Rudolf-Christoph von Gersdorff
Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff (* 27. März 1905 in Lüben, Niederschlesien; † 27. Januar 1980 in München) war ein deutscher Generalmajor und Mitglied des militärischen Widerstands gegen Adolf Hitler und den Nationalsozialismus. Er war der Gründungspräsident der Johanniter-Unfall-Hilfe.
Leben
Familien
Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff entstammte der uradeligen Familie Gersdorff und war der zweite Sohn des preußischen Rittmeisters und späteren Generalmajors Ernst Freiherr von Gersdorff (1864–1926) und dessen Ehefrau Christine, geborene Gräfin und Burggräfin zu Dohna-Schlodien (1880–1944). Er heiratete 1934 Renata Kracker von Schwarzenfeld (1913–1942), eine Miterbin der schlesischen Industriellendynastie von Kramsta. Aus der Ehe ging eine Tochter hervor. Nach dem Tod seiner Frau heiratete er 1953 Marie-Eva Alexandra Brigitte Hertha von Waldenburg (1925–1986), eine Nachfahrin des Prinzen August von Preußen. Diese Ehe blieb kinderlos.
Militärkarriere
Gersdorff besuchte bis zu seinem Abitur Schulen in Lüben und trat 1923 als Offizieranwärter in die Reichswehr ein. Er erhielt seine grundlegende militärische Ausbildung in Breslau in der Kleinburger Kaserne, wo seine Vorfahren seit Generationen im 1. Schlesischen Leibkürassierregiment „Großer Kurfürst“ gedient hatten. Er wurde 1926 zum Leutnant und 1938 zum Rittmeister befördert. In den Jahren 1938 bis 1939 war er an die Kriegsakademie in Berlin kommandiert, um dort die Ausbildung zum Generalstabsoffizier zu erhalten.
Zweiter Weltkrieg
Bei Beginn des Überfalls auf Polen war Gersdorff Dritter Generalstabsoffizier (Ic) der 14. Armee. Mit dieser, mittlerweile umbenannt in 12. Armee, wurde er nach Abschluss des Polen-Feldzuges an die deutsche Westgrenze verlegt. Nach der Zwischenstation beim XII. Armeekorps wurde Gersdorff zum Oberkommando des Heeres (OKH) abkommandiert. Während des Westfeldzugs leitete er als Ia die Führungsabteilung der 86. Infanterie-Division, die als Teil der 12. Armee an dem Vorstoß durch die Ardennen beteiligt war.
Für das Unternehmen Barbarossa, den Überfall auf die Sowjetunion, wurde er im Mai 1941 zur Heeresgruppe B, ab 22. Juni 1941 umbenannt in Heeresgruppe Mitte, versetzt. Dort war er als Verbindungsoffizier der Abwehr Ic und leitete die militärische Aufklärung. Ziel dieser Versetzung war vor allem, ihm den Zugang zum Verschwörerkreis um Henning von Tresckow zu verschaffen.
Bis April 1943 entdeckten dem Freiherrn von Gersdorff unterstehende Soldaten der Wehrmacht die Massengräber von über 4000 polnischen Offizieren, Fähnrichen und Beamten, die Einheiten des sowjetischen NKWD in einem Wald unweit des russischen Dorfes Katyn 1940 ermordet hatten (siehe Massaker von Katyn). Gersdorff führte die Dienstaufsicht über die Exhumierungen. Er war auch verantwortlich für den Ablauf der Besichtigungsreisen ausländischer Beobachter, die auf Anweisung des Propagandaministers Joseph Goebbels nach Katyn gebracht wurden. Dazu gehörten eine internationale Ärztekommission, Journalisten und Schriftsteller sowie polnische, amerikanische und britische kriegsgefangene Offiziere.[1]
Am 1. Februar 1944 trat Gersdorff seinen Dienst als Generalstabschef des LXXXII. Armeekorps an, dessen drei Infanteriedivisionen eine an der französischen Nordküste erwartete alliierte Landung abwehren sollten. Am 28. Juli 1944 wurde er Generalstabschef der 7. Armee, die kurz darauf im Kessel von Falaise eingeschlossen wurde. Für die Planung des erfolgreichen Ausbruchs der Armee erhielt er am 26. August 1944 das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes.[2] Er blieb – im März 1945 noch zum Generalmajor befördert – bis zur deutschen Kapitulation bei der 7. Armee.
Sechs Wochen vor Kriegsende vereitelte er durch schnelles Handeln den versuchten amerikanischen Panzerraid nach Hammelburg, was zur vollständigen Vernichtung der etwa bataillonsstarken amerikanischen Eingreiftruppe führte.
Mitglied des militärischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus
Kurz nach dem gescheiterten Versuch des Obersten im Generalstab Henning von Tresckow und dessen Vetters Fabian von Schlabrendorff, Hitler am 13. März 1943 durch eine in Smolensk in sein Flugzeug geschmuggelte Bombe zu töten,[3] erklärte sich Gersdorff bereit, ein Selbstmordattentat auf Hitler zu verüben.[4]
Am 21. März 1943 eröffnete Hitler zum Heldengedenktag eine Ausstellung sowjetischer Beutewaffen im Berliner Zeughaus. Gersdorff war als Experte abkommandiert, die Ausstellung zu erläutern. Er wollte beim Rundgang Hitler und die anwesende Führungsspitze, darunter Hermann Göring, Heinrich Himmler, Wilhelm Keitel und Karl Dönitz, mit britischem Sprengstoff, den er in den Manteltaschen trug, in die Luft sprengen und dabei sein Leben opfern. Nachdem Gersdorff den Säurezünder bereits aktiviert hatte, hastete Hitler durch die Ausstellung, ohne vor Ausstellungsstücken innezuhalten, und verließ das Gebäude schon nach zwei Minuten, während der Zünder eine Mindestzeit von 10 Minuten hatte. Gersdorff konnte den Zünder auf einer Toilette des Zeughauses gerade noch rechtzeitig entschärfen. Nach der gescheiterten Aktion wurde er unmittelbar an die Ostfront zurückbeordert.[4]
1944 verwahrte Gersdorff Sprengstoff und Zünder für das Attentat vom 20. Juli 1944, die sein Mitverschwörer, der Generalstabsoberst Wessel Freytag von Loringhoven, zuvor unbemerkt aus Beständen der Abwehr besorgt hatte. Die Verschwiegenheit seiner inhaftierten Kameraden – oft unter Folter – rettete ihn vor Verhaftung und Hinrichtung. So überlebte er als einer von wenigen Angehörigen der Wehrmacht im aktiven Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur die NS-Herrschaft.[5]
Nach dem Zweiten Weltkrieg
In amerikanischer Kriegsgefangenschaft war Gersdorff in einer privilegierten Lage: Er gehörte einer Gruppe hoher Offiziere der Wehrmacht an, die amerikanischen Militärhistorikern beim Verfassen einer Geschichte des Zweiten Weltkrieges zur Hand gehen sollte. Diese Gruppe war erst in Saint-Germain-en-Laye bei Paris, dann im Camp King im hessischen Oberursel interniert.[6]
Fabian von Schlabrendorff, der in den Kulissen des ersten Nürnberger Prozesses im Herbst 1945 Berater der amerikanischen Delegation war, empfahl Gersdorff als Zeugen für den von sowjetischer Seite vorgebrachten Anklagepunkt Katyn. Gersdorff verfasste daraufhin einen Bericht über seine Erkenntnisse von 1943. Doch kam weder dieser Bericht in Nürnberg zur Sprache, noch wurde von Gersdorff als Zeuge geladen. Die Existenz des Berichtes wurde verschwiegen, er wurde erst 2012 in englischer Übersetzung im amerikanischen Nationalarchiv entdeckt.[7] Die Untersuchungskommission des US-Kongresses zum Massaker von Katyn (Madden-Kommission), die 1952 zur Befragung deutscher Zeugen nach Frankfurt kam, vernahm ihn hingegen.[8]
Nach dem Beschluss des Bundestages über die Wiederbewaffnung scheiterten alle Versuche des Freiherrn von Gersdorff, in die Bundeswehr aufgenommen zu werden. In seinen Memoiren machte er dafür den Staatssekretär Hans Globke und jene Kreise ehemaliger Offiziere der Wehrmacht verantwortlich, die keinen „Verräter“ in der Bundeswehr dulden wollten.[9]
Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff widmete sich, seit 1967 durch einen Reitunfall querschnittsgelähmt, der Wohltätigkeit im Johanniterorden, dessen Ehrenkommendator er war. Er war Gründungspräsident der Johanniter-Unfall-Hilfe (Vorstandsvorsitz 1952–1963).[10] 1979 wurde ihm wegen seiner außerordentlichen Verdienste das Große Bundesverdienstkreuz verliehen.[10] Sein Grab befindet sich auf dem Münchner Ostfriedhof (Grabstelle 152-1-12a).
Nachleben
Nach ihm wurde die Generalmajor-Freiherr-von-Gersdorff-Kaserne in Euskirchen benannt.
Schriften
- Soldat im Untergang. Ullstein, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1977, ISBN 3-550-07349-6.
Siehe auch
Literatur
- Joachim Fest: Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli. Berlin 1994, ISBN 3-88680-539-5.
- Günter de Bruyn: Unter den Linden. Siedler, Berlin 2002, ISBN 3-88680-789-4.
- Ulrich Cartarius: Opposition gegen Hitler. Deutscher Widerstand 1933–1945. Berlin 1984, ISBN 3-88680-110-1.
- Kaltenbrunner-Berichte an Bormann und Hitler über das Attentat vom 20. Juli 1944. In: Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.): Spiegelbild einer Verschwörung. Busse-Seewald Verlag, 1983, ISBN 978-3-512-00657-9.
Weblinks
Einzelnachweise
- Thomas Urban: Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens. München 2015, S. 70, 93, 105, 112.
- Veit Scherzer: Ritterkreuzträger 1939–1945. Die Inhaber des Eisernen Kreuzes von Heer, Luftwaffe, Kriegsmarine, Waffen-SS, Volkssturm sowie mit Deutschland verbündete Streitkräfte nach den Unterlagen des Bundesarchivs. 2. Auflage. Scherzers Militaer-Verlag, Ranis/Jena 2007, ISBN 978-3-938845-17-2, S. 333.
- Henning von Tresckow. Tabellarischer Lebenslauf im LeMO (DHM und HdG) Eintrag für 1943.
- Bodo von Scheurig: Henning von Tresckow. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1980, S. 146 ff.
- Kurzbiografie der Gedenkstätte Deutscher Widerstand
- Rudolf-Christoph Frhr. von Gersdorff: Soldat im Untergang. Frankfurt/M. 1977, S. 194–195.
- Wie das Massaker von Katyn aus der Anklage verschwand sueddeutsche.de, 14. Mai 2015.
- The Katyn Forest Massacre. Untersuchungskommission des US-amerikanischen Kongresses, S. 1303 ff. (englisch)
- Rudolf-Christoph Frhr. von Gersdorff: Soldat im Untergang. Frankfurt/M. 1977, S. 211.
- Kurzbiografie Johanniter-Unfall-Hilfe