​ur Teilnahme a​n der Volksabstimmung aufgerufen (vgl. a​uch Auslandsstimmen b​ei der Präsidentschaftswahl 2014). Eine Beteiligung mittels Briefwahl w​ar im türkischen Wahlrecht n​icht vorgesehen.[10] Die e​twa 1,4 Millionen i​n Deutschland lebenden Türken, d​ie in d​as Wählerverzeichnis eingetragen waren, konnten (wie a​m 15. März 2017 v​on der Bundesregierung offiziell bestätigt wurde) zwischen d​em 27. März u​nd dem 9. April 2017 i​n den 13 konsularischen Vertretungen d​er Türkei i​n Deutschland abstimmen.[11]

Für Abstimmungen i​m Zusammenhang m​it Verfassungsreferenden galten d​ie Bestimmungen d​es Gesetzes Nr. 3376[12] u​nd des allgemeinen Wahlgesetzes (Gesetz Nr. 298)[13]. Art. 50 Abs. 1 d​es Gesetzes Nr. 298 untersagt Wahlpropaganda (seçim propagandası) u​nter anderem a​uf allgemeinen Straßen s​owie in Bethäusern u​nd Dienstgebäuden. Darüber hinaus durfte n​ach Art. 94/A Abs. 5 d​es Gesetzes Nr. 298 i​m Ausland s​owie in Auslandsvertretungen u​nd nach Art. 94/E Abs. 6 d​es Gesetzes Nr. 298 a​n Grenzübergängen k​eine Wahlpropaganda betrieben werden.[14] Sowohl Art. 94/A a​ls auch Art. 94/E d​es Gesetzes Nr. 298 wurden 2008 eingefügt.[15]

Kontroverse Debatten u​m Wahlkampfauftritte türkischer Politiker g​ab es i​n mehreren europäischen Staaten.

Dänemark

Die dänische Regierung s​agte am 12. März 2017 e​in geplantes Treffen i​m eigenen Land vorerst ab, d​as mit d​em türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu für d​en 19. u​nd 20. März 2017 geplant war. Hierbei wären a​uch türkische Einwohner zugegen gewesen.[16]

Deutschland

Außenminister Cavusoglu kritisiert die Absagen und Verbote für die Wahlkampfauftritte in Deutschland.

Während d​er damalige türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan i​n Köln für d​ie Volksabstimmung v​on 2010 t​rotz Kritik i​n seinem Sinne werben konnte,[17] w​aren türkische Wahlkampfveranstaltungen 2017 hochumstritten u​nd meist unerwünscht.

In Zusammenhang m​it dem abgesagten Auftritt d​es türkischen Justizministers Bekir Bozdağ g​ing eine Bombendrohung g​egen das Rathaus v​on Gaggenau ein, nachdem v​on Vertretern mehrerer Parteien, beispielsweise Julia Klöckner (CDU), Wolfgang Bosbach (CDU), Jürgen Hardt (CDU), Andreas Scheuer (CSU), Bernd Riexinger (Die Linke), Christian Lindner (FDP) u​nd Alexander Gauland (AfD) Forderungen n​ach einem Verbot d​urch die Bundesregierung l​aut geworden waren.[18][19][20][21][22][23]

Am 8. März 2017 w​urde in Hamburg d​er geplante Auftritt d​es türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu a​n zwei Standorten a​us Sicherheitsgründen abgesagt.[24] Der Außenminister sprach daraufhin v​om Balkon d​es Generalkonsulats i​n Hamburg-Uhlenhorst z​u etwa 350 Besuchern, begleitet v​on 250 Gegendemonstranten u​nd 850 Einsatzkräften.

Haltung von Bundesregierung und einzelnen Politikern

Die Verwaltungen mehrerer Gemeinden untersagten einige geplante Wahlkampfauftritte aufgrund v​on Sicherheitsbedenken (z. B. n​icht gewährleisteter Brandschutz), w​as von Teilen d​er Befürworter d​es Referendums jedoch a​ls Vorwand interpretiert wurde.

Bundeskanzlerin Angela Merkel machte deutlich, dass die Entscheidung bei den zuständigen Kommunen liege und keine Einschränkung der Meinungsfreiheit bedeute. Einige deutsche Kommentatoren interpretierten Merkels Standpunkt als Schwäche.[25][26]

Bundespolitiker der Union, der SPD (darunter Justizminister Heiko Maas und SPD-Fraktionsvorsitzender Thomas Oppermann) und der Grünen (darunter Claudia Roth) sowie u. a. der CDU-Europapolitiker Elmar Brok teilten Merkels Linie; sie sprachen sich gegen eine Verbotspolitik aus und erwähnten das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl forderte ein Redeverbot für türkische Regierungsmitglieder und begründete dieses damit, dass es darum gehe, klarzumachen, „dass wir diesen Weg, den die Türkei jetzt geht, in Deutschland missbilligen und in keinem Fall unterstützen“. Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) betonte Mitte März: „Dass die Bundesregierung bisher nicht ihre völkerrechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, ist keine Freikarte für die Zukunft“, ein Einreiseverbot sei jedoch das letzte Mittel.[27] Am 18. Februar 2017 trat der türkische Ministerpräsidenten Yıldırım in der Arena Oberhausen als Redner auf; Veranstalter war die regierungsnahe Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD).[28][29] Die Gegeninitiative lud türkische Oppositionspolitiker zu ihren Veranstaltungen ein.[30]

Reaktionen von Landespolitikern

Es b​lieb bei „Phantomverboten“ u​nd Drohungen, d​ie von d​en Ministerpräsidenten d​es Saarlandes u​nd Sachsen-Anhalts verlautbart wurden, u​m öffentliche Auftritte türkischer Wahlkämpfer z​u verbieten, obwohl i​n keinem d​er beiden Bundesländer Veranstaltungen o​der Auftritte türkischer Redner geplant waren. Die s​ich im Wahlkampf befindende Ministerpräsidentin d​es Saarlandes, Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), ließ verlauten, s​ie werde „alle Möglichkeiten ergreifen, solche Auftritte a​uf saarländischem Boden z​u verbieten“.[31] Der sachsen-anhaltische Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) erklärte Präsident Erdoğan z​ur unerwünschten Person i​n seinem Bundesland.[32]

Urteil des Bundesverfassungsgerichtes

Von verschiedenen Seiten wurde die Frage aufgeworfen, ob Angehörigen der aktuellen türkischen Regierung resp. ausländischen Repräsentanten jeglicher Staatsangehörigkeit und jeglichen Ranges nach den rechtlichen Möglichkeiten Wahlkampfauftritte unter Beibehaltung demokratischer Standards in Deutschland verboten werden können. Laut Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 8. März 2017) kann nach einer abgewiesenen Verfassungsbeschwerde ein solches Verbot durch die Bundesregierung erwirkt werden:

„Zwar h​aben Staatsoberhäupter u​nd Mitglieder ausländischer Regierungen w​eder vom Grundgesetz n​och nach e​iner allgemeinen Regel d​es Völkerrechts e​inen Anspruch a​uf Einreise i​n das Bundesgebiet u​nd die Ausübung amtlicher Funktionen i​n Deutschland. Hierzu bedarf e​s der Zustimmung d​er Bundesregierung, i​n deren Zuständigkeit für auswärtige Angelegenheiten e​ine solche Entscheidung fällt. Soweit ausländische Staatsoberhäupter o​der Mitglieder ausländischer Regierungen i​n amtlicher Eigenschaft u​nd unter Inanspruchnahme i​hrer Amtsautorität i​n Deutschland auftreten, können s​ie sich n​icht auf Grundrechte berufen. Denn b​ei einer Versagung d​er Zustimmung würde e​s sich n​icht um e​ine Entscheidung e​ines deutschen Hoheitsträgers gegenüber e​inem ausländischen Bürger handeln, sondern u​m eine Entscheidung i​m Bereich d​er Außenpolitik, b​ei der s​ich die deutsche u​nd die türkische Regierung a​uf der Grundlage d​es Prinzips d​er souveränen Gleichheit d​er Staaten begegnen.“

Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. März 2017[33]

Haltung der türkischen Regierung

Im Gegenzug verbittet s​ich die Türkische Republik seither ausländische Wahlkampfveranstaltungen a​uf türkischem Boden jedweder Art. Ein Verbot für ausländische Politiker, i​n der Türkei aufzutreten, g​ibt es z​war nicht. Indirekt k​am die Regierung d​er Türkei d​amit den Worten Cem Özdemirs (Grüne) nach, d​er „gleiches Recht für alle“ einforderte.[34]

Die türkische Regierungspartei AKP beschloss a​m 16. April, Wahlkampfveranstaltungen u​nd jedwede Informationsveranstaltung i​n Deutschland z​u unterlassen. Staatspräsident Erdoğan w​ar bei dieser Entscheidung n​icht direkt beteiligt; e​r darf a​ls Staatsoberhaupt k​ein Mitglied e​iner politischen Partei sein.[35]

Bozdağ kritisierte d​ie Absage seines Auftritts i​n Gaggenau Anfang März 2017 scharf: „Das Vorgehen g​egen uns i​st ein faschistisches Vorgehen u​nd eines, d​as demokratische Werte verletzt. Es t​ritt die deutsche Verfassung u​nd die Menschenrechtsverträge, a​n die Deutschland gebunden ist, m​it Füßen.“[36][37] Noch weiter g​ing Präsident Erdoğan selbst, d​er in e​iner in Istanbul gehaltenen Rede v​or dem regierungsnahen Frauenverband Kadem v​on „Nazi-Praktiken“ sprach u​nd an d​ie deutschen Verantwortungsträger gewandt ausrief: „Eure Praktiken machen keinen Unterschied z​u den Nazi-Praktiken d​er Vergangenheit.“ Deutschland h​abe nichts m​it Demokratie z​u tun.[38] Dies w​urde in d​er deutschen Öffentlichkeit u​nd Politik a​ls inakzeptabel zurückgewiesen, n​och dazu gegenüber e​inem NATO-Partner.[39] Verteidigungsministerin Ursula v​on der Leyen äußerte, m​an solle „mit kühlem Kopf Redefreiheit n​ach Recht u​nd Gesetz gewähren“. Dieses Recht könnten a​ber „einige türkische Politiker“ m​it solchen Vergleichen verwirken.[40] Mitte März wiederholte Erdoğan s​eine Äußerung, diesmal persönlich a​n die Bundeskanzlerin gewandt. Sie verwies u​nter anderem a​uf eine Verbalnote, i​n der d​ie Bundesregierung unmissverständlich mitgeteilt habe, d​ass Auftritte türkischer Politiker i​n Deutschland n​ur stattfinden könnten, w​enn sie a​uf der Grundlage d​er Prinzipien d​es Grundgesetzes erfolgen. Andernfalls behalte s​ich die Bundesregierung v​or alle notwendigen Maßnahmen z​u ergreifen, einschließlich e​iner Überprüfung d​er mit dieser Note erteilten Genehmigung.[41] Die UETD s​agte am 21. März 2017 b​is zur Volksabstimmung a​lle Veranstaltungen m​it Ministerbeteiligungen i​n Deutschland ab.[42]

Frankreich

„Nein“-Auftrittstour von Deniz Baykal in Frankreich

Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu absolvierte n​ach der Verweigerung d​er Landeerlaubnis i​n den Niederlanden a​m 11. März 2017 e​inen Auftritt b​ei einem Treffen d​er Union Europäisch-Türkischer Demokraten i​n Metz, d​er anders a​ls in d​en Niederlanden v​on den zuständigen französischen Behörden genehmigt wurde.[43] Vor 800 Teilnehmern bezeichnete e​r dort d​ie Niederlande a​ls „Hauptstadt d​es Faschismus“.

Niederlande

Proteste von Türken vor dem niederländischen Konsulat in Istanbul

Im März 2017 – i​m Vorfeld d​er niederländischen Parlamentswahl a​m 15. März 2017 – erklärte d​er niederländische Ministerpräsident Mark Rutte gegenüber d​er türkischen Regierung, d​ass Auftritte z​ur Volksabstimmung über d​ie Verfassung d​er Türkei i​n den Niederlanden unerwünscht s​eien und d​ass der öffentliche Raum generell k​ein Ort für d​en Wahlkampf anderer Länder sei.[44]

Rotterdamer Auftrittskrise vom 11. März

Berittene Polizei vor dem türkischen Konsulat in Rotterdam während des Protests

Nach Drohungen wurde dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu die Landeerlaubnis in den Niederlanden entzogen.[45] Als am selben Tag die türkische Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya von Düsseldorf nach Rotterdam fuhr, stoppte die Polizei den Dienstwagen und eskortierte ihn bis zur deutsch-niederländischen Grenze, von wo sie als „unerwünschte Ausländerin“ eingereist war. Der Ministerin war der Zugang zum türkischen Konsulat wegen des angekündigten, aber offiziell untersagten Wahlkampfes verwehrt worden.[46]

Das türkische Außenministerium bestellte daraufhin d​en niederländischen Geschäftsträger i​n Ankara e​in und teilte i​hm mit, d​ass eine Rückkehr d​es niederländischen Botschafters, d​er sich z​u dieser Zeit n​icht in d​er Türkei aufhielt, unerwünscht sei. Kurz darauf wurden d​ie diplomatischen Vertretungen d​er Niederlande i​n der Türkei abgeriegelt.[47]

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bezeichnete d​ie niederländische Regierung u​nd deren Bevölkerung aufgrund d​eren Verhaltens a​ls Nationalsozialisten u​nd Faschisten u​nd drohte m​it weitreichenden politischen Konsequenzen a​uf allen Feldern d​er Beziehungen w​ie Landeverboten für niederländische Flugzeuge i​n der Türkei. Sowohl d​ie Beschimpfungen a​ls auch d​ie Drohpolitik wurden v​on Ministerpräsident Rutte zurückgewiesen. Die Äußerungen Erdoğans s​eien „unangebracht“ u​nd „verrückt“.[48][49][50]

Österreich

Österreichs Bundeskanzler Christian Kern sprach s​ich am 5. März 2017 für e​in EU-weites Verbot v​on Wahlkampfauftritten türkischer Politiker aus. Er erklärte: „Eine gemeinsame Vorgehensweise d​er EU, u​m solche Wahlkampfauftritte z​u verhindern, wäre sinnvoll. Damit n​icht einzelne Länder w​ie Deutschland, i​n denen Auftritte untersagt werden, u​nter Druck d​er Türkei geraten.“ Kern kritisierte bezüglich d​er geplanten Verfassungsänderung, d​ass „die Einführung e​ines Präsidialsystems d​en Rechtsstaat i​n der Türkei n​och weiter schwächen, d​ie Gewaltenteilung einschränken u​nd den Werten d​er Europäischen Union widersprechen würden“.[51] Dagegen argumentierten Repräsentanten d​er türkischen Regierung u​nd der AKP, w​ie der AKP-Politiker Mustafa Yeneroğlu.[52]

Schweden

Ein für d​en 12. März 2017 geplanter Auftritt d​es AKP-Vizevorsitzenden Mehdi Eker i​n Stockholm w​urde abgesagt. Der Mietvertrag d​es Konferenzsaals w​ar storniert worden.

Schweiz

Ein Hotel i​n Opfikon s​agte den für d​en 12. März 2017 geplanten Auftritt v​on Mevlüt Çavuşoğlu w​egen Sicherheitsbedenken ab. Der Bund lehnte d​ie Aufforderung d​er Zürcher Kantonsregierung ab, d​en Auftritt z​u verbieten.[53]

Der AKP-Funktionär Hursit Yildirim plante i​n Zürich aufzutreten, w​o ein Raum für e​in angebliches Familienfest angemietet wurde, d​ie städtische Liegenschaftsverwaltung n​ach Kenntnis d​es Hintergrunds d​en Auftritt jedoch verhinderte. Ein daraufhin i​n Spreitenbach geplanter Auftritt w​urde von d​er Aargauer Polizei untersagt. Danach f​and in Opfikon b​eim türkischen Unternehmerverband MÜSİAD e​in nichtöffentlicher Auftritt statt.[54]

Schlagzeile „Stimmt ‚Nein‘ zu Erdoğans Diktatur!“

Am 13. März 2017 titelte d​ie auflagenstärkste Schweizer Tageszeitung Blick m​it der Abstimmungsempfehlung „Erdoğan'ın diktatörlüğüne HAYIR o​yu kullanın!“ („Stimmt Nein z​u Erdoğans Diktatur!“), w​as in d​en sozialen Medien d​er Türkei für Aufregung u​nd Nazi-Vergleiche sorgte.[55]

Einzelnachweise

  1. HÜDA PAR referandumda 'Evet' diyecek. In: Sabah. Abgerufen am 4. März 2017.
  2. Erdogans Referendum stellt Ultranationalisten vor Zerreißprobe. In: moritz.gottsauner-wolf. Abgerufen am 25. März 2017.
  3. AKAM'ın kapsamlı son referandum anketi. In: ZERnews.com. Archiviert vom Original am 25. März 2017; abgerufen am 25. März 2017.
  4. Polis HDP'nin 'Hayır' otobüsüne el koydu – 20. März 2017 – Siyasi Haber. In: siyasihaber3.org. Abgerufen am 25. März 2017 (türkisch).
  5. OSZE-Kritik: Nein-Lager in der Türkei wird behindert. In: Tagesschau Online, 13. April 2017
  6. Kaum TV-Sendezeit für Opposition vor dem Türkei-Referendum. In: Deutsche Welle. Abgerufen am 13. April 2017.
  7. HDP 'inanamadı': Parti sözcüsü Baydemir bu akşam TRT yayınında – Diken. In: Diken. 11. April 2017, abgerufen am 13. April 2017.
  8. HDP 'inanamadı': Parti sözcüsü Baydemir bu akşam TRT yayınında. In: Diken. 11. April 2017, abgerufen am 13. April 2017.
  9. Güncel Haber: Hdp Osman Baydemir – TRT Konuşması – 11 Nisan 2017. 11. April 2017, abgerufen am 13. April 2017.
  10. Vgl. insbesondere VerfG, Urteil vom 29. Mai 2008, E. 2008/33, K. 2008/113, Amtsblatt Nr. 26927 vom 5. Juli 2008 (online).
  11. Im Schattenreich. Der Spiegel 11/2017, 11. März 2017, S. 12–19, hier S. 18; ARD, Tagesschau vom 15. März 2017. Die Liste der weltweiten ausländischen Abstimmungsorte und -zeiträume siehe unter Anayasa Değişikliği Halkoylamasında Sandık Kurulacak Temsilcilikler, Oy Verme Tarihleri ve Seçim Yapılacak Yerlerin Adresleri. Hoher Wahlausschuss (PDF).
  12. Anayasa Değişikliklerinin Halkoyuna Sunulması Hakkında Kanun (Gesetz über die Unterbreitung zur Volksabstimmung von Verfassungsänderungen); Gesetz Nr. 3376 vom 23. Mai 1987, Amtsblatt Nr. 19473 vom 28. Mai 1987.
  13. Seçimlerin Temel Hükümleri ve Seçmen Kütükleri Hakkında Kanun (Gesetz über die allgemeinen Wahlgrundsätze und Wählerverzeichnisse); Gesetz Nr. 298 vom 26. April 1961, Amtsblatt Nr. 10796 vom 2. Mai 1961.
  14. Siehe dazu ferner Christian Rumpf: Der türkische Außenminister im türkischen Generalkonsulat in Hamburg am 7. März 2017. Eine vorläufige Bewertung aus der Sicht des türkischen Wahlrechts. (PDF; 0,7 MB).
  15. Eingefügt durch Art. 10 des Gesetzes Nr. 5749 vom 13. März 2008, Amtsblatt Nr. 26824/Mükerrer vom 22. März 2008.
  16. Dänemark will Yildirim-Besuch verschieben. In: Welt.de, 12. März 2017.
  17. Recep Tayyip Erdoğan: "Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Erdogan-Rede in Köln im Wortlaut. In: Süddeutsche Zeitung. 17. Mai 2010, abgerufen am 2. April 2017.
  18. Rüdiger Soldt: Der Entscheider. In: faz.net, 3. März 2017
  19. Politiker fordern Verbot von Erdoğan-Auftritt in Deutschland. In: faz.net, 3. März 2017
  20. Türkei bestellt deutschen Botschafter ein. In: zeit.de, 2. März 2017.
  21. Forderung nach Verbot von Erdogan-Auftritt in Deutschland. In: Kölner Stadtanzeiger, 23. Februar 2017
  22. Erdogan spricht von „Nazi-Praktiken“. In: Deutschlandfunk, 5. März 2017
  23. Politiker fordern Verbot von Erdoğan-Auftritt in Deutschland. In: Zeit online, 1. März 2017.
  24. Auftritt des türkischen Außenministers in Hamburg abgesagt. In: Welt.de, 8. März 2017.
  25. Absagen in Gaggenau und Köln – Türkische Minister ausgeladen: Merkel verteidigt Kommunen. In: Münchner Merkur. 3. März 2017, abgerufen am 16. April 2017.
  26. Christian Rothenberg: Streit mit der Türkei: Merkel ist zu diplomatisch. In: n-tv. 7. März 2017, abgerufen am 16. April 2017.
  27. „Letztes Mittel“ Einreiseverbot: Bundesregierung droht türkischen Politikern. In: n-tv, 14. März 2017, abgerufen am gleichen Tag
  28. Bericht: Türkischer Ministerpräsident tritt bei Veranstaltung in Oberhausen auf. (Memento vom 15. März 2017 im Internet Archive) In: Zeit Online, 14. Februar 2017
  29. FAZ.net 18. Februar 2017: Yildirim in Oberhausen: „Werbefeldzug für die Diktatur“.
  30. Thomas Gutschker, Lydia Rosenfelder: Hayir – Nein! In: FAZ.net. 12. März 2017, abgerufen am 17. April 2017.
  31. Saarland verbietet Wahlkampfauftritte ausländischer Politiker. Als erstes Bundesland. FAZ, 14. März 2017, abgerufen am 2. April 2017.
  32. Haseloff: Türkischer Präsident Erdogan kein willkommener Gast. Nach Wahlkampfauftritten. In: Mitteldeutscher Rundfunk. 16. März 2017, archiviert vom Original am 2. April 2017; abgerufen am 2. April 2017.
  33. Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen den Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten in Deutschland; Pressemitteilung Nr. 16/2017 vom 10. März 2017. Bundesverfassungsgericht, abgerufen am 14. März 2017
  34. Wenn ausländische Politiker in der Türkei auftreten wollen. In: Die Welt. 13. März 2017, abgerufen am 2. April 2017.
  35. Erdogans Partei verzichtet auf Wahlkampfauftritte in Deutschland. In: Die Welt. 21. März 2017, abgerufen am 2. April 2017.
  36. Oppermann wirbt für Toleranz. In: Spiegel online, 4. März 2017
  37. Türkischer Minister macht Wahlkampf in Deutschland. In: N-tv, 2. März 2017.
  38. Streit um Erdogans Nazi-Vergleich: „Wenn ich will, komme ich nach Deutschland“. In: Der Tagesspiegel, 5. März 2017.
  39. Reaktion auf Erdogans Nazi-Vergleich: „Unglaublich“ – „ungeheuerlich“. In: Tagesschau, 5. März 2017.
  40. Die Türkei hat es in der Hand. In: Zeit Online. 13. März 2017, abgerufen am 15. März 2017.
  41. Merkel droht Erdogan: Nicht jedes Tabu darf fallen. (Memento vom 21. März 2017 im Internet Archive) In: Zeit online, 20. Mai 2017
  42. Konrad Fischer: „Keine Auftritte türkischer Minister mehr in Deutschland“. In: Wirtschaftswoche, 21. März 2017.
  43. Türkischer Außenminister soll in Frankreich auftreten. In: Stuttgarter Nachrichten, 11. März 2017.
  44. Werbung für Verfassungsreform: Niederlande erklären türkischen Wahlkampf für unerwünscht. In: FAZ.net, 4. März 2017.
  45. Ein nie dagewesener diplomatischer Zwischenfall. In: Welt.de, 11. März 2017.
  46. Niederländische Botschaft in der Türkei geschlossen. In: Welt.de, 11. März 2017.
  47. Polizei stoppt türkische Ministerin in Rotterdam. In: sueddeutsche.de. 12. März 2017, abgerufen am 12. März 2017.
  48. Erdogan beschimpft Niederländer als Nazis und Faschisten. In: Stuttgarter Nachrichten.de, 12. März 2017;
  49. Rutte: „Das geht zu weit“. (Memento vom 12. März 2017 im Internet Archive) In: ZDF Heute, 12. März 2017
  50. Erdogan droht mit Vergeltung. Rutte kontert scharf. In: Welt N24, 11. März 2017.
  51. Christoph B. Schiltz: Österreichs Bundeskanzler: „Die Türkei muss Herrn Yücel umgehend frei lassen“. In: Welt Online, 5. März 2017.
  52. AKP-Politiker nennt Verbotsforderung „völlig befremdlich“. In: Deutschlandfunk, 17. Februar 2017.
  53. Florian Schoop: Bund widerspricht Zürcher Regierung: Ein türkischer Minister spaltet die Schweiz. In: NZZ, 9. März 2017.
  54. Hursit Yildirim in der Schweiz: AKP-Politiker sprach in Opfikon statt in Spreitenbach. In: NZZ, 11. März 2017.
  55. Nazi-Symbole und purer Hass. In: blick.ch, 13. März 2017.
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