Die Moldau
Die Moldau (tschechisch Vltava) T 111, JB 1:112/2 ist der zweite Teil aus Mein Vaterland (Má vlast), einem Zyklus von sechs sinfonischen Dichtungen des tschechischen Komponisten Bedřich Smetana. Die Komposition zeichnet den Lauf des gleichnamigen Flusses nach und gehört zu den berühmtesten Werken der Programmmusik. Das Werk entstand 1874, als Smetana bereits vollständig ertaubt war und wurde am 4. April 1875 in Prag uraufgeführt. Die Spieldauer beträgt circa 12 Minuten.
Vorbemerkung
Bedřich Smetana beanspruchte völlig zu Recht, „der Schöpfer des tschechischen Stils im dramatischen und sinfonischen Bereich der Musik“ zu sein. Seine Landsleute hielten ihn hingegen für einen volksfeindlichen Gefolgsmann Wagners und Liszts. Anerkennung fand er zu Lebzeiten nur mit der Oper Die verkaufte Braut (Prodaná nevěsta) und dem sinfonischen Zyklus Mein Vaterland.[1]
Das 19. Jahrhundert war die Zeit der politischen Neuordnung nach den napoleonischen Kriegen, dem Siegeszug des Kapitalismus und der Industrialisierung. Vor allem aber waren es die Nationalbewegungen in Europa, die einen immensen Einfluss auf die Musikkultur ausübte und die Herausbildung „nationaler“ Musikstile zur Folge hatte. Als Quellen der nationalen Identifikation dienten hierbei speziell das Volkslied und der Volkstanz, welche die Kunstmusik um folkloristische und lokalkoloristische Elemente bereicherten. Häufig fanden auch episch-mythische Vorlagen sowie lyrische Naturschilderungen Eingang in die Kompositionen des 19. Jahrhunderts. Musik sollte nicht nur nach innen das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, sondern gleichzeitig eine nationale Identität nach außen demonstrieren. Infolgedessen standen öffentlichkeitswirksame Gattungen wie die Oper und die Sinfonie sowie die programmatisch aufgeladene sinfonische Dichtung im Zentrum des musikalischen Interesses.[2]
In dieser Zeit verläuft in Böhmen und Mähren die Periode der sogenannten Nationalen Wiedergeburt. Im Geiste der Romantik gibt Smetana mit seinem sinfonischen Zyklus Mein Vaterland dem keimenden Nationalgefühl der Tschechen im 19. Jahrhundert einen musikalischen Ausdruck. Dabei setzt er Naturbilder seiner Heimat in Töne, beschreibt die Prager Königsburg Vyšehrad, den Fluss Moldau, die Amazonenkönigin Šárka, die Hussitenstadt Tábor oder den Wallfahrtsberg Blaník. Die Moldau als populärster Teil des Zyklus ist mittlerweile fast zu einer Ersatz-Nationalhymne geworden.[3]
Vltava („Moldau“), die mit Abstand bekannteste sinfonische Dichtung aus dem Zyklus Má vlast, reiht rondoartig mehrere Episoden aneinander, deren Geschehnisse exakt durch Überschriften in der Partitur bezeichnet sind. So symbolisieren die Sechzehntelketten der Flöten und Klarinetten ganz zu Beginn „Die Quellen der Moldau“, die auch die folgende, von den Hörnern dominierte „Waldjagd“ begleiten. Ebenfalls an den Ufern des Flusses wird eine „Bauernhochzeit“ gefeiert, mit ihrem zündenden Polka-Rhythmus wohl die – neben der Ouvertüre zur Verkauften Braut – fesselndste Apotheose böhmischer Volksmusik aus Smetanas Feder. Ihr folgt ein geheimnisvoll glänzender „Nymphenreigen im Mondschein“, der wieder in das Moldau-Thema mündet. Doch eilt der Fluss jetzt unaufhaltsam einer dramatischen Gefahr entgegen: den heute nicht mehr existierenden, weil in einem Staudamm versenkten „St. Johann-Stromschnellen“ gut zwanzig Kilometer südlich von Prag. Das Hauptthema ist nur noch bizarren Bruchstücken zu entnehmen, schäumend und beängstigend drängen sich die Tonmassen zusammen, bevor sie endlich ins Freie stürzen. „Die Moldau strömt breit dahin“ heißt der letzte Abschnitt; sie zieht am Burgwall des Vyšehrad vorbei und sorgt derart auch musikthematisch für einen sinnvollen, zyklischen Abschluss dieser phänomenalen sinfonischen Dichtung.[1]
Smetanas Aussichtspunkt
Smetanas Aussichtspunkt bei Třebsín in der mittelböhmischen Gemeinde Krňany wurde nach dem Komponisten Bedřich Smetana benannt, der diesen Ort sehr liebte. Nach der Legende inspirierte ihn die Aussicht zum Komponieren der Vltava. Die beliebte Aussichtsplattform befindet sich über der Talsperre Štěchovice unter dem Hügel Kletecko (371 m ü. M.) und wurde 1974 anlässlich des 150. Geburtstags von Smetana gebaut. In diesem Teil der Moldau befanden sich die gefürchteten St. Johann-Stromschnellen, die seit den 1940er und 1950er Jahren jedoch nicht mehr existieren.[4]
Mein Vaterland (Gesamtform)
Der sinfonische Zyklus Má vlast entstand zwischen 1874 und 1879 und wurde als vollständiges Werk am 5. November 1882 in Prag uraufgeführt. Darin verarbeitet werden Mythen (Nr. 1 und 3), Landschaft (Nr. 2 und 4) sowie Geschichte (Nr. 5 und 6) der tschechischen Heimat Smetanas. Das Werk gliedert sich in sechs eigenständige Teile:
Nr. | Titel | Opus | Entstehungszeit | Erstveröffentlichung* | Tonart | Spieldauer |
---|---|---|---|---|---|---|
1. | Vyšehrad | T 110
JB 1:112/1 |
1872–1874 | Prag, 1880
Verlag: Urbánek |
Es-Dur | ca. 16' |
2. | Vltava [Die Moldau] | T 111
JB 1:112/2 |
1874 | Prag, 1880
Verlag: Urbánek |
e-Moll | ca. 12' |
3. | Šárka | T 113
JB 1:112/3 |
1875 | Prag, 1888
Verlag: Urbánek |
a-Moll | ca. 10' |
4. | Z českých luhů a hájů
[Aus Böhmens Hain und Flur] |
T 114
JB 1:112/4 |
1875 | Prag, 1881
Verlag: Urbánek |
g-Moll | ca. 13' |
5. | Tábor | T 120
JB 1:112/5 |
1878 | Prag, 1892
Verlag: Urbánek |
d-Moll | ca. 12' |
6. | Blaník | T 121
JB 1:112/6 |
1879 | Prag, 1894
Verlag: Urbánek |
d-Moll | ca. 15' |
*Alle sechs Teile wurden zum ersten Mal im Verlag Urbánek veröffentlicht, kamen jedoch 1879–1880 zunächst als Bearbeitungen für Klavier vierhändig heraus.
Má vlast geht von Liszt aus und zugleich über ihn hinaus. Kritiker meinten, Smetana habe den Meister „überliszten“ wollen. Während dessen sinfonische Dichtungen literarische Stoffe in Musik verwandeln, stellt Smetana die musikalische über die erzählerische Logik. Zwar sind auch bei ihm deskriptive Elemente wesentlich – denn was wäre Programmmusik ohne Programm? –, doch finden sich neben Schilderungen konkreter außermusikalischer Vorgänge viele allgemein gehaltene Beschwörungen mythischer Figuren, historischer Orte und böhmischer Landschaften.[1]
Die Aufführung des vollständigen Zyklus Má vlast bildet (im Anschluss an die tschechische Nationalhymne Kde domov můj) traditionell jedes Jahr am 12. Mai, dem Todestag des Komponisten, die Eröffnung des musikalischen Prager Frühlings.
Entstehung und Wirkung
Zur Entstehungsgeschichte von Vltava gibt es nur spärliche Dokumente. Offensichtlich ist jedoch der zeitliche Zusammenhang von Vyšehrad und Vltava mit der am 12. November 1872 fertiggestellten Oper Libuše (Libussa). Am 7. November 1872 veröffentlichte die Zeitschrift Hudební listy folgende Notiz: „Nach dem der Komponist Bedřich Smetana die große patriotische Oper Libuše vollständig beendet hat […], beabsichtigt er jetzt, die größeren Orchesterkompositionen Vyšehrad und Vltava in Angriff zu nehmen.“ In der Folgezeit konnte man in der Presse zwar noch von anderen Titeln lesen und anderen angeblichen Vorhaben Smetanas, sinfonische Dichtungen zu komponieren, doch hat sich der Komponist in Wirklichkeit mit keinem dieser ihm angedichteten Projekte beschäftigt, und so handelt es sich zweifelsohne um das Werkpaar Vyšehrad und Vltava, das den Beginn des geplanten Zyklus darstellte. Die stoffliche Verwandtschaft zwischen Vyšehrad (Name der Prager Burg über der Moldau), und der Oper Libuše, deren Handlung sich ebenfalls in Prag abspielt, ist dabei nicht zu übersehen. In beiden Fällen erscheint der Vyšehrad als ein Symbol mythischer Vorzeit. Eine ähnliche symbolische Bedeutung hatte auch die durch die Hauptstadt des böhmischen Königreiches fließende Moldau: Sie galt als mythischer Zeuge uralter Geschichten, als die sie seit der berühmten Handschriftenfälschung der Grünberger Handschrift zu Anfang des 19. Jahrhunderts immer wieder apostrophiert wurde. Im nationalen Bewusstsein des 19. Jahrhunderts verkörperte die Moldau aber nicht nur die böhmische Landschaft, sie stand ebenso für die Kontinuität der nationalen tschechischen Geschichte. Das kam auch in verschiedensten Werken der Bildenden Kunst zum Ausdruck, von denen sich Smetana möglicherweise schöpferisch anregen ließ, zumal sich der Komponist auch selbst zeichnerisch betätigte. Und in der Musik war die Moldau ebenfalls vertreten. Zu nennen wäre hier insbesondere die romantische Oper Svatojánské proudy [Die St. Johann-Stromschnellen] von Josef Richard Rozkošný, die in der Moldau-Gegend spielt und worin der Fluss personifiziert als Nixe Vltavka auftritt. Manche der Handlungsorte und Situationen dieser Oper sind in ähnlicher Weise wiederzufinden in Smetanas Vltava, der Rozkošnýs Oper kannte: Wald und Jagd, ländliche Hochzeit, die St. Johann-Stromschnellen, Mondnacht über dem Fluss, tanzende Nixen und das Schloss. Von einem direkten musikalisch kompositorischen Einfluss der Oper Rozkošnýs auf Smetanas Werk kann dabei allerdings keine Rede sein.
Eine weitere Inspirationsquelle Smetanas bildeten seine persönlichen Naturerlebnisse und -eindrücke. Wie Beethoven nimmt er diese oft persönlich auf und nutzt sie als unmittelbare Anregung für seine Kompositionen. Den Erinnerungen des Dirigenten Mořic Anger zufolge ging ein erster Impuls zur Komposition der Vltava von einem Ausflug zum Zusammenfluss der Křemelná mit der Vydra bei Čeňkova pila am Hirschenstein aus, den Smetana am 28. August 1867 unternahm. Außerdem besuchte er in den Jahren 1868 und 1872 eine der Moldau-Quellen bei Kvilda im Böhmerwald sowie am 14. August 1870 die (heutzutage nicht mehr existierenden) St. Johann-Stromschnellen. Dazu vermerkte er in seinem Tagebuch:
„Heute habe ich einen Ausflug zu den Sankt-Johann Stromschnellen unternommen. Da haben wir Mittag gegessen und sind durch die Wälder bis zum Sankt Johann Tor und danach sind wir mit einem Boot den Strom herab. Hohes Wasser, der Anblick der Landschaft herrlich und großartig.“[5]
Es ist nicht belegt, wann genau Smetana mit der Arbeit an der Vltava begann. Da lange Zeit keine Skizzen zu diesem Werk bekannt waren, folgerte man daraus irrtümlicherweise, Smetana habe die Partitur ohne vorherige Skizzierung niedergeschrieben. Im Jahre 1983 jedoch wurde in Smetanas Nachlass ein Notenblatt aufgefunden, das neben Skizzen zu Vyšehrad, Šárka und Aus Böhmens Hain und Flur auch fünf Entwürfe zur Vltava enthält. Schon der erste davon zeigt die polyphone Verknüpfung von zwei eigenständigen kompositorischen Schichten, nämlich der Schicht des Wellenmotivs und derjenigen des späteren Hauptthemas. Höchstwahrscheinlich umfasste Smetanas Skizzenarbeit zur Vltava sogar mehr als nur diese fünf Entwürfe. Für diese Annahme spricht die schnelle Vollendung der Komposition. Die Partitur entstand zwischen dem 19. November und dem 8. Dezember 1874, zu einer Zeit, als der Komponist bereits völlig ertaubt war. Noch vor dem Kompositionsabschluss des ganzen Zyklus ließ Smetana die bereits vollendeten sinfonischen Dichtungen einzeln aufführen: Vltava erklang zum ersten Mal in einem vom Orchester der Tschechischen Oper zu Ehren Smetanas veranstalteten Konzert am 4. April 1875 im Prager Sophiensaal unter der Leitung von Adolf Čech. Obwohl sie bei der Uraufführung nicht wiederholt wurde (wie es vorher bei Vyšehrad und später bei Aus Böhmens Hain und Flur der Fall gewesen war), begleitete sie von Anfang an ein außergewöhnlicher Erfolg:
„Unserer ,silberhellen' Vltava konnte eine begeistertere Feier nicht zuteil werden, als durch Smetanas symphonische Dichtung. [ ...] Man braucht sich nicht zu wundern, dass diese Komposition mit ihrem duftigen, blumigen Kolorit und ihrem hinreißenden Strom das Publikum in höchstem Maße entzückt hat. Die Hervorrufe des Komponisten wollten fast kein Ende nehmen.''[6]
Im Bewusstsein der Einmaligkeit seines Werkes und im Interesse von dessen Verbreitung strebte der ansonsten nicht gerade praktisch veranlagte Komponist die Drucklegung der Vltava an. Während seiner Reise zu Spezialisten für Ohrenkrankheiten nach Wien und Würzburg im April 1875 bot er die Partituren der drei ersten sinfonischen Dichtungen dem Musikverlag B. Schott 's Söhne in Mainz zum Druck an – allerdings vergeblich. Ähnlich negativ verliefen die Verhandlungen mit der Berliner Firma Bote & Bock im Jahre 1878, obwohl der Komponist sich bereit erklärt hatte, einen für ihn eigentlich unwürdigen Kompromiss einzugehen: „Ich verlange kein Honorar, bis auf einige Freiexemplare.“ Erst nachdem der Prager Buchverleger František Augustin Urbánek damit anfing Musikalien zu publizieren, kam es zur Veröffentlichung des gesamten Zyklus Mein Vaterland. Zwischen Dezember 1879 und Juni 1880 erschienen zunächst leichter verkäufliche Bearbeitungen für Klavier zu vier Händen, bevor ab 1880 die sechs Werke dann auch in gedruckten Partituren und mit gedrucktem Stimmenmaterial publiziert wurden. Bald nach dem Erscheinen des Drucks sandte Smetana je ein Exemplar des Vysehrad und der Vltava an Franz Liszt
„Die beiden ersten Nummern habe ich nun mir erlaubt, Ihnen, mein Meister, zu senden in Partitur und 4händigem Klavierauszug. Alle sechs sind zu wiederholten Malen hier in Prag und zwar mit außergewöhnlichem Erfolge aufgeführt worden, sonst bloß in Chemnitz die ersten zwei. In Folge des großen Erfolges hat der hiesige Verleger Urbánek den Aufwand der Herausgabe riskirt.“[6]
Smetana selbst hatte im Vertrag mit Urbánek vom 14. Mail 1879 ein sehr niedriges Honorar vorgeschlagen: je Komposition 40 Gulden für Partitur und Stimmen und 30 Gulden für den Klavierauszug zu vier Händen, insgesamt also 420 Gulden für den gesamten Zyklus, dessen Vervollständigung im Druck er nicht mehr erlebte. Zu seinen Lebzeiten erschien nach dem Vyšehrad und der Vltava nur noch die Ausgabe von Aus Böhmens Hain und Flur (1881).
Smetana gehörte nicht zu denjenigen Komponisten, die der Öffentlichkeit zu ihren Werken inhaltliche Deutungen und literarische Kommentare lieferten. In einer Zeit weit verbreiteter Vermittlung von Musik durch das geschriebene Wort erwartete man jedoch, zumal bei einer sinfonischen Dichtung, dass der Autor dem Publikum den „Inhalt“ seiner Musik in Worten mitteilte. Smetana verhielt sich diesem Verlangen gegenüber etwas zurückhaltend: Seiner Ansicht nach war für die grundlegende Orientierung und Einstimmung des Hörers der Werktitel allein schon ausreichend. Smetana baute in erster Linie auf die Beredsamkeit und Autarkie seiner Musik und meinte, dass „jedem Hörer erlaubt [sei], alles andere seiner Phantasie zu überlassen und nach seinem Geschmack hinzuzudichten, was immer er will.“ Außerdem fühlte sich Smetana wahrscheinlich auch gar nicht genügend literarisch qualifiziert, um selbst Programme zu seinen sinfonischen Dichtungen für die Öffentlichkeit zu verfassen. Er verließ sich dabei vielmehr auf wortgewandte Journalisten, die das, wenn gewünscht, nach seinen Angaben und Intentionen zu besorgen hatten. So können die in der Presse vor der Uraufführung 1875 und im Erstdruck 1880 zur Vltava erschienenen Erläuterungen, obwohl sie nicht aus der Feder Smetanas stammten, in gewisser Hinsicht als autorisiert angesehen werden. Die trefflichsten Deutungen des Werkes aber hat Smetana selbst mit Überschriften zu einigen Abschnitten in der Partitur gegeben (im ganzen Zyklus enthält nur die Vltava derartige Überschriften). Sie lauten in der Reihenfolge ihrer Eintragung (in Tschechisch): „Die erste Quelle der Moldau“, „Die zweite Quelle der Moldau“, „Wälder – Jagd“, „Ländliche Hochzeit“, „Mondschein – Nymphenreigen“, „St. Johann-Stromschnellen“, „Der breite Strom der Moldau“ und „Vyšehrad-Motiv“. Diese Eintragungen werden durch eine Inhaltsangabe mit dem Titel Kurzer Entwurf des Inhalts der sinf. Dichtungen ergänzt, die Smetana als Vorlage zur weiteren literarischen Ausarbeitung schrieb – und die schließlich der Prager Journalist Václav Vladimír Zelený übernahm – und dem Verleger Urbánek im Mai 1879 zuschickte:
„II. Moldau. Die Komposition schildert den Lauf der Moldau, beginnend von den beiden ersten Quellen, der kalten und der warmen Moldau, die Vereinigung der beiden Bächlein in einer einzigen Flut; dann den Lauf der Moldau in Wäldern und Fluren, durch Landschaften, wo eben fröhliche Feste gefeiert werden; beim nächtlichen Mondschein der Nymphenreigen; auf nahen Felsen ragen stolz Burgen, Schlösser und Ruinen empor; die Moldau wirbelt in den St. Johann-Stromschnellen; sie strömt im breiten Fluss weiter nach Prag, Vyšehrad erscheint, schließlich verschwindet sie in der Ferne in ihrem majestätischen Lauf in der Elbe.“[6]
Musikalischer Aufbau und Inhalt (Analyse)
Während andere Werke des Zyklus Má vlast sich einer eindeutigen formalen Klassifizierung mehr oder weniger widersetzen, ist in der Vltava, ungeachtet aller kompositorischen Originalität, ein Formschema deutlich erkennbar. Sie ist als freies Rondo aufgebaut, das der elementaren Beziehung von Musik und Programm entspricht: der wiederkehrende Grundcharakter des Flusses (Hauptthema) verändert sich mit den einzelnen Situationen und mit den seinen Lauf begleitenden Bildern zu verschiedenartigen Episoden einer Rondoform. Das Hauptthema der Vltava, in seinem melodischen Auf- und Abwärtsfließen ein musikalisches Abbild der Wellenbewegungen der Moldau, komponierte Smetana in Anlehnung an einen melodischen Archetypus, der schon im Mittelalter in verschiedenen europäischen Musikkulturen vorkam und dessen Varianten auch im tschechischen Volksliedgut bekannt sind. Einem späteren Zeugnis zufolge soll Smetana gesagt haben, er habe diese Weise gewählt, „weil alle Völker sie besitzen und sie allen verständlich ist.“
Im Rahmen der Vltava erklingt das mehrteilige Hauptthema – im Sinne eines Leitmotivs – insgesamt dreimal: zunächst in den Takten 40 bis 80, dann in den Takten 239–271 und zum dritten Mal, jetzt von e-Moll nach E-Dur gewendet, in den Takten 333–359 (siehe Anmerkungen zum Hauptthema). Es alterniert mit charakteristischen „Zwischensätzen“: einer fanfarenartigen Jagd-Episode, einem ländlichen Polka-Intermezzo, einem poetischen Nocturne, in welches im weiteren Verlauf archaisierende Fanfaren eintreten, sowie einer dramatischen Stromschnellen-Passage und schließlich mit einer gewichtigen Coda, die ihrerseits das Hauptthema aus Vyšehrad zitiert.
Abschnitt (nach Smetana) | Taktart | Tempoangabe | Tonart | Form | Umfang |
---|---|---|---|---|---|
1. Die beiden Quellen der Moldau | 6/8 | Allegro commodo non agitato | e-Moll | T. 1–35 | 35 Takte |
2. Moldau (Hauptthema) | 6/8 | e-Moll | T. 36–80 | 45 [70*] | |
3. Waldjagd | 6/8 | schweifend | T. 80–118 | 39 | |
4. Bauernhochzeit | 2/4 | L’istesso tempo, ma moderato | G-Dur | T. 118–177 | 60 |
5. Mondschein; Nymphenreigen | 4/4 | L’istesso tempo | As-Dur | T. 177–238 | 62 |
6. Moldau (Reprise) | 6/8 | Tempo I | e-Moll | T. 239–271 | 33 |
7. St. Johann-Stromschnellen | 6/8 | schweifend | T. 271–332 | 62 | |
8. Die Moldau strömt breit dahin | 6/8 | Più moto | E-Dur | T. 333–359 | 27 |
9. Coda mit „Vyšehrad-Motiv“ und „Entschwinden in der Ferne“ | 6/8 | E-Dur | T. 359–427 | 70 |
Die der Moldau zugrunde liegende „poetische Idee“ ist nicht der konkrete, an verschiedenen Episoden festgemachte Flussverlauf, sondern – abstrakter verfasst – die Idee des „Fließens“ per se. Dabei bedient sich Smetana einer Vielzahl an musikalisch-tonmalerischen Motiven, die das Plätschern, Fließen, Strömen und Wogen akustisch (und in der Notation auch graphisch) versinnbildlichen. Jeder Abschnitt, obwohl von durchaus kontrastierendem Inhalt, ist auf seine Weise von Wellenmotiven geprägt – zum Teil neu erfunden, teilweise mit dem Vorhergehenden verwandt oder sogar daraus übernommen. Damit schafft Smetana eine neue Art der musikalischen Vereinheitlichung, die weniger auf thematischer Verarbeitung beruht, als vielmehr auf der stetigen Variation einer nicht-musikalischen, akustisch jedoch gut darstellbaren Idee. Der Vielseitigkeit der kleinen Motive entspricht eine Vieldeutigkeit der musikalischen Form. Die charakteristisch-episodenhafte Gestaltung der einzelnen Formteile findet ihr Gegengewicht im gezielten Bemühen, auf der übergreifenden Ebene der Gesamtanlage einen schlüssigen Zusammenhang zu stiften. Bezeichnenderweise „fließen“ dabei mehrere tradierte Formschemata ineinander: 1.) Die Moldau als lose gefügte Rondoform, in der das Moldau-Thema mehrfach wiederkehrt und dabei für einen greifbaren Wiedererkennungseffekt sorgt (siehe Tabelle), oder aber 2.) als erweiterte dreiteilige Liedform (1. Teil: Nr. 2+3 / 2. Teil: Nr. 4+5 / 3. Teil: Nr. 6+7) mit vorausgehender Einleitung (Nr. 1) und abschließender Coda (Nr. 8+9).
Tatsächlich beruht der Erfolg der Moldau aber nicht auf der fasslichen formalen Anlage; diese bietet – ganz im Sinne der sinfonischen Dichtung – lediglich die unauffällige Grundlage für die Entfaltung der poetischen Idee. Und so ist es wohl vorrangig die eingängige motivisch-thematische Gestaltung der einzelnen Formteile (Episoden), die das Werk gleich beim ersten Hören überaus attraktiv macht und ebenso nachhaltig in Erinnerung bleibt.[7]
2. Moldau (Hauptthema)
Das mehrteilige Moldau-Thema in e-Moll setzt nach einer 4-taktigen Einleitung in T. 40 ein. Die Melodie erklingt dabei in den 1. Violinen, gepaart mit der 1. Oboe sowie ab T. 56 auch mit den beiden Flöten, eine darunter liegende Zweitstimme in Terzen und Sexten in der 2. Oboe sowie oktavierend (8vb) im 1. Fagott. In den 2. Violinen, Bratschen und geteilten Violoncelli finden sich wellenartige Begleitfiguren, welche Smetana mit den Vortragsbezeichnungen lusingando (schmeichelnd, gefällig, gleitend, zart, spielerisch) sowie sempre ondeggiante (immer wogend, schwellend) charakterisiert. Die Basslinie besteht aus einer Kombination des 2. Fagotts mit den gezupften Kontrabässen (und stellenweise auch mit der Harfe), diverse Begleitelemente erscheinen in den Klarinetten und Hörnern. Im weiteren Verlauf des Hauptthemas setzt Smetana dann, abgesehen von der Harfe, auch noch punktuell ein Triangel sowie die Pauken ein, was den für die Orchestermusik der Romantik typischen „Mischklang“ ergänzt bzw. komplettiert.
Das insgesamt 66 Takte umfassende Hauptthema der Moldau konstituiert sich als „klassisches dreiteiliges Lied“ (nach Ratz) mit der Gliederung in A A / B A' B A'. Formal zweiteilig, gliedert es sich inhaltlich hingegen in drei Teile: ein 8-taktiges Grundthema A mit ausgeschriebener Wiederholung, einen Mittelteil B (17 Takte) mit integrierter Rückleitung zur variierten Reprise A' (8 Takte), welche ihrerseits ebenfalls wiederholt werden. Der A-Teil ist in sich zweiteilig (8 in 4+4 Takte) und beginnt mit einem Auftakt. Melodisch handelt es sich dabei um eine stufenweise Auf- bzw. Abwärtsbewegung im Rahmen der e-Moll-Tonleiter (vom Grundton e2 bis zur Sexte c3 und wieder zurück). Smetana charakterisiert diese etwas wehmütige Melodie mit dolce („süß“, sanft, zart, lieblich) und bereichert den Themenbeginn jeweils durch einen mit alla campanella (glockenartig) bezeichneten Triangel-Schlag.
Der B-Teil besteht aus Varianten des Grundthemas: einem 4-taktigen Modell in der Paralleltonart G-Dur (beginnend mit der IV. Stufe, C-Dur), welches die Melodie nun zur Septime d3 erweitert, seiner Sequenz in e-Moll (beginnend mit a-Moll) sowie einem Verweilen auf der Dominante mit integrierter Rückleitung (9 in 2 + 2 + 1 + 1 + 3 Takte).
Die Reprise A' (8 Takte) ist insbesondere harmonisch variiert: Smetana beginnt hier – erfrischend – in der Varianttonart E-Dur und reharmonisiert in der Folge ebenfalls die absteigende Melodielinie: Die Takte 75–76 kadenzieren dabei in der Paralleltonart G-Dur, die Takte 77–78 in der Mediante C-Dur (in T. 77 erscheint sogar der Neapolitaner!) und die Takte 80–81 führen schließlich zur Tonika e-Moll zurück.
In der Literatur wird oft die Nähe des Moldau-Themas zu bekannten Volksliedern hervorgehoben: La Mantovana, ein populäres italienisches Renaissance-Lied von Giuseppe Cenci, Ack Värmeland, du sköna, ein schwedisches Volkslied, welches Smetana möglicherweise von seinem Göteborg-Aufenthalt vertraut war, die heutige israelische Nationalhymne Hatik'vah oder auch das Kinderlied Alle meine Entchen (allerdings in Dur) haben tatsächlich einen ganz ähnlichen Melodieverlauf. Smetana selbst war an der Übernahme eines konkreten Vorbildes jedoch nicht gelegen, vielmehr verwies er auf die "Allgemeingültigkeit" dieser Melodie, die "vielen Völkern eigen" sei.[7]
6. Moldau (Reprise)
Bei der Rekapitulation des Moldau-Themas in den Takten 239–271 verzichtet Smetana auf beide Wiederholungen und reduziert das ansonsten wörtlich wiederkehrende Thema dadurch auf 33 (anstelle der ursprünglichen 66) Takte. Der sechste, vom Komponisten nicht-überschriebene Abschnitt hat somit die dreiteilige Gliederung in A B A' (33 in 8+17+8 Takte) und wird – wie bereits das ursprüngliche Hauptthema (Nr. 2) – in T. 271 direkt mit der nachfolgenden Episode verschränkt.
Obwohl Smetana das Hauptthema lediglich im 2., 6. und 8. Abschnitt als vollständiges, in sich geschlossenes Thema erklingen lässt, erscheinen im Rahmen der „St. Johann-Stromschnellen“ (Nr. 7) – als einziger(!) Episode – verschiedene Varianten sowie motivische Fragmente des Moldau-Themas; diesmal jedoch versteckt in den unteren Schichten der musikalischen Textur (z. B. in T. 273–278, T. 281–294 oder T. 297–310 usw.) sowie durchführungsartig verarbeitet. (siehe Anmerkungen zu den einzelnen Episoden)
8. Die Moldau strömt breit dahin
In den Takten 333–359 erklingt das Hauptthema zum letzten Mal; diesmal jedoch – im Sinne der Überschrift „Die Moldau strömt breit dahin“ bzw. „Der breite Strom der Moldau“ – in der Varianttonart E-Dur, in gesteigertem Tempo (Più moto) sowie formal und harmonisch umgestaltet: Smetana verkürzt das Thema hier auf insgesamt 27 (in 19+9) Takte und lässt die beiden Teile ineinander übergreifen (Verschränkung). Die Takte 333–351 konstituieren sich quasi als „geraffte“ Version des Hauptthemas (19 in 6 [4+2] + 13 [4+4+5] Takte). Den ursprünglichen Tonumfang der Melodie (h1 bis d3) behält Smetana bei, bereichert aber den Melodieverlauf (vgl. T. 44–47) sowie die Harmonisierung in T. 342 bzw. T. 346 mit den Einsatz des verminderten Septakkord (als Ellipse), wodurch die gesamte Passage spürbar an Dramatik und Intensität gewinnt und sozusagen den „Weg der Moldau nach Prag“ symbolisiert. Die Weiterführung des modifizierten Themas (T. 351–359) besteht aus zwei kadenzierenden Phrasen (9 in 4+5 Takte) und mündet nach einem sukzessiven Crescendo schließlich mit heroischen Trompetenfanfaren ins patriotisch-motivierte Vyšehrad-Zitat, dem „ideellen Höhepunkt“ des Werks.
1. Die beiden Quellen der Moldau
Die Komposition Vltava eröffnet mit einem Sechzehntel-Motiv im wiegenden 6/8-Takt in e-Moll, das der außermusikalischen Idee vom „Plätschern im Gestein“ bzw. vom „Glitzern in der Sonne“ akustisch entspricht. „Die erste Quelle der Moldau“ – möglicherweise die Kalte Moldau(?) – stellt Smetana mit den beiden sich abwechselnden und klanglich hellen Flöten dar. Die quirligen Tonleiterpassagen (lusingando) werden von Flageoletts der Harfe und sich rhythmisch sukzessive verdichtenden Pizzicati der Violinen begleitet. Für „Die zweite Quelle der Moldau“ (T. 16) setzt Smetana dann die klanglich dunkleren Klarinetten ein und führt diese mehrheitlich in Gegenbewegung zu den Flöten. Die Takte 24–35 verweilen weitgehend auf der Dominante von e-Moll: Ein Orgelpunkt in den Bratschen, der im weiteren Verlauf trillerartig belebt wird, mündet in T. 36 direkt in den neuen Abschnitt (Nr. 2). Die sprudelnden Wellenbewegungen der Holzbläser werden fortan von den tieferen Streichern übernommen und wechselt dabei quasi unmerklich von der Haupt- in die Nebenrolle (Begleitung). Nach einem kurzen Vorspiel setzt in T. 40 schließlich erstmals das berühmte Moldau-Thema ein. Diese erste Episode „Die beiden Quellen der Moldau“ umfasst insgesamt 35 Takte und fungiert im Rahmen der Gesamtform als Einleitung.
3. Waldjagd
Die dritte Episode mit der originalen Überschrift „Wälder – Jagd“ (39 in 22+16 Takte) beginnt völlig unvermittelt in T. 80. Smetana verschränkt hier das Moldau-Thema nach einem Trugschluss direkt mit dem nächsten Abschnitt und erzielt dabei einen scharfen Kontrast, der sich zugleich auf mehreren Ebenen offenbart: exemplarisch sei hier auf die Harmonik (Wechsel des Tongeschlechts: Dur statt Moll), die Melodik (Dreiklangs- anstelle von Stufenmelodik), die Rhythmik (punktierte Notenwerte als neues Element), die Artikulation (marcato bzw. staccato anstelle von tenuto bzw. legato), Dynamik (Forte statt Piano), die Instrumentation (neue Klangfarbe durch den Einsatz des Orchestertuttis mit Blechbläsern und Pauken) sowie auf den Charakter bzw. Stil (schmetternde Jagd-Signale in den Hörnern und Trompeten) hingewiesen. Trotz motivischer Kontinuität (und einer Weiterentwicklung in größere Wellenbewegungen) erhält diese Passage aufgrund der nun großflächigeren Harmonik bzw. Phrasenbildung (T. 80–87 C-Dur, T. 88–93 G7, T. 94–97 F-Dur, T. 98–101 Bm7b5/D Sixte-ajoutée-Akkord, T. 102–117 E-Dur) ihre eigene Prägung. Im weiteren Verlauf wandelt Smetana die Jagd(horn)-Fanfaren unterschiedlich ab und bedient sich dabei u. a. auch komplementärer Rhythmen (z. B. T. 94–101). Die Takte 102–118 fungieren dagegen als Überleitung: Nach einer Reminiszenz ans Kopfmotiv des Moldau-Themas in den Oboen (T. 103/104) beruhigt sich das musikalische Geschehen spürbar und mündet nach einem sukzessiven Diminuendo (vom ff ins ppp) mit auskomponiertem Ritardando (6:4:3:2) in den nachfolgenden Abschnitt.
4. Bauernhochzeit
In der vierten mit „Ländliche Hochzeit“ überschriebenen Episode verlässt Smetana nun vorübergehend die Welt des Naturhaften, stattdessen führt eine volkstümliche Polka mit lieblicher Terzmelodik und regelmäßigen Viertakt-Gruppen in die menschliche Welt von Tanz und Lebensfreude – hier ertönt böhmische Folklore in Reinkultur! Der musikalische Szenenwechsel vollzieht sich in T. 118 mittels „Überblendung“ (Fade-out → Fade-in), wobei v. a. der Wechsel der Taktart vom ternären 6/8-Takt zum binären 2/4-Takt bei gleichbleibendem Zeitmaß (L'istesso tempo) wesentlich ist. Nachdem das Polka-Thema in der Paralleltonart G-Dur zweimal vorgestellt wurde, kommt es in T. 138 zu einem lebenssprühenden Ausbruch des vollen Orchesters mit tänzerischen Wechselschlägen zwischen Triangel und Pauken. Auch die Streichinstrumente spielen eine große Rolle. Hier stellt Smetana mit den Mitteln des Orchesters offensichtlich eine Art „Dorfmusik-Kapelle“ dar.
Ein Bezug zum Fließen der Moldau ist im Abschnitt Nr. 4 nur sehr indirekt herzustellen – und doch erscheinen auch die Zweierbindungen der Polka-Melodie als kleingliedrig-verspielte Abwandlung der allgegenwärtigen Plätscherfiguren. Geradezu filmisch blendet Smetana auch diese Szene aus: Zelenýs schreibt in seinem Programm, dass bei der Feier allmählich nächtliche Ruhe eintritt, doch lässt das kontinuierliche Abflauen der Polka eher vermuten, dass der Fluss (und der Hörer als unsichtbarer, mit dem Fluss treibender Beobachter) allmählich an der fröhlichen Szene vorbeiströmt und die Klänge dabei immer leiser werden (sempre dim.), bis sie schließlich vollends verebben.[7]
5. Mondschein – Nymphenreigen
Bei der fünften mit „Mondschein – Nymphenreigen“ überschriebenen Episode handelt es sich um ein zauberhaftes Nocturne in der entlegenen Tonart As-Dur. Sie liegt ziemlich genau in der Mitte der Komposition und bildet darüber hinaus sozusagen ihren „inneren Höhepunkt“. Ein enger Freund Smetanas hat diese romantische Szene mit folgenden Worten trefflich beschrieben:
„Die Nacht senkt sich zur Erde, der Hochzeitsjubel verstummt, geheimnisvolle Stille liegt über dem Land. Bei fahlem Mondenschein beleben nun Nixen und Nymphen die Ufer und schwingen über den silberglänzenden Wellen ihren Reigen, während als Zeugen vergangener Herrlichkeit ernst und stumm Burgen und Schlösser auf den Hängen ragen – Mahnmale vergangener Größe und Glorie.“[8]
Gleichsam einem Mondaufgang baut sich in den Takten 177–184 über dem Grundton der Episode Nr. 4 ein verminderter Dreiklang in den Holzbläsern auf, welchen Smetana nachträglich zum Es7 erweitert und damit überraschend nach As-Dur moduliert. Mit dem Einsatz der gedämpften Streicher (con sordini) in T. 185 hat der Mond seinen Zenit erreicht. Nun hebt ein nächtliches Plätschern (in den Flöten und Klarinetten) an, leise untermalt von apollinischen Harfenarpeggien und zarten Klängen der Hörner – darüber entspinnt sich der unirdisch langsame Reigen der Nymphen, eine ruhige, onirische und mit dolcissimo (sehr süß) bezeichnete Melodie von unendlicher Weite. Das Thema erinnert seinerseits stark an die Introduktion der 25 Jahre zuvor komponierten Ouvertüre Die lustigen Weiber von Windsor von Otto Nicolai, welche Smetana aufgrund seiner Tätigkeit als Theaterkapellmeister wohl gekannt haben dürfte.
Auch die vom Komponisten mit tranquillamente (ruhig) bezeichnete und durchwegs im p, pp bzw. ppp gehaltene nächtliche Flussszene ist geprägt von den allgegenwärtigen Motiven des Fließens: Beim leisen Plätschern der Flöten ab T. 185 handelt es sich um eine Variante des anfänglichen lusingando-Rieseln der Moldauquelle (vgl. Nr. 1), die Klarinetten nehmen dagegen die gebrochenen Akkorde aus der Jagd-Episode (Nr. 3) in diminuierter Form auf. Die polyrhythmische Kombination dieser beiden Schichten (Sechzehntel gegen Triolen, 4:3) führt dazu, dass die Begleitung sozusagen verschwimmt.
Der zentrale Abschnitt „Mondschein – Nymphenreigen“ im gemächlichen 4/4-Takt besteht aus mehreren, ineinander übergreifenden Formteilen: Nach einer akkordischen Einleitung in langen Notenwerten (T. 177–186) erklingt in den Takten 187–194 das poetische Thema (8 in 4+4 Takte) in der „entrückten“ Tonart der enharmonisch verwechselten Obermediante As-Dur. Dessen angegangene Wiederholung moduliert überraschend in die Untermediante c-Moll und mündet in T. 205 in einen thematisch verwandten Mittelteil, ehe Smetana im weiteren Verlauf wieder nach As-Dur zurückkehrt und in T. 213 archaisierende Fanfaren der Hörner, Posaunen und Tuba eintreten. Diese langgezogene und von harmonischer Ambivalenz geprägte Passage pendelt ständig zwischen Dur und Moll und entpuppt sich in der Folge immer deutlicher als Überleitung bzw. Rückleitung zum nächsten Abschnitt; spätestens ab T. 229, wo Smetana die musikalische Textur noch durch pompöse Trompetensignale auf der Quinte von E-Dur (statt e-Moll) anreichert und die Lautstärke sukzessive anwachsen lässt, wird der Eintritt der Reprise unverkennbar vorbereitet.
7. St. Johann-Stromschnellen
Nach der Reprise des Moldau-Themas (Nr. 6) eilt der Fluss unaufhaltsam einer dramatischen Gefahr entgegen: den heute nicht mehr existierenden St. Johann-Stromschnellen südlich von Prag. Das Hauptthema ist hier nur noch bizarren Bruchstücken zu entnehmen, schäumend und beängstigend drängen sich die Tonmassen in wildem Strudel zusammen, bevor sie endlich ins Freie stürzen. Die siebte Episode mit der Überschrift „St. Johann-Stromschnellen“ umfasst insgesamt 62 Takte und bildet den „dramatischen Höhepunkt“ der Komposition; gleichzeitig setzt sie dabei einen Gegenpol zur poetischen und exakt gleich langen Episode „Mondschein – Nymphenreigen“ (Nr. 5).
Wie bereits die „Waldjagd“ (Nr. 3) beginnt nun auch die siebte Episode in T. 271 unvermittelt nach einem Trugschluss; diesmal jedoch in Form einer rückbezüglichen Zwischenfunktion zur vorausgehenden Dominante H-Dur. Weiter arbeitet Smetana hier ebenfalls mit Klangflächen: Eine Reihe von 8-taktigen, ineinander übergreifenden Blöcken mit mehrheitlich chromatisch-dissonanten Akkorden (v. a. verminderte Septakkorde) stürzt den Hörer in harmonische Turbulenzen und evoziert Gefühle der Unsicherheit... Bedrohliche Fanfaren in den Hörnern und Trompeten gepaart mit schrillen Motiven in den hohen Holzbläsern türmen sich über den virtuos wirbelnden Streichern, während im Untergrund versteckt eine Variante des Moldau-Thema in den tiefen Streichern und Fagotten (z. B. T. 273–278), gekoppelt mit dessen Imitation in der Bassposaune und Tuba sowie in den Oboen und Klarinetten, erklingt.
Der turbulente und insgesamt wohl komplexeste Abschnitt der Komposition erreicht seinen dynamischen Höhepunkt schließlich in T. 323, wo das volle Orchester in ein dreifaches Forte (fff), der lautesten Stelle im gesamten Werk, ausbricht und die Moldau nach einem überraschenden subito pianissimo unaufhaltsam ihren „Weg nach Prag“ in strahlendem E-Dur fortsetzt.
9. Coda mit „Vyšehrad-Motiv“ und „Entschwinden in der Ferne“
„Die Moldau strömt breit dahin“ (Nr. 8) heißt der unmittelbar letzte Abschnitt vor der Coda, bevor die Moldau schließlich am prächtigen Burgwall des Vyšehrad (auf einem hohen Felsen am rechten Ufer südlich von Prag) vorbei fließt und Smetana in den Takten 359–374 das „Vyšehrad-Motiv“ aus der gleichnamigen Tondichtung zitiert. Das zur Monumentalität gesteigerte (und nach E-Dur transponierte) Thema erklingt hier – einer Nationalhymne gleich – feierlich in den Bläsern und zeugt zugleich von glühendem Patriotismus; darüber hinaus sorgt es thematisch für einen zyklischen Abschluss der Komposition. Der Eintritt des Vyšehrad-Motivs wird interpretatorisch meist mittels Ritardando vorbereitet und das pompöse Thema selbst in den Takten 359–373 im ritmo di tre battute strukturiert (also zu übergeordneten 3er-Taktgruppen zusammengefasst), wodurch das Tempo gefühlsmäßig verlangsamt erscheint.
Analog der ersten sinfonischen Dichtung mündet das Vyšehrad-Thema nun auch in der Vltava in eine ausladende Steigerungspassage (im unterdessen wieder beschwingten 6/8-Takt), welche – ganz im Sinne einer Coda – vorwiegend formelhaftes Material verwendet, sich harmonisch auf die Akkorde der Tonika und Dominante beschränkt und mittels Augmentation in T. 395 letztmals pathetisch in E-Dur kulminiert. Im weiteren Verlauf „entschwindet die Moldau [sprichwörtlich] in der Ferne“ und die Komposition klingt nach einem sorgfältig auskomponierten Diminuendo (sempre dim. al ppp) in mehrfachen Wellenbewegungen friedlich und nahezu unhörbar (smorzando) in einer Generalpause aus – damit könnte das Werk eigentlich zu Ende sein... Überraschenderweise lässt Smetana aber noch zwei laute Akkorde des vollen Orchesters folgen und setzt damit den endgültigen Schlusspunkt.
Besetzung
Piccolo, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten in C, B und A, 2 Fagotte, 4 Hörner in C, F, Es und E, 2 Trompeten in C, E, A und B, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug (Triangel, Große Trommel und Becken), Harfe, Streicher: Violine (2), Bratsche, Violoncello (geteilt), Kontrabass
Stellenwert im Gesamtwerk Smetanas / Rezeption
Obwohl im internationalen Musikleben nach und nach auch die anderen Teile des Zyklus Fuß fassen konnten und immer häufiger Gesamtdarbietungen von Smetanas Má vlast erfolgten, nimmt, was die Häufigkeit der Aufführungen und die Beliebtheit anbelangt, die Vltava eine führende Stellung ein. Ihre Wirkung baut auf musikalischer Qualität auf, ohne eine national inspirierte Rezeptionsweise vorauszusetzen: Sie ist bei aller nationaler Eigentümlichkeit in ihrer Art allgemein verständlich als paradigmatischer Beitrag zur Gattung der sinfonischen Dichtung. Vltava ist weltweit nicht nur Smetanas bekannteste Komposition, sie ist darüber hinaus, ähnlich wie etwa das Largo aus Dvořáks Sinfonie Nr. 9 Aus der Neuen Welt oder wie dessen Humoreske Ges-Dur zu einer Ikone der tschechischen Musik geworden.[6]
Smetana, innerhalb der tschechischen Nationalbewegung durchaus nicht unumstritten, trifft mit der Vltava wie kein zweiter Komponist den Nerv seiner Zeit. Seine Musik wird zum populären Ausdruck der Sehnsucht nach einem unabhängigen Tschechien, vor allem in der Besinnung auf die mit kräftigen Strichen genial gezeichnete Natur. Dennoch stößt das Stück bei der Kritik keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Mancher mag die Ambivalenz vorausahnen, die einer allzu patriotisch motivierten Musik eben auch innewohnt. Der berühmt-berüchtigte Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick beschreibt spöttisch das musikalische Pathos, wenn die Moldau die sagenumwobene Prager Burg erreicht:
„Das ganze Orchester mit Becken und großer Trommel gerät in Aufruhr und vollführt ein patriotisch übertreibendes Getöse, das den Moldau-Wirbel für einen zweiten Niagara-Fall ausgeben möchte.“
Und doch folgt der Nationalismus Smetanas keiner rückwärts gewandten Idee von einer vermeintlich schützenden Abgeschlossenheit gegen alles Fremde. Auch als am Ende, wenn der Fluss schließlich in die Elbe mündet, Smetana ins triumphal patriotische E-Dur wechselt. Die Uraufführung wird zu einem riesigen Erfolg für den mittlerweile völlig ertaubten Smetana, einhellig huldigt ihm ein jubelndes Publikum. Mit der Verkauften Braut hatte er bereits im Bereich der Oper ein bis heute in seiner Beliebtheit ungebrochenes Werk hinterlassen. Mit der Moldau begründete er endgültig eine nationale tschechische Musik.[5]
Literatur
- Linda Maria Koldau: Die Moldau. Smetanas Zyklus „Mein Vaterland“. Böhlau, Köln 2007, ISBN 978-3-412-15306-9.
- Milan Pospíšil (Hrsg.): Studienpartitur (Urtext). Ernst Eulenburg, Mainz 1999.
- Hans Swarowsky, Manfred Huss (Hrsg.): Wahrung der Gestalt. Schriften über Werk und Wiedergabe, Stil und Interpretation in der Musik. Universal Edition, Wien 1979, ISBN 978-3-7024-0138-2.
Weblinks
- Vltava (Die Moldau): Noten und Audiodateien im International Music Score Library Project
- Regina Károlyi: Das Hauptwerk des tschechischen Nationalkomponisten (Rezension, 06/2007),
- Vltava Klassika – Die deutschsprachigen Klassikseiten
- Matthias Sakowski: WDR 3 Werkbetrachtung: Bedřich Smetanas „Die Moldau“ WDR 3
- Volker Tarnow: WDR3 Werkeinführung: Bedřich Smetana – Mein Vaterland, Zyklus sinfonischer Dichtungen, WDR 3, 2019
- Stefan Zednik: „Die Moldau“ – Grundstein der tschechischen Musikkultur (Vor 145 Jahren uraufgeführt). Deutschlandfunk
Einzelnachweise
- Volker Tarnow: Bedřich Smetana - Mein Vaterland, Zyklus sinfonischer Dichtungen. Abgerufen am 15. April 2020.
- Nationale Strömungen im 19. Jh. Abgerufen am 7. April 2020.
- Matthias Sakowski: WDR 3 Werkbetrachtung: Bedřich Smetanas "Die Moldau". Abgerufen am 7. April 2020.
- Smetanas Aussichtspunkt. Abgerufen am 20. April 2020.
- „Die Moldau“ – Grundstein der tschechischen Musikkultur. Abgerufen am 10. April 2020.
- Milan Pospíšil: Vorwort (Studienpartitur). Ernst Eulenburg & Co. GmbH, Mainz 1999.
- Linda Maria Koldau: Die Moldau. Smetanas Zyklus "Mein Vaterland". Böhlau, Köln 2007.
- Matthias Sakowski: WDR 3 Werkbetrachtung: Bedřich Smetanas "Die Moldau". 2017, abgerufen am 19. April 2020.