Protektorat
Ein Protektorat (von lateinisch protegere ‚schützen‘; zuweilen auch Schutzstaat bzw. Schutzgebiet) ist ein teilsouveränes Gemeinwesen und abhängiges staatliches Territorium, dessen auswärtige Vertretung und Landesverteidigung einem anderen Staat durch einen völkerrechtlichen Vertrag unterstellt sind.[1] Dagegen sind Kolonien oder Übersee-Territorien Besitz der jeweiligen Kolonialmacht, die Bewohner deren Untertanen. Allerdings hat sich diese Definition erst Ende des 19. Jahrhunderts verfestigt. Bis dahin – vor allem in der Zeit des „Wettlaufs um Afrika“ im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts – war der Wortgebrauch noch unscharf, und manche afrikanischen Gebiete, die keinerlei Staatlichkeit im modernen Sinne aufwiesen, wurden Protektorate genannt. Hier handelte es sich um eine Vorstufe zur eigentlichen Kolonie, bei der nicht ein örtlicher Staat, sondern die eigenen Interessen in diesem Gebiet gegen rivalisierende europäische Staaten geschützt wurden. Diese Protektorate wurden alle zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kolonien umgewandelt.
Wenn der untergeordnete Staat über ein Letztentscheidungsrecht verfügt und somit „Herr der Geschäfte“ bleibt, soll nicht von einem Protektorat gesprochen werden. Ob der protegierte Staat wegen der Beziehungen zur übergeordneten Protektoratsmacht seine Völkerrechtssubjektivität während der Dauer des Protektorats behält, ist umstritten. Nach einer Rechtsauffassung behält er seine Souveränität, kann sie aber nur noch eingeschränkt ausüben. Nach Auffassung der Gegenseite fehlt dem Protektorat mit der äußeren Souveränität ein wesentliches Merkmal der Staatlichkeit, weswegen es nicht als Völkerrechtssubjekt angesehen werden könne;[1] dem Protektorat kann dennoch eine vertragsfähige Völkerrechtssubjektivität verliehen und damit ein eigenständiger internationaler Rechtsverkehr ohne Aufsicht des Protektorstaates erlaubt werden.
Protektorate nach Staaten und Organisationen
Britische Protektorate
Eines der ersten Protektorate im modernen Sinne war das britische Protektorat über die Republik der Ionischen Inseln von 1815 bis 1863. Weitere Protektorate unterhielt Großbritannien über verschiedene asiatische Staaten: Sikkim (1861–1947, anschließend indisches Protektorat), Bahrain (1880 und 1892–1971), Brunei (1888 und 1959–83), Nord-Borneo (Sarawak und Sabah; 1888–1946) sowie die malaiischen Sultanate Johor, Kedah, Kelantan, Perlis und Terengganu (zusammengefasst zu den Unfederated Malay States) bis 1957. Ein britisches Protektorat im Südpazifik war Tonga in der Zeit von 1900 bis 1970.[2]
Im Jahr 1914 erklärten die Briten die bisherige osmanische Provinz zum selbständigen Sultanat Ägypten unter ihrer „Schutzherrschaft“, bis das Land 1922 formell – die ägyptische Außenpolitik blieb jedoch bis 1936 ebenso wie die gemeinsame Verwaltung des Sudans unter britischer Kontrolle – als Königreich in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Die ab 1885 im heutigen Nigeria unterworfenen Gebiete wurden 1899 in die Einheiten Nordnigeria- und Südnigeria-Protektorat zusammengefasst. Die Länder wurden im Sinne des indirect rule von den traditionellen Herrschern verwaltet, unterstanden aber der Gesetzgebung des Generalgouverneurs und waren deshalb eher Kolonien als Protektorate. Dasselbe galt für den Norden der Kolonie Goldküste (heute Ghana), jedoch war das Königreich Aschanti 1935–1951 ein echtes Protektorat. Das Königreich Swasiland wurde 1894 Protektorat des Burenstaates Südafrikanische Republik (Transvaal), 1902–1968 britisches Protektorat. Weitere Protektorate waren Betschuanaland (heute Botswana) 1865–1966, Basutoland (Königreich Lesotho) 1868–1966, Sultanat Sansibar 1890–1963, Emirat Kuwait 1914–1961, Scheichtum Katar 1916–1971, Golf-Scheichtümer (Piratenküste, heute Vereinigte Arabische Emirate) 1892–1971/72, Scheichtümer im Westlichen Aden-Protektorat und Hadramaut (heute zur Republik Jemen) 1849/1903–1967.
Protektorate der USA
Dänisches Protektorat
Grönland ist, seit es von Dänemark als ein selbstverwaltetes Gebiet innerhalb des Königreichs Dänemark errichtet wurde (1979 erste Stufe der Selbstverwaltung – hjemmestyre – eingeführt, 2009 zweite Stufe und verstärkt – jetzt selvstyre), als Protektorat im völkerrechtlichen Sinne anzusehen.[3]
Kolonialwesen
Die sogenannten Deutschen Schutzgebiete Deutsch-Südwestafrika (heute: Namibia), Deutsch-Ostafrika (heute: Tansania, Ruanda, Burundi), Kamerun, Togo (heute: Togo und der östlichste Teil Ghanas) sowie Deutsch-Neuguinea (heute: Teil von Papua-Neuguinea und Mikronesien), Kiautschou und Deutsch-Samoa (heute: Samoa) waren bis zum Ersten Weltkrieg völkerrechtlich betrachtet keine Protektorate, sondern Kolonien.
Protektorat Böhmen und Mähren
Unter Bruch des Münchner Abkommens von 1938 wurde die damalige Tschechoslowakei ohne die bereits abgetretenen[4] Gebiete des Sudetenlandes sowie der Slowakei, die sich als Erste Slowakische Republik unabhängig erklärte und ausgegliedert wurde, 1939 formal in das Protektorat Böhmen und Mähren umgewandelt (→ Zerschlagung der Rest-Tschechei). Es handelte sich jedoch nur dem Namen nach um ein Protektorat,[3] de facto war das annektierte Gebiet eher eine teilautonome Provinz des Deutschen Reiches[5] beziehungsweise völkerrechtlich stellte das Protektorat einen Unterstaat im Sinne eines Staatenstaates dar.
Französische Protektorate
Das Fürstentum Monaco bildet seit 1861 ein Protektorat von Frankreich, jedoch in neuerer Zeit mit außenpolitischen Sonderrechten (z. B. 1993 Beitritt zur UNO). Im Grundlagenvertrag mit Frankreich vom 24. Oktober 2002 (in Kraft getreten 2006), der den Schutzvertrag von 1918 ablöste, unterstrich Monaco seine staatliche Unabhängigkeit; der Vertrag sieht jedoch eine Konsultationspflicht in wichtigen Fragen der monegassischen Außenpolitik vor und Monaco gehört handelspolitisch weiterhin zu Frankreich. Es wird heute oft als einziges Protektorat in Europa und eines der letzten Protektorate überhaupt angesehen. Zum Teil ist aber auch nur von einem „Quasi-Protektorat“ die Rede.[2][3][5][6][7]
Historische französische Protektorate waren u. a. das Beylik Tunesien 1881–1956 und das Sultanat Marokko (französische Zone) 1912–1956;[2]
Auch der Status des von 1947 bis 1956 autonomen, aber wirtschaftlich an Frankreich angeschlossenen und außenpolitisch und militärisch von diesem vertretenen Saarland wird zuweilen als Protektorat bezeichnet oder mit einem solchen verglichen.[8][9][10]
Indische Protektorate
Das Königreich Sikkim war von 1950 bis 1975 indisches Protektorat, anschließend wurde es von Indien annektiert und als Bundesstaat in die Indische Union aufgenommen. Bhutan ist seit 1949 unter indischem Protektorat. Seit dem UN-Beitritt 1971 ist der fortgesetzte Protektoratsstatus fraglich,[2] zum Teil wird Bhutan angesichts der dauerhaften außen- und verteidigungspolitischen Bindung an Indien immer noch zu den Protektoraten gezählt.[7]
Italienisches Protektorat
Aufgrund der dauerhaften wirtschafts-, außen- und verteidigungspolitischen Bindung San Marinos an Italien wird es zum Teil als Protektorat angesehen, spätestens seit der eigenen UN-Mitgliedschaft San Marinos 1992 ist dies jedoch strittig.[5]
Japanische Protektorate
Groß-Korea 1905–1910.[2] Der „Staat“ Mandschukuo (1932–1945) war ein faktisches Protektorat, am 18. Februar 1932 hatte er seine Unabhängigkeit von China erklärt.[11]
Russische Protektorate
Khanat Buchara 1868–1920; Khanat Chiwa 1873–1920; Urjanchai 1914–1917, Polen-Litauen seit 1768.[12]
Schweizerisches Protektorat
Das Verhältnis Liechtensteins zur Schweiz, mit der es in wirtschaftlicher, außen- und verteidigungspolitischer Hinsicht intensiv und dauerhaft verbunden ist, wird zuweilen als Protektorat beschrieben. Angesichts der eigenen UN-Mitgliedschaft Liechtensteins seit 1990 ist der fortgesetzte Protektoratsstatus aber strittig.[5]
Spanisches Protektorat
Sultanat Spanisch-Marokko 1912–56/58.[2]
Gemeinsames Protektorat mehrerer Staaten
Die Republik Krakau stand von 1815 bis 1846 unter gemeinsamem Protektorat Österreichs, Preußens und Russlands. Anschließend wurde Krakau mit Zustimmung der beiden anderen Schutzmächte durch Österreich annektiert.[13]
Internationale Protektorate
Territorien, die unter der Souveränität einer internationalen Organisation stehen. Der Begriff findet heute Anwendung auf folgende Gebiete: Bosnien, Kosovo (umstritten; kein Protektorat im völkerrechtlichen Sinne)[3], Afghanistan (zeitweise), Irak (zeitweise). Es ist umstritten, unter welchen Umständen von einem internationalen Protektorat überhaupt bzw. wann nicht mehr von einem Protektorat gesprochen werden kann. Eine Hilfskonstruktion könnte lauten: Ein Territorium ist so lange als Protektorat zu betrachten, wie es ohne die internationale Gemeinschaft nicht für die Aufrechterhaltung staatlicher Souveränität sorgen kann. Die hohe internationale Präsenz erzeugt in den Protektoraten oft ökonomische Prozesse und Strukturen, die denen von Rentenökonomien gleichen.[14] Im völkerrechtlichen Sinn handelt es sich bei den Fällen internationaler Verwaltung nicht um Protektorate, sie ähneln eher denen eines Koimperiums oder Mandats- und Treuhandregimen.[5]
Mandatsgebiete des Völkerbunds
Selbst die A-Mandate des Völkerbunds – wie das Völkerbundsmandat für Palästina oder das Britische Mandat Mesopotamien (auf dem Gebiet des heutigen Irak) – waren keine Protektorate, weil sie keine Staaten aus eigenem Recht waren. Da sie aber zum Status selbstständiger Staaten hingeführt werden sollten, waren sie Protektoraten sehr ähnlich. Die B-Mandate waren faktisch Kolonien; die C-Mandate (z. B. das ehemalige Deutsch-Südwestafrika) wurden als Teile des Staatsgebiets der Mandatsmacht verwaltet.
Siehe auch
Weblinks
Einzelnachweise
- Michael Rafii: Staatenverbindungen. In: Burkhard Schöbener (Hrsg.): Völkerrecht. Lexikon zentraler Begriffe und Themen. C.F. Müller, Heidelberg 2014, ISBN 978-3-8114-4129-3, S. 420; Michael Gal: Staaten, Reiche, Dependanten. Grundlegung einer Theorie der Politate. In: ders., Internationale Politikgeschichte. Konzeption – Grundlagen – Aspekte. Thelem, Dresden/München 2021, ISBN 978-3-95908-446-8, S. 279.
- Gerhard Hoffmann: Protectorates. In: Rudolf Bernhardt: Encyclopedia of Public International Law (EPIL), Band 3, Elsevier, Amsterdam 1997, S. 1154.
- Burkhard Schöbener, Matthias Knauff: Allgemeine Staatslehre. 2. Aufl., C.H. Beck, München 2013, § 6 Rn. 50 (S. 271).
- Vgl. etwa Gregor Schöllgen: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. 3. Aufl. 2004, S. 125 f.
- Andreas von Arnauld: Völkerrecht. 2. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg 2014, § 2 Rn. 33 (S. 36).
- Matthias Herdegen: Völkerrecht. 15. Auflage, C.H. Beck, München 2016, § 8 Rn. 33 (S. 94).
- Torsten Stein, Christian von Buttlar: Völkerrecht. 13. Auflage, Vahlen, München 2012, Rn. 303 (S. 95).
- Sven Leunig: Die Regierungssysteme der deutschen Länder. 2. Auflage, Springer VS, Wiesbaden 2012, S. 41.
- Herbert Elzer: Konrad Adenauer, Jakob Kaiser und die „kleine Wiedervereinigung“. Die Bundesministerien im außenpolitischen Ringen um die Saar 1949 bis 1955. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2008, S. 845, 852, mit weiteren Nachweisen.
- Fritz Münch: Zum Saarvertrag vom 27. Oktober 1956. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV), Bd. 18 (1957), S. 1–60, hier S. 3 mit weiteren Nachweisen.
- Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914–1945, C.H. Beck, München 2011 (online).
- Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich: Entstehung – Geschichte – Zerfall, Beck’sche Reihe, 2001, S. 295.
- Rudolf Kirchschläger: Protektorat. In Karl Strupp, Hans-Jürgen Schlochauer: Wörterbuch des Völkerrechts. Band 2: Ibero-Amerikanismus bis Quirin-Fall. 2. Auflage, De Gruyter, Berlin 1961, S. 810.
- Michael Dauderstädt, Arne Schildberg (Hg.): Dead Ends of Transition. Rentier Economies and Protectorates. Campus, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-593-38154-0.