Entgleisung (Bahn)
Eine Entgleisung ist ein Eisenbahnunfall, bei dem ein Schienenfahrzeug seine spurführende Bahn, das Gleis, unkontrolliert verlässt,[1] was auch als aus den Schienen springen bezeichnet wird.[2] Das Gegenteil ist das Aufgleisen oder Eingleisen, das heißt das ordnungsgemäße Aufsetzen eines Schienenfahrzeugs auf die Schiene(n). In Deutschland zählt die Entgleisung zu den gefährlichen Ereignissen im Bahnbetrieb.
Definitionen
Die Definition des Begriffs Entgleisung ist im deutschsprachigen Gebieten nicht einheitlich.
Definition des Eisenbahn-Bundesamtes
Für die Eisenbahnen des Bundes in Deutschland definiert das Eisenbahn-Bundesamt (EBA): „Eine Entgleisung ist das Abgleiten oder Abheben eines Eisenbahnfahrzeuges von der Fahrbahn, auch wenn es sich selbst wieder aufgleist, oder der zweispurige Lauf eines Eisenbahnfahrzeugs.“[3][4] Ein Schienenfahrzeug gilt also bereits dann als entgleist, wenn der stete Kontakt zwischen Spurkranz und/oder der Lauffläche des Rades zu beiden Schienenköpfen verloren ging, auch wenn danach der Sollzustand (Führung der Spurkränze an der Laufkante der Schienenköpfe) wieder erreicht wird. Dass bereits das Abheben eines Rades von der Fahrbahn als Entgleisung gilt, hängt mit den in der Vergangenheit üblichen Achsgleitlagern zusammen. Die meist nur lose in das Achslagergehäuse eingelegte Lagerschale kann beim Entlasten aus ihrer Solllage rutschen und dadurch funktionslos werden.
Die Definition des EBA entspricht der Festlegung der UIC, die mit dieser Definition ein Fahrzeug als „entgleistes Fahrzeug“ beschreibt. Denn in den Vorschriften der UIC (AVV „Allgemeiner Vertrag für die Verwendung von Güterwagen“ und RIC „Regolamento Internazionale delle Carrozze“), wird bei einem entgleisten Fahrzeug eine spezielle Untersuchung des betroffenen Rollmaterials gefordert.
Definition in der Schweiz
Die Schweizerische Bundesbahnen (SBB)[5] und die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST)[6] verwenden die folgende Definition: „Entgleisung ist das Anheben eines Radsatzes oder eines seiner Räder bis zum Auflauf der Spurkranzkuppen auf die Fahrfläche der Schienen bzw. die obere Begrenzung zusätzlicher Spurführungseinrichtungen mit nachfolgendem Verlassen der Schienen.“
Es wird unterschieden zwischen Aufsteigen und Aufklettern.
Beim Aufsteigen überrollt der Spurkranz ein Hindernis im Gleisbereich, das ihn auf die für eine Entgleisung notwendige Höhe anhebt. Dies sind typischerweise nicht fest an der Stockschiene anliegende Weichenzungen oder in Rillengleis eingeklemmte Fremdkörper.[7]
Beim Aufklettern ist die Reibungskraft zwischen Schiene und Spurkranz so groß, dass zwischen diesen Teilen ein Reibschluss entsteht. Dadurch wird das Rad bei der Rollbewegung nach oben gedrückt[6] bis die Spurkranzkuppe auf die Höhe der Lauffläche der Schiene angehoben wird und von den Spurführungskräften quer über diese hinweggeschoben wird, bis das Rad auf der anderen Seite der Schiene herunterfällt.
Gleichung nach Nadal
Die 1908 veröffentlichte Gleichung von François-Joseph Nadal, Oberingenieur der Chemins de fer de l’État, beschreibt die Kriterien, die ein Rad aufklettern lassen. Der Vorgang beginnt, sobald die vertikale Komponente der Reibungskraft zwischen Spurkranz und Schiene größer wird als die Aufstandskraft des Rades. Nach Nadal lässt sich der Entgleisungskoeffizient wie folgt berechnen:
wobei die Parameter wie folgt benutzt bestimmt sind:
- Spurführungskraft quer zur Gleisrichtung
- Radaufstandskraft senkrecht zur Schiene
- Spurkranzwinkel gemessen von der Horizontalen
- Reibungskoeffizient zwischen Spurkranz und Schiene
Ursachen
Fahrzeugbedingte Ursachen
Schienenfahrzeuge können entgleisen, wenn sie für die Fahrweggeometrie (Kurvenradius, Überhöhung, Weichenbauart usw.) eine zu hohe Geschwindigkeit haben. Des Weiteren können Fehler am Fahrzeug (zum Beispiel Rad- und Achsenfehler, Sollmaßabweichungen an den Spurkränzen, Achsbruch und Defekte an Drehgestellen) zur Entgleisung führen. Nicht ordnungsgemäße Ladungssicherung oder über die Maßen unsymmetrische Beladung können Güterwagen aus dem Gleis wuchten.
Bedienerbedingte Ursachen
Zur Entgleisung kann es kommen, wenn der Triebfahrzeugführer zum Beispiel Signale nicht beachtet, mit überhöhter Geschwindigkeit fährt oder in die falsche Richtung anfährt (vor oder zurück). Verbremst sich der Lokführer vor einem Gleisabschluss mit Prellbock, kann es auch zur Entgleisung kommen, wenn dabei das Gleisende überfahren wird. Beim Rangieren, im Ablaufbetrieb sowie beim Befahren enger Gleisbögen können Fahrzeuge überpuffern und dabei entgleisen. Hierbei schieben sich die Puffer zweier Fahrzeuge über- oder nebeneinander und hebeln die betroffenen Fahrzeuge aus dem Gleis.
Fehler der Bediener der Eisenbahninfrastruktur, etwa Fahrdienstleiter und Weichenwärter, können beispielsweise in folgenden Fällen zu Entgleisungen führen:
- Eine Weiche wird umgestellt, während ein Schienenfahrzeug darüber fährt. Der Vorgang wird „zweispurig fahren“ genannt.
- Vorschriftwidriges Verhalten bei Signalstörungen.
- Die Verständigung insbesondere beim Rangieren ist nicht eindeutig.
- Ein notwendiger Befehl wird nicht oder mehrdeutig gegeben.
- Die notwendigen Voraussetzungen für das Zulassen einer Zug- oder Rangierfahrt wurden nicht erfüllt.
- Unbeabsichtigtes Anheben des Fahrzeuges während des Be- und Entladens (z. B. dass beim Entladen durch einen verkanteten Container der Wagen mit angehoben wird) und Entgleisen desselben beim Absetzen.
- Überfahren eines Hemmschuhs, denn dabei »springt« das Rad über den Hemmschuh (Gilt auch dann, wenn das Fahrzeug danach wieder richtig auf dem Gleis steht). Hemmschuhe, die vor dem Bewegen von Fahrzeugen übersehen werden, führen, wenn sie vom Weichenende her in ein Herzstück geraten, sicher zur Entgleisung, weil sie im Herzstück verkanten und darüberlaufende Radsätze aus dem Gleis drücken.
- Verbremsen und Überfahren eines Gleisendes oder -abschlusses.
Durch Fehlbedienung von Fahrzeugen können technisch bedingte Entgleisungen gefördert werden. So sind oft starkes Beschleunigen bzw. Abbremsen auf schadhaften Gleisanlagen mit verantwortlich für eine Entgleisung. Das heißt, dass zuvor mehrere Züge ohne Probleme den Schaden überfahren konnten, erst die zusätzlichen – durch Beschleunigen/Bremsen ausgelösten – dynamischen Kräfte ermöglichten die Entgleisung.
Fahrwegbedingte Ursachen
Der störungsfreie Lauf von Schienenfahrzeugen wird von der ordnungsgemäßen Gleisgeometrie gewährleistet. Deswegen kann jede unzulässige Abweichung der Lage und des Zustandes der Gleise, Weichen inbegriffen, zur Entgleisung führen. Solche Abweichungen von der Sollgeometrie sind:
- Abgenutzte und defekte Schienen;
- Weiche ist nicht in Endlage (Weichenverschluss nicht verriegelt);
- Fremdkörper jeglicher Art, auch eisenbahnbezogene wie Puffer, im Regellichtraum;
- Personen oder Tiere im Gleis;
- temperaturbedingte Gleisverwerfungen;
- Spurweitenveränderungen über den Toleranzbereich hinaus;
- Gleisachsenveränderungen über den Toleranzbereich hinaus (z. B. durch Unterspülungen oder Erdbeben).
In der Regel nicht zu einer Entgleisung führt jedoch das Auffahren einer stumpf befahrenen Weiche, die sich in der falschen Lage befindet. Die Weichen sind für dieses Auffahren der Weichenzungen konstruiert, wobei aber nur eine Entgleisung der Fahrt, nicht immer aber eine Beschädigung der Zungen, Weichenverschlüsse und Übertragungsteile, vermieden werden kann. Bei zu großer Geschwindigkeit und auch wenn die betroffene Weiche mechanisch verriegelt ist, kommt es zu einer Entgleisung, weil die Zungen aufgrund der Verriegelung der Bewegung gar nicht bzw. wegen der Masseträgheit nicht schnell genug folgen können. Das Auffahren funktioniert konstruktionsbedingt bei Schnellfahrweichen und einigen anderen Weichentypen (z. B. mit beweglichem Herzstück) nicht, da falsch stehende Herzstücke prinzipbedingt und Antriebe für Schnellfahrweichen wegen zu großer Festhaltekraft nicht auffahrbar sind. Um Entgleisungen auf Weichen zu verhindern, wird beim Einstellen einer Fahrstraße im Stellwerk die Endlage überprüft und die Weiche gegen Umstellen gesichert.
An besonders gefährlichen Stellen im Schienennetz (etwa vor Eisenbahnbrücken) werden Führungsschienen als Entgleisungsschutz angebracht. Das sind zusätzliche innen-, bei Platzmangel im Gleis außenliegende Schienen, die entgleiste Radsätze führen und das vollständige Verlassen der Gleise erschweren.
Beabsichtigtes Entgleisen
Eine Entgleisung wird absichtlich herbeigeführt, in der Praxis aber tunlichst vermieden, um bei unbeabsichtigten Fahrzeugbewegungen weiteren Schaden abzuwenden. Das kann entweder in örtlichen Richtlinien für das Rangieren und das Fahren von Zügen festgelegt (denkbar in Gefällebahnhöfen) sein oder wird im Einzelfall je nach konkreter Situation entschieden. Bevorzugt werden Entscheidungen, in deren Folge dem unkontrolliert ablaufenden Fahrzeug die Bewegungsenergie weich, also allmählich, entzogen wird.
Entgleisungsvorrichtungen wie Sandweichen und Gleissperren gehören zu den Flankenschutzvorkehrungen. Sie erzwingen eine Umleitung oder gar Entgleisung von Fahrzeugen, die eine unzulässige Bewegung durchführen.
Die notwendige Entgleisung durch Anheben des Schienenfahrzeugs mittels Hubvorrichtung oder Krananlage für Instandhaltungs- oder Reparaturzwecke ist kein gefährliches Ereignis oder Störfall im Sinne der obigen Definitionen.
Folgen
Mitunter werden vorrangig im Güterverkehr Fahrzeuge mit entgleisten Achsen über viele Kilometer im Zuge mitgeführt, bevor die Entgleisung bemerkt wird. Hierdurch entstehen im Allgemeinen große Schäden an den Bahnanlagen (Fahrweg, Kabel etc.).
Durch eine Entgleisung wird das betreffende Schienenfahrzeug stark abgebremst. Dies führt meist dazu, dass das Fahrzeug vom vorderen Zuge abreißt, während die Fahrzeuge dahinter zusammen mit dem entgleisten Fahrzeug aufgrund der selbsttätigen Wirkung der Eisenbahnbremse durch Öffnung der Hauptluftleitung abgebremst werden. Der vordere Zugteil bremst im Regelfall durch die in Folge der Zugtrennung geöffnete Hauptluftleitung ebenfalls. Der kritischere Fall ist, wenn die Entgleisung unbemerkt bleibt und die Kupplung nicht reißt. Der Zug kann dann viele Kilometer weiterfahren, bis es z. B. durch ein Verklemmen in Weichenbereichen zum eigentlichen Unglück kommt, mit den entsprechend schweren Folgen für Passagiere und Sachwerte.
Wenn entgleiste Fahrzeuge oder verlorene Ladung ins Nebengleis ragen, kann es dort zu Folgeentgleisungen dort verkehrender Fahrzeuge kommen. Eine weitere Folgeerscheinung bei Entgleisungen auf elektrifizierten Strecken und Bahnhöfen ist die Beschädigung der Oberleitungsanlagen einschließlich der Oberleitungsmasten.
Zur raschen Erkennung von Entgleisungen können fahrzeugseitige Sensoren eingesetzt werden. Neu ist die Entwicklung von infrastrukturseitigen Überwachungseinrichtungen, bisher allerdings erst als Prototyp. In beiden Fällen kann das Ausmaß bei der Entgleisung vermindert werden, wenn sie rechtzeitig erkannt wird und sofortige Gegenmaßnahmen wirksam werden.
Selbst scheinbar harmlose Entgleisungen können zu strukturellen Schäden am Fahrzeug führen. Bei jeder Entgleisung muss man davon ausgehen, dass das Fahrzeug punktuell überbeansprucht wurde, zum Beispiel wenn eine Radscheibe schlagartig die gesamte Last der Wagenachse (oder noch mehr) aufnehmen muss. Zusätzlich erfolgt die Lastaufnahme oft nicht in dem Winkel, für den die Radscheibe zur Lastaufnahme ausgelegt ist. Dies kann dazu führen, dass nach der Entgleisung die beiden Radscheiben nicht mehr parallel zueinander stehen. Auch können sich die Federn verschieben, wodurch sie sich nicht mehr in der richtigen Lage befinden oder nicht mehr korrekt geführt sind. Deshalb dürfen selbst leicht entgleiste Fahrzeuge nicht wieder in Betrieb genommen werden, bevor eine Lauffähigkeitsuntersuchung durchgeführt wurde. Ohne eine solche ist ein Weiterbetrieb wieder aufgegleister Fahrzeuge (auch wenn nur eine Achse entgleist war) verboten.
Gleichermaßen ist der Zustand des Fahrwegs und gegebenenfalls der Oberleitungsanlage zu überprüfen und diese ggf. instand zu setzen.
Siehe auch
Weblinks
- Entgleisung. In: Victor von Röll (Hrsg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens. 2. Auflage. Band 4: Eilzüge–Fahrordnung. Urban & Schwarzenberg, Berlin/Wien 1913, S. 361 ff.
Einzelnachweise
- Jürgen Janicki: Systemwissen Eisenbahn. Berlin 2011. ISBN 978-3-9808002-6-6, S. 187.
- entgleisen. In: Duden. Abgerufen am 22. September 2019.
- EBA-Anweisung A 210000 Gefährliche Ereignisse im Eisenbahnbetrieb melden, untersuchen und berichten, gültig ab 1. Januar 2000 (Diese Anweisung ist auch Anhang 1 zur Vorschrift DS 123.0180 der Deutschen Bahn).
- EUB-Allgemeinverfügung zum Melden von gefährlichen Ereignissen im Eisenbahnbetrieb (Memento des Originals vom 5. März 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. , gültig ab 1. Januar 2010.
- Johannes Piringer, Johannes Stephanides: Beziehung - Rad und Schiene: Entgleisungen näher betrachtet. Was ist eine Entgleisung ?, S. 3 (schienenfahrzeugtagung.at [PDF]).
- Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle SUST (Hrsg.): Schlussbericht der Schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle SUST über die Entgleisung eines Eurocity-Zuges vom 22. März 2017 in Luzern (LU). 1.11.6 Definition Entgleisung, S. 40.
- Attila Miluczky: Die Gesetzmäßigkeiten des Fahrwerklaufs erprobter Multigelenk-Niederflurstadtbahnwagen. 3.2 Die Kriterien für eine Fahrzeugentgleisung, S. 100 (rwth-aachen.de [PDF]).