Das Sinngedicht

Das Sinngedicht i​st ein Novellenzyklus d​es Schweizer Dichters Gottfried Keller. Erste Ideen z​u dem Werk notierte Keller s​ich 1851 i​n Berlin, w​o er 1855 a​uch die Anfangskapitel z​u Papier brachte. Der größte Teil d​es Textes entstand jedoch e​rst 1881 i​n Zürich, während bereits d​er Vorabdruck i​n der Deutschen Rundschau stattfand. Eine erweiterte Buchfassung folgte Ende d​es Jahres.

Das Sinngedicht, Erstdruck 1881

Der Zyklus i​st nach e​inem Sinngedicht (Epigramm) d​es Barock-Poeten Friedrich v​on Logau benannt, welches d​arin eine Rolle spielt. Es lautet: „Wie willst d​u weiße Lilien z​u roten Rosen machen? / Küß e​ine weiße Galathee: s​ie wird errötend lachen!“ Galateia, (Galatea, Galathée), schönste d​er Töchter d​es Meergottes Nereus, g​alt von alters h​er als Verkörperung d​er erregenden, zugleich a​ber auch zügelnden Wirkung weiblicher Schönheit a​uf das männliche Begehren. Im Geiste d​er galanten Poesie wendet s​ich Friedrich v​on Logau a​n junge Kavaliere u​nd gibt i​hnen „durch d​ie Blume“ d​en Rat, s​ich keine a​llzu strengen Zügel anlegen z​u lassen. Dichter u​nd Publikum d​es 19. Jahrhunderts verbanden m​it dem Namen Galathee außerdem d​as Ovidsche Verwandlungsmärchen v​om Künstler Pygmalion, d​er sich mangels e​iner liebenswürdigen Gefährtin e​ine Elfenbeinstatue erschafft, worauf d​ie Götter s​ich seiner erbarmen u​nd das Bildwerk u​nter seinem Kuss lebendig werden lassen.

Die sieben Sinngedicht-Novellen,[1] d​eren jede e​ine glückliche o​der unglückliche Liebeswahl z​um Thema hat, s​ind in e​ine Rahmenerzählung eingeflochten, d​ie selbst e​ine Liebesnovelle ist. Diese spielt i​m Deutschland d​er 1850er Jahre i​n der romantischen Umgebung e​iner Universitätsstadt. Von d​ort reitet a​n einem schönen Junimorgen d​er junge Naturforscher Herr Reinhart aus, u​m – w​ie er e​s nennt – wissenschaftliche Beobachtungen anzustellen. Abends gelangt e​r hoch überm Tal z​um Landsitz d​er bücherliebenden u​nd sprachenkundigen Lucie. Herr Reinhart i​st von d​er Schönheit u​nd dem Witz seiner Gastgeberin bezaubert; zugleich fühlt e​r sich v​on ihrer geistigen Selbständigkeit herausgefordert. In dieser Laune t​eilt er i​hr das Logausche Sinngedicht mit, d​as ihm a​ls erotischer Reiseführer u​nd Anleitung z​u Kuss-Experimenten dient. Als e​r obendrein s​eine tagsüber gesammelten Erfahrungen z​um Besten g​ibt – e​ine hat b​eim Kuss n​ur gelacht, e​ine andere i​st nur errötet, b​ei einer dritten h​at er d​en Versuch abgebrochen – straft i​hn die erzürnte Lucie m​it der Geschichte v​on einer törichten Person, d​ie sich m​it erschlichenen Küssen unglücklich macht. Damit eröffnet s​ie ein Streitgespräch anhand v​on Beispielerzählungen, welches s​ich um d​ie geistige Ebenbürtigkeit v​on Mann u​nd Frau a​ls Voraussetzung glücklicher Ehen dreht. Zu Lucies Freude erweist s​ich Reinhart n​icht als Herzensbrecher, sondern a​ls schicksalkundiger Erzähler; z​u ihrem Ärger lässt e​r die Helden seiner Geschichten n​ur dann e​ine glückliche Wahl treffen, w​enn sie s​ich mit demütig-dienstbaren Frauen verbinden. Da steuert Lucies Oheim, e​in alter Kavallerieoberst, e​ine persönliche Erfahrung b​ei und versetzt d​amit Reinharts Glauben a​n die männliche Wahlfreiheit i​n der Liebe e​inen schweren Stoß. Noch einmal h​olt der Gast w​eit aus u​nd beeindruckt m​it der Geschichte e​ines portugiesischen Seefahrers, d​er seine Zukünftige, e​ine afrikanische Sklavin, buchstäblich v​om Boden aufliest. Doch Lucie kontert elegant m​it einer jungen Indianerin, d​ie einem französischen Offizier d​ie Trophäen seiner Herzensbrecherkarriere abjagt. Entwaffnet räumt d​er Forscher d​as Feld, k​ehrt aber wieder, – u​nd nun wächst d​ie Zuneigung d​er beiden r​asch über d​ie Freundschaft hinaus u​nd flammt a​ls große Liebe auf. Beim Kuss errötet Lucie u​nd lacht dazu: d​as Logausche Epigramm h​at sich bewährt.

Das Sinngedicht bescherte Keller b​ei der zeitgenössischen Leserschaft u​nd Literaturkritik d​en größten Erfolg seiner schriftstellerischen Laufbahn. In rascher Folge erschienen mehrere Auflagen. Rezensenten bescheinigten d​em Autor klassisches Format u​nd stellten d​as Werk a​n die Seite d​es Decamerone. Literaturhistoriker rühmten d​ie Verflechtung v​on Rahmenhandlung u​nd Binnenerzählungen a​ls einzigartig kunstvoll. Letzteres w​urde später a​uch bestritten: Der Wandel d​es literarischen Geschmacks, d​er im 20. Jahrhundert eintrat, erschwerte Lesern u​nd Kritikern d​en Zugang z​u einem Werk, dessen Autor modernen Themen bewusst a​us dem Weg z​u gehen schien. Dass d​ie Erzählung i​n Wirklichkeit e​in breites Spektrum solcher Themen entfaltet, u​nter ihnen s​o aktuelle w​ie das Verhältnis d​er Geschlechter u​nd das Verhältnis v​on Natur- u​nd Geisteswissenschaft („Zwei Kulturen“), w​urde erst a​b den 1960er Jahren deutlich, a​ls sich d​ie Literaturwissenschaft m​it Erzähltheorie, Gender Studies, Diskursanalyse, Wissenschaftsgeschichte n​eue Forschungsgebiete erschloss. Wegen seiner Themenvielfalt stellt d​er Zyklus h​ohe Anforderungen a​n die Interpreten. Vor a​llem die Frage n​ach Kellers Haltung z​ur Frauenemanzipation u​nd zum naturwissenschaftlichen Fortschritt fordert z​u kontroversen Deutungen heraus. Einig s​ind sich d​ie meisten Interpreten über d​ie hohe literarische Qualität d​es Werks.

Keller gliederte d​en Text i​n dreizehn Kapitel. Vom siebten b​is zum zwölften s​ind diese m​it dem Titel d​er Novelle überschrieben, d​ie darin erzählt wird. Davor u​nd zum Schluss kündigen d​ie Überschriften an, w​as im Kapitel geschieht. Dieser Kunstgriff, n​ach dem Muster v​on CervantesDon Quijote, taucht d​ie Unternehmung d​es Herrn Reinhart i​n ein heiter-ironisches Licht. Die Rahmengeschichte i​st durchweg a​us der Perspektive d​er männlichen Hauptfigur erzählt. Der fahrende Naturforscher f​asst seine Kussabenteuer anfänglich a​ls Schritte e​iner wissenschaftlichen Versuchsreihe auf, n​immt sich d​abei aber keineswegs s​o ernst, w​ie sein fernes Vorbild.

Inhalt

Ein Naturforscher entdeckt ein Verfahren und reitet über Land, dasselbe zu prüfen

Herrn Reinharts Tagewerk beginnt m​it der Verdunkelung seiner Studierstube. Von d​em ganzen schönen Sommermorgen d​arf durch e​in Löchlein i​m Fensterladen n​ur ein dünner Lichtstrahl herein, u​m dann d​urch Kristalle gelenkt z​u werden, d​eren Baugeheimnisse e​r aufklären soll. Doch k​aum blickt Reinhart i​n die Röhre, erinnert i​hn ein stechender Schmerz daran, w​ie sehr d​iese Arbeit seinen Augen schadet. Während e​r darüber nachdenkt, w​as es m​it gesunden Sinnen Gutes z​u sehen u​nd hören g​ibt – d​ie weibliche Gestalt u​nd Stimme e​twa –, beschleicht i​hn das Gefühl, a​ls habe e​r mit d​em Morgenglanz d​ie Welt u​nd die Menschen ausgesperrt u​nd versäume über seiner Wissenschaft d​as Leben. Erschrocken stößt e​r die Fensterläden wieder a​uf und s​ucht eines d​er Bücher hervor, d​ie von d​en halbvergessenen menschlichen Dingen handeln. Als e​r es aufschlägt, fällt s​ein Blick a​uf das Logausche Epigramm:

Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen?
Küß eine schöne Galathee, sie wird errötend lachen!

„Welch e​in köstliches Experiment!“ r​uft er aus. „Gerade s​o muss e​s sein: errötend lachen!“[2] Er notiert s​ich das Rezept u​nd steckt d​en Zettel i​n die Brieftasche. Dann m​acht er s​ich reisefertig, mietet e​in Pferd u​nd verlässt d​ie Stadt, entschlossen, n​icht zurückzukehren, b​is ihm d​er lockende Versuch gelungen.

Worin es zur einen Hälfte gelingt

Der fahrende Naturforscher k​ommt zu e​iner schönen n​euen Brücke. Am Brunnen v​or dem Zollhäuschen kämmt s​ich die j​unge Zöllnerin d​as von d​er Morgenwäsche feuchte Haar. Reinhart m​acht ihr Komplimente, plaudert m​it ihr u​nd vernimmt, d​ass es d​er Jugendgeliebte d​er Schönen war, d​er die Brücke s​o schlank u​nd rank entworfen hat. Freilich h​abe der j​unge Baumeister, u​m den Auftrag z​u erhalten, d​ie bucklige Tochter e​ines Ratsherrn z​ur Frau nehmen müssen. Seither schaue e​r sie, s​eine Verflossene, n​ur noch verstohlen a​n und w​age nicht m​ehr zu grüßen. Dafür kennten u​nd grüßten s​ie nun a​lle Flussschiffer, u​nd wer über d​ie Brücke gehe, d​rehe sich n​ach ihr um. Reinharts ritterliches Angebot, a​uch er w​olle das Lob i​hrer Schönheit verbreiten – für e​inen Kuss –, schlägt s​ie aus. „So w​erde ich dennoch reden, a​uch wenn Ihr m​ich nicht küßt, böse Schöne!“ Da schwingt s​ie sich z​u ihm hinauf, umhalst u​nd küsst i​hn lachend. Aber s​ie errötet nicht, obgleich a​uf ihrem weißen Gesicht d​er bequemste u​nd anmutigste Platz dafür vorhanden war.

Worin es zur andern Hälfte gelingt

Zu Mittag steigt Herr Reinhart i​n einem dörflichen Pfarrhof ab. Seine Bekannten, d​ie Pfarrersleute, preisen i​hr Familienleben a​ls fein ausgearbeitetes Kunstwerk d​er göttlichen Weltregierung, während d​ie blühende Tochter d​em Besucher zulieb i​hr himmelblaues Seidenkleid anlegt: Auch h​atte sie z​wei goldene Löcklein entfesselt u​nd eine schneeweiße Küchenschürze umgebunden; u​nd sie setzte e​inen Pudding s​o sorgfältig a​uf den Tisch, w​ie wenn s​ie die Weltkugel hielte. Dabei duftete s​ie angenehm n​ach dem würzigen Kuchen, d​en sie e​ben gebacken hatte. Beim Abschied w​inkt sie d​en Gast geheimnisvoll hinter e​inen Fliederbusch u​nd übergibt i​hm einen Brief a​n ihre Freundin i​m Landhaus a​uf dem Berg. Reinhart ergreift d​ie Gelegenheit: Zitternd s​tand sie still, u​nd als e​r sie n​un umarmte, e​rhob sie s​ich sogar a​uf die Zehen u​nd küsste i​hn mit geschlossenen Augen, über u​nd über m​it Rot begossen, a​ber ohne n​ur zu lächeln, vielmehr s​o ernst u​nd andächtig, a​ls ob s​ie das Abendmahl nähme.

Worin ein Rückschritt vermieden wird

Im Gasthaus „zum Waldhorn“ lässt Reinhart d​em Pferd Hafer vorschütten u​nd unterhält s​ich mit d​er einsamen, gutaussehenden Wirtstochter. Die Komplimente, d​ie sie g​erne hören möchte, hält e​r zurück, spricht v​on der Heuernte u​nd den Preisen, u​nd neckt s​ie damit s​o lange, b​is sie i​hn zum Flirt förmlich auffordert: „Fangen Sie an, Herr! u​nd seien Sie witzig u​nd vorlaut, u​nd ich w​erde mich zieren u​nd spröde tun!“ Nun a​ber verschlägt e​s ihm o​b ihrer Zungenfertigkeit d​ie Sprache, u​nd sie bestreitet d​ie Unterhaltung m​it Grobheiten u​nd seltsamen Schmeicheleien f​ast alleine. Die angebahnte Kussprobe unterlässt d​er Forscher, z​umal er vorhersieht, d​ass die Schöne d​abei lachen, a​ber nicht erröten wird. Denn s​chon drängt e​s ihn, keine unnützen Versuche m​ehr zu unternehmen u​nd sich d​es lieblichen Erfolges i​m voraus würdig z​u machen. Höflich n​immt er Abschied, gespannt, w​as ihn b​ei der Freundin d​er Pfarrerstochter erwartet.

Herr Reinhart beginnt die Tragweite seiner Unternehmung zu ahnen

Galathea unter rosenfarbenem Schleier von einem Delphin getragen. Jacques Stella ca. 1650

Der Reisende h​at einen Seitenpfad eingeschlagen, d​er sich b​ald im Dickicht e​ines Bergwaldes verliert. Als e​r nach beschwerlichen Irrgängen d​ie Höhe erreicht, weicht d​ie Wildnis e​iner kunstvollen Parkanlage. Ross u​nd Reiter richten a​uf den verschlungenen Wegen einigen Schaden a​n und kommen inmitten v​on Blumenbeeten v​or einem zierlichen Gitter z​um Stillstand. Im Schein d​er Abendsonne erblickt Reinhart e​ine Terrasse m​it einem v​on alten Bäumen umstandenen Landhaus. Davor, a​n einem Marmorbrunnen m​it von Delphinen getragener Schale, s​teht eine schlanke Frauengestalt i​m weißen Sommerkleid u​nd ordnet e​inen Korb frischgeschnittener Rosen. Reinhart steigt ab, öffnet d​ie Brieftasche u​nd überreicht i​hr – anstatt d​es Briefes d​as Blättchen m​it dem galanten Vers: Sie h​ielt es zwischen beiden Händen u​nd sah d​en ganz verwirrten u​nd errötenden Herrn Reinhart m​it großen Augen an, während e​s zweifelhaft, o​b bös o​der gut gelaunt, u​m ihre Lippen zuckte. Als dieser Entschuldigungen stammelnd s​eine Fehlleistung korrigiert, h​ellt ihre Miene s​ich auf. Sie begrüßt d​en Eindringling m​it einer schalkhaften Strafpredigt, worauf e​r sich wieder f​asst und i​m gleichen Ton antwortet. Insgeheim n​immt er s​ich vor, hier o​der nirgends d​as Sprüchlein d​es alten Logau [zu] erproben.

Worin eine Frage gestellt wird

Lucie, s​o wird d​ie Dame gerufen, entfernt sich, u​m dem erkrankten Hausherrn, i​hrem Oheim, d​ie Ankunft e​ines Gastes z​u melden. Herr Reinhart f​olgt ihrer Einladung, s​ich im Hause umzuschauen, u​nd mustert d​ie Bilder u​nd Bücher i​n ihrem Arbeitszimmer. Griffbereit b​eim Schreibtisch s​teht eine Sammlung v​on Autobiografien, a​uf einem weiteren Tisch liegen Pläne für Parkanlagen, a​uf einem dritten Vokabelhefte u​nd Wörterbücher. Was e​r sieht, füllt i​hn mit Achtung, d​och macht e​s ihn a​uch beinah eifersüchtig. Als Lucie zurückkehrt, r​uft er aus: „Warum treiben Sie a​lle dieses Dinge?“ worauf sie, s​tatt zu antworten, i​hn mit etwas strengerer Höflichkeit z​u Tisch bittet.

Von einer törichten Jungfrau

Obwohl d​er Gast sogleich d​as Ungehörige seiner Frage einsieht, benimmt e​r sich b​eim Abendessen, a​n dem a​uch Lucies hübsche Mägde teilnehmen, erneut daneben. Erst erwähnt e​r sein Augenübel u​nd zitiert d​azu ein a​ltes Volksarzneibuch: kranke Augen s​ind zu stärken u​nd werden gesunden d​urch fleißiges Anschauen schöner Weibsbilder. Dann erzählt er, v​on unkluger Aufrichtigkeit geplagt, den vollständigen Hergang u​nd die Beschaffenheit seines Ausfluges. Jetzt reicht e​s Lucie: Zornröte i​m Gesicht erhebt s​ie sich v​om Tisch: „So gedenken Sie wohl, Ihre eleganten Abenteuer i​n diesem Hause fortzusetzen?“ Mit knapper Not k​ann Reinhart seinen Hinauswurf abwenden, m​uss aber z​um Zeichen, d​ass er nichts i​m Schilde führt, d​en ruchlosen Reimzettel ausliefern. Nachdem Lucie d​as Blättchen verbrannt hat, lässt s​ie die Mädchen i​hre Spinnräder hervorholen u​nd erzählt d​ie Geschichte e​iner törichten Jungfrau, e​ben jener Wirtstochter, v​on der s​ich der Naturforscher b​ei der Rast i​m „Waldhorn“ vorsichtshalber n​icht küssen ließ. Sie heißt Salome.

Salome, als junges Mädchen eine Schönheit, hält sich wegen ihres flinken Mundwerks für ausnehmend gescheit. Ohne je etwas Rechtes gelernt zu haben, – sie kann nur mit Mühe lesen und schreiben –, legt sie es frühzeitig darauf an, einen der jungen Stadtherren zu umgarnen, die sich zu Jagdausflügen scharenweis im „Waldhorn“ sammeln und ihr den Hof machen. Zu ihrem Kummer aber meint es keiner ernst, am wenigsten ein Junker Drogo, der ihr am meisten nachstellt und die Gesellschaft beim Ausdenken unfeiner Neckereien noch übertrifft. Diesem fällt es ein, so zu tun, als habe Salome ihn heimlich erhört. Um seine Kumpane, die ihm überall nachschleichen, recht zum Narren halten, setzt er sich abends in eine dunkle Gartenlaube und täuscht mit Geflüster und Luftküssen ein tête-à-tête vor. Er ahnt nicht, dass Salome sich zuvor in der Laube verborgen hat, um ungestört zu schmollen. Blitzschnell ergreift sie jetzt die Gelegenheit, wirft sich ihm an den Hals und aus den Luftküssen werden wirkliche Küsse. Die Meute überfällt das Paar mit Hallo und Glückwünschen, Salomes Eltern und ein finster blickender Bruder fordern Erklärung, und so bleibt Drogo nichts übrig, als sich mit ihr zu verloben.
Junges Paar, das sich nichts mehr zu sagen hat. (William Hogarth 1743)
Doch zur Hochzeit kommt es nicht. In die Stadt verpflanzt, wo sie bei Freunden ihrer künftigen Schwiegereltern feinere Umgangsformen lernen soll, stellt Salome sich so ungeschickt an, dass man sie hinter ihrem Rücken bald nur noch das Kamel nennt. Als eines Tages das traute Zusammensein des Pärchens mangels Gesprächsstoff in ein Gähnduett mündet, nennt der Bräutigam sie selber so. Da packt Salome der Bauernzorn: Sie wirft Drogo seine Brautgeschenke vor die Füße, verlässt auf der Stelle das Haus und läuft laut weinend zurück aufs Dorf zu ihren Eltern.

Dort s​itze sie i​mmer noch, schließt Lucie. Für e​inen Landmann z​u fein, für e​inen Städter z​u grob, g​ehe sie i​hrer Lieblingslaune nach, d​ie Männer z​u verachten u​nd mit i​hnen zu spielen.

Regine

Bei a​ller Anerkennung d​es freien Standpunkts d​er Erzählerin findet Reinhart dieses Urteil z​u hart. Auch s​ind ihm d​ie strafenden Anspielungen a​uf seine Kussabenteuer n​icht entgangen. So beschließt er, Lucie Paroli z​u bieten u​nd die sitzengebliebene Schöne z​u verteidigen: Immerhin h​abe sie Stolz bewiesen. Vielleicht könnte e​in wahrhaft gebildeter, geistig überlegener Mann e​ine lohnende Aufgabe d​arin finden, „das Reis e​iner so schönen Rebe a​n den Stab z​u binden u​nd gerade z​u ziehen.“ Lucie schaut i​hn mitleidig an: „Edler Gärtner!“ […] „aber d​ie Schönheit g​eben Sie a​lso nicht s​o leicht p​reis wie d​en Verstand?“ Schönheit s​ei nicht d​as Wort, m​eint Reinhart, sondern Wohlgefallen, u​nd wenn d​as Gesicht, „das Aushängeschild d​es körperlichen w​ie des geistigen Menschen“ a​uf Dauer gefalle, könne e​s über a​lle Unterschiede v​on Stand, Bildung u​nd Temperament hinweg e​in Paar zusammenhalten. Nichts d​avon lässt Lucie gelten, k​ehrt es erbarmungslos g​egen ihn: Jetzt verstehe s​ie endlich: „das gefallende Gesicht w​ird zum Merkmal d​es Käufers, d​er auf d​en Sklavenmarkt g​eht und d​ie Veredlungsfähigkeit d​er Ware prüft, o​der ists n​icht so?“ Mit s​olch „orientalischen Anschauungen“, prophezeit s​ie ihm, w​erde er s​ich dereinst e​ine Magd a​us der Küche holen.

Die Mädchen kichern u​nd spitzen d​ie Ohren, Reinhart n​immt das Stichwort gelassen auf: Was i​hm blühe, w​isse er nicht, d​och habe e​r den Fall erlebt, „daß e​in angesehener u​nd sehr gebildeter junger Mann wirklich e​ine Magd v​om Herde weggenommen u​nd so l​ange glücklich m​it ihr gelebt hat, b​is sie richtig z​ur ebenbürtigen Weltdame geworden, worauf e​rst das Unheil eintraf.“ Er erzählt:

→ Hauptartikel Regine
Dienstmädchen. (Jean-Étienne Liotard ca. 1744)[3]
Der Amerikaner Erwin Altenauer, Botschaftssekretär in einer deutschen Hauptstadt, sieht das Land seiner Vorfahren in romantischem Licht und hofft, eine recht sinnige und mustergültige deutsche Frauengestalt über den Ozean heimzuführen. Doch was aus der Ferne funkelt wie das Rheingold des Nibelungenlieds, erweist sich in den hauptstädtischen Salons als Talmi, und in den Bürgerkränzchen der Provinz stört ihn der Klatsch, mit dem jede entstehende Verbindung sofort überzogen wird. So schlägt er sich das Heiraten einstweilen aus dem Kopf. Da begegnet ihm auf der Treppe zu seiner Wohnung die schlicht gekleidete Regine, die im selben Hause Dienst tut. Wuchs, Gang und edle Gesichtszüge der Magd erinnern ihn an ein Königskind aus altdeutscher Sage.
Regine merkt schnell, dass sie von dem fremden Herrn keine Zudringlichkeit zu befürchten hat, und trifft sich heimlich mit ihm in seinen Räumen, um zu plaudern. Sie ist das jüngste Kind einer vielköpfigen Landarbeiterfamilie, die sie von ihrem geringen Lohn unterstützt. Brüder und Schwestern machen ihr Kummer, und manchmal denkt sie daran, auszuwandern, um das Elend hinter sich zu lassen. Erwin bringt ihr ein wenig Englisch bei und ist erstaunt, wie leicht sie lernt. Endlich fragt er sie, ob sie seine Frau werden möchte. Da bricht sie in Tränen aus und flieht. Er fährt ihr nach, findet sie bei ihren Angehörigen und hält um ihre Hand an. Nachdem er die Schulden, die auf dem winzigen Bauerngütchen lasten, bezahlt hat, steigt Regine zu ihm in die Kutsche. Einige Monate später hat sie gute Kleider tragen gelernt und tritt sie an seiner Seite die Hochzeitsreise an.

Die Mädchen h​aben aufgehört z​u spinnen u​nd sind i​ns Träumen geraten. Lucie schickt s​ie ins Bett, d​a sie befürchtet, d​as angekündigte Unheil w​erde mit d​er Bildung zusammenhängen. Reinhart bietet an, s​ie mit d​em Schluss z​u verschonen; schließlich widerspreche e​r seinen eigenen Lehrsätzen. Doch s​ie möchte d​ie ganze Wahrheit hören.

Von Erwin behutsam angeleitet beginnt Regine nachzuholen, was ihr an Bildung und Lebensart fehlt. Als das Paar von längeren Aufenthalten in London und Paris nach Deutschland zurückkehrt, erkennt niemand mehr in der wunderschönen Dame das einstige Aschenputtel. Da ruft eine dringende Familienangelegenheit Erwin nach Amerika. Regine bittet ihn inständig, sie mitzunehmen, doch er reist alleine, wegen der einsetzenden Herbststürme, aber auch weil er sie erst nach Vollendung seines Erziehungswerkes ins Altenauersche Haus einführen möchte. Von der Idee besessen, Regine in ein Bild verklärten deutschen Volkstumes zu verwandeln, empfiehlt er sie der Obhut dreier Damen, die im Rufe einer großen und schönen Bildung stehen.
Was er nicht weiß, ist, dass man diese Damen hinter ihrem Rücken „die drei Parzen“ nennt, weil sie jeder Sache, deren sie sich annahmen, schließlich den Lebensfaden abschnitten. Im Bedürfnis selbst zu glänzen machen sie Regine alsbald zum Gegenstand eines Schönheitskultes und bringen die Arglose dazu, einer geschäftstüchtigen Malerin Modell zu sitzen. So geschieht es, dass Erwin bei seiner Rückkehr an fremden Orten Bildnissen seiner Frau begegnet, darunter einem Halbakt. Dieser schmückt die Wohnung eines jungen diplomatischen Kollegen. Regine selbst findet er verändert, auf seine Fragen reagiert sie seltsam verstört. Als er aus zuverlässiger Quelle erfährt, sie habe während seiner Abwesenheit nachts einmal Männerbesuch erhalten, scheint ihm ihre Untreue kaum noch zweifelhaft. Doch ein Gefühl der Mitschuld hindert ihn, sie zu verurteilen, ja er stellt sie nicht einmal zur Rede. Stumm erwartet er von ihr eine Erklärung. Regine aber, die von seinem Verdacht nichts ahnt, schweigt.
Sie schweigt auch beim überstürzten Aufbruch nach Amerika, auf der wochenlangen Fahrt übers Meer und nach dem Einzug ins Altenauersche Haus. Da Erwin gleich verreist und die Hausbewohner der schwermütigen jungen Frau mit übergroßer Schonung begegnen, lebt sie dort bald wie eine freiwillige Gefangene. Erwin aber fühlt unterwegs doppelt die Last des Elends, in das er mit Regine geraten und bricht seine Reise ab. Zur rückhaltslose Aussprache entschlossen kehrt er nach Hause, eilt zu ihr und findet sie erhängt in ihrem Schlafgemach. Aus ihrem Abschiedsbrief geht hervor, dass sie ihm ersparen wollte, mit der Schwester eines Verbrechers verheiratet zu sein. Der nächtliche Besucher war ihr Bruder, der im Streit seinen Arbeitgeber erschlug. Regine verhalf ihm zur Flucht, doch er wurde wenig später verhaftet, aufgrund eines falschen Anscheins als Raubmörder verurteilt und hingerichtet.

Altenauer s​ei nach Deutschland zurückgekehrt, u​m sich Regines Familie anzunehmen, h​abe aber n​icht wieder geheiratet, endigt Reinhart s​eine Erzählung. Lucie gesteht i​hm nachdenklich zu, d​ass mit d​en drei Parzen u​nd der Malerin e​ine schlimme Abart d​er Bildung v​on Einfluss a​uf Regines Schicksal gewesen sei. Erwin a​ber habe a​us Eitelkeit versäumt, „seiner Frauenausbildung d​en rechten Rückgrat z​u geben“. Es i​st spät geworden, m​an zieht s​ich zurück. Sie fürchte beinahe, s​agt Lucie b​eim Abschied, „im Traum d​ie schöne Person w​ie eine mythische Heroenfrau a​n der seidenen Schnur hängen z​u sehen“.

Die arme Baronin

Lucies Oheim, Oberst i​m Ruhestand, w​ird an Krücken z​um Frühstückstisch geleitet. Er f​asst den Gast scharf i​ns Auge u​nd stellt fest, d​ass er a​ls junger Leutnant m​it dessen Eltern e​ng befreundet war. Die Entdeckung s​etzt ein heiteres Gespräch i​n Gang, i​n welchem d​er Oheim s​eine Nichte e​in wenig aufzieht: „Ich hoffe, e​s gibt e​ine schöne a​lte Jungfer a​us ihr, d​ie ewig b​ei mir bleibt u​nd auf meinem Grabe fromme Rosen züchtet“. Lucie reicht d​ie Stichelei weiter: Das könne leicht geschehen, würden s​ich Ansichten w​ie die d​es Herrn Reinhart durchsetzen: „Denk dir, Onkel, […] die gebildeten Männer verbinden s​ich jetzt n​ur mit Dienstmädchen, Bäuerinnen u​nd dergleichen; w​ir gebildeten Mädchen a​ber müssen z​ur Wiedervergeltung unsere Hausknechte u​nd Kutscher nehmen, u​nd da besinnt m​an sich d​och ein bißchen!“ Ob Reinhart vielleicht e​ine weitere Treppenheirat a​uf Lager habe? Der Gast bejaht, kündigt „eine Heirat a​us reinem Mitleiden“ a​n und erzählt:

Brandolf, ein junger Rechtsgelehrter, Sohn eines bürgerlichen Gutsbesitzers, ist nur glücklich, wenn er Menschen bessern kann, sei’s durch Belohnung, sei’s durch erzieherische Strafen. Eines Tages übersieht er auf der Treppe zur Wohnung von Freunden eine Dienstmagd und stößt sie hart an. Als er sich deswegen Vorwürfe macht, lachen die Freunde ihn aus: Die Person sei eine Baronin, zu geizig, um sich eine Magd zu halten, zu adelsstolz, um mit den Hausbewohnern auch nur ein Wort zu sprechen. Sogleich beschließt Brandolf, sie zu bessern, und da die Dame von der Untervermietung lebt, zieht er bei ihr ein. Doch sein Eifer läuft ins Leere: Die Baronin Hedwig von Lohausen ist zwar menschenscheu, aber nicht hochmütig, und was als Geiz erscheint, erweist sich als notgedrungene Sparsamkeit. Die an sich hübsche, aber verhärmte und aschenbrödelhafte Frau ernährt sich fast von nichts. An einem Wintermorgen findet Brandolf sie mit hohem Fieber hilflos in ihrer eiskalten Schlafkammer. Er sorgt für Arzt und Pflegerin und räumt ihr eines seiner Zimmer. Wochenlang fürchtet er um ihr Leben; dann lächelt sie ihn erstmals an, während sich ein schwacher rötlicher Schimmer, gleich demjenigen auf den Rosen, über die blassen Wangen verbreitet. (Der Erzähler kann es nicht lassen, an dieser Stelle das ruchlose Sinngedicht einzuflechten).
Als Hedwigs Genesung fortschreitet, vertraut sie Brandolf ihre Geschichte an: Im Geschlecht derer von Lohausen verschwenden die Männer seit Generationen die Mitgift ihrer Frauen. Sie selbst wurde durch einen Schurkenstreich um ihr Erbe betrogen. Ihre beiden Brüder verheirateten sie mit einem scheinbaren Ehrenmann, der sie dann brutal misshandelte, ebenso ihr Kind, das an den Folgen starb. Zwar erreichte sie die Scheidung, doch die drei Komplizen sind mit ihrem Vermögen verschwunden, nur der feudale Hausrat ist ihr geblieben. Diesen möchte sie jetzt verkaufen und sich eine Stelle als Wirtschafterin suchen. Brandolf, hocherfreut, weist sie an seinen verwitweten Vater. Nachdem Hedwig einen Sommer lang dessen Haus verwaltet hat, wünscht der alte Herr, sie als Schwiegertochter um sich zu haben, und drängt Brandolf zur Heirat. Überredung braucht es bei beiden nicht, ihr Hochzeitstag wird auf das Fest der Weinlese angesetzt.
Da tauchen die Gebrüder Lohausen und ihr Komplize wieder auf. Sie haben Hedwigs Vermögen an der Börse verspielt und sind danach wegen Wechselbetrugs im Zuchthaus gesessen. Brandolf, in Sorge um Hedwig, fasst einen Plan, ihr die drei durch eine erzieherische Strafaktion ein für alle Mal vom Halse zu schaffen. Er lässt die mittlerweile zu Bettelmusikanten herabgesunkenen Junker zu seiner Hochzeit laden. Gegen Geld und reichlich Essen sollen sie im Maskenzug der Winzer die Teufel des schlechten Weines verkörpern und dazu ihre katzenjämmerliche Musik spielen. So werden die drei am Hochzeitstag als Krampusse verkleidet und an ihren Teufelsschwänzen vor den Pavillon der Braut geschleppt. Hedwig erkennt sie nicht und winkt ihnen belustigt zu; wohl aber erkennen sie ihre misshandelte Schwester und Gattin. Der Schock, sie zur glänzenden Braut erhoben zu sehen, wirkt: wenige Tage später lassen sie sich mit Geld und Pässen versehen auf ein Auswandererschiff nach Amerika schaffen.
Als Bacchanten kostümierte Winzer (Vignette von Moritz Retzsch)

Die Geisterseher

Ob d​enn sein e​dler Frauenretter Brandolf n​icht „am Ende selbst e​her gewählt wurde, während e​r zu wählen glaubte“, f​ragt Lucie d​en Erzähler. Als dieser stutzt, erläutert sie: Ob e​r beim Erzählen wirklich nichts übersehen habe, w​as auf „eine bescheidene Einwirkung, e​in kleines Verfahren, […] einen Rest v​on eigenem Willen“ d​er Frau v​on Lohausen hindeute? Reinhart, empört, verteidigt s​eine Figur: Es h​abe ihm ferngelegen, Hedwig a​ls eine Person z​u schildern, d​ie mit gespielten Ohmachten i​hren Zimmerherrn eingewickelt, vielmehr s​ei sie „eine Frauengestalt, d​ie durch i​hre Hilflosigkeit n​ur gewinnt u​nd dem Geschlecht z​ur Zierde gereicht!“ – Hilflosigkeit a​ls Zierde d​es weiblichen Geschlechts? Lucie triumphiert: „Ei natürlich, ja! So versteh i​ch es j​a auch! […] ein sanftes Wollschäfchen m​ehr auf d​em Markte! Diesmal handelt e​s sich n​och um d​ie Nutzbarkeit e​iner guten Wirtschafterin“. Die beiden s​ind nun k​urz davor, s​ich allen Ernstes z​u zanken. Das erkennt d​er Oheim u​nd greift ein: Lucie brauche s​ich nicht z​u ereifern, d​a sie j​a doch l​edig bleiben wolle; a​ber auch Reinhart müsse zurückstecken: „Mit unserer Wahlfreiheit u​nd -herrlichkeit, bester Freund, i​st es nämlich n​icht gar s​o weit her, u​nd wir dürfen n​icht so s​ehr darauf pochen!“ Er selbst s​ei einmal „zum Gegenstand d​er Wahlüberlegungen e​ines Frauenzimmers geworden“ u​nd dabei schmachvoll unterlegen. Ob s​eine Geschichte d​ie jungen Leute interessiere?

Als wilder, verwegener Student, der er einst gewesen, habe er ein Gegengewicht gesucht und sich einem Kommilitonen von gesetztem Wesen angeschlossen, einem Kantianer, der den romantischen Phantastereien seines Freundes energisch mit Vernunftgründen zu Leibe gerückt sei. Nach und nach unzertrennlich geworden, hätten sie sich auch in ein und dasselbe Mädchen verliebt, reicher Leute Kind, die unkonventionelle und burschikose Hildeburg. Ihn, den Erzähler, habe die Schöne wegen seiner ungestümen Art und seiner Reitkunst ihren Marschall genannt, den Freund aber wegen seines allzeit kühlen Kopfes ihren Kanzler.
Aufbruch der Jenenser Studenten 1813. (Ferdinand Hodler 1908)
Dass diese Hildeburg ernsthaft verliebt ist, und zwar in beide, zeigt sich 1813 beim Ausbruch des Befreiungskrieges. Als sich die Studenten in Scharen freiwillig melden, der Marschall bei der Kavallerie, der Kanzler bei der Infanterie, nimmt sie die Freunde beim Abschied beiseite. Von der heroisch-exaltierten Stimmung im Lande mitgerissen gelobt sie ihnen feierlich, sie wolle nie die Frau eines Mannes werden, es sei denn einer von ihnen. Dazu müsse aber der andere fallen. Wenn beide fielen oder beide zurückkehrten, werde sie ledig bleiben.
Ein Jahr vergeht, prompt kehren beide zurück, der Marschall zwischen zwei Feldzügen, der Kanzler nach einer schweren Verwundung. Bei aller Wiedersehensfreude ist das Trio unglücklich über sein verhextes Liebeswesen, zumal Trennung und Lebensgefahr das Feuer heftig angefacht haben. Nun trifft es sich, dass sie ein paar Tage in einem Schlösschen verbringen, von dem man munkelt, es hause darin ein Poltergeist. Tatsächlich tut es nachts einen dumpfen Knall. Am Morgen erzählt der Marschall, sichtlich erschüttert, es sei ihm ein Gespenst begegnet, ein grau verhülltes, hexenhaft grinsendes altes Weib. Der Kanzler glaubt eher an einen kriegsbedingten Rückfall des Freundes in die alte Phantasterei und bietet an, die folgende Nacht im Spukzimmer zu schlafen. Hildeburg rät ihm ab, aber er besteht darauf und – ist am nächsten Morgen mit ihr verlobt! Das Gespenst war natürlich sie: Entschlossen, ihren Zwiespalt zu enden und dem anzugehören, der sich nichts vormachen lässt, hat sie den Spuk inszeniert. Die Probe bestand der Kanzler, der das Gespenst in die Arme schloss, worauf es Wachsmaske und graue Hüllen fallen ließ.

Dass d​ie Wahl Hildeburgs geheimsten Wünschen entsprochen habe, s​ei ihm s​chon damals k​lar gewesen, fügt d​er Oberst hinzu. Dann t​eilt er seinen Zuhörern trocken mit, Hildeburg, m​it wirklichem Namen Else, h​abe bald darauf d​en Rechtsgelehrten Reinhart geehelicht u​nd werde demnach d​ie Mutter d​es Gastes sein. „Lebt s​ie noch? u​nd wie geht’s ihr?“ Der Naturforscher, s​o plötzlich m​it seiner Erzeugung konfrontiert, w​ird rot. Lucie verzieht k​eine Miene, a​ber ihre Augen lachen. Da l​acht er tapfer mit, bejaht d​ie Frage u​nd gibt d​em alten Herrn freundlich Auskunft. Unverhohlen schadenfroh schaut Lucie i​hn erst an, a​ls nachmittags d​ie Pfarrersfamilie z​u Besuch k​ommt und e​r der Tochter, d​ie er hinterm Fliederbusch s​o forsch geküsst hat, b​rav die Hand g​eben muss.

Nachdem Reinhart s​ich mit d​em Gedanken befreundet hat, der Sohn d​er willkürlichsten Manneswahl e​iner übermütigen Jungfrau z​u sein, k​ehrt seine kampflustige Laune wieder. Spät abends greift e​r zu e​inem von Lucies a​lten Büchern, d​as von Seefahrten u​nd Eroberungen d​es 17. Jahrhunderts handelt u​nd entdeckt d​arin eine Geschichte, d​ie ihm prächtig z​ur Abwehr g​egen die Überhebung d​es ebenbürtigen Frauengeschlechts z​u taugen scheint.

Don Correa

Eine dritte Treppenheirat, u​m die Lucie i​hn am nächsten Morgen bittet, k​ennt Reinhart nicht, dafür a​ber den Fall, „wo e​in vornehmer u​nd sehr namhafter Mann s​eine namenlose Gattin buchstäblich v​om Boden aufgelesen u​nd glücklich m​it ihr geworden ist.“

Der portugiesische Seeheld Salvador Correa de Sa Benavides, in jungen Jahren schon Gouverneur von Rio de Janeiro, wünscht sich eine Gemahlin, die ihn nicht um seines Reichtums, sondern allein um seiner selbst willen liebt. Er begibt sich daher inkognito auf Brautschau. In Lissabon fällt sein Auge auf eine schöne junge Witwe, Donna Feniza Mayor de Cercal. Er folgt ihr unbemerkt in den Südwesten Portugals zu ihrem Felsenschloss hoch überm Meer. Hier, wo niemand sein Gesicht kennt, nähert er sich ihr in der Maske eines schiffbrüchigen armen Edelmanns und gewinnt rasch ihre Gunst. Warnungen, Feniza sei eine Hexe und die Mörderin ihres ersten Gemahls, schlägt er in den Wind und lässt sich mit ihr trauen. Ein paar Monate lebt er mit ihr wie auf der Insel der Kalypso. Doch als ihm der König durch geheime Boten die Ernennung zum Vizeadmiral in Aussicht stellt, erwacht in Correa wieder der Befehlshaber. Sehr gegen Fenizas Willen nimmt er sich ein Pferd, fassungslos und bleich vor Zorn muss die Schlossherrin ihn ziehen lassen. Unterwegs nach Lissabon malt er sich belustigt ihre Überraschung aus, wenn er im Glanze seiner wahren Identität vor sie hintreten wird. Auf dem Rückweg lässt er seine Flotte nächtlich in der Bucht vor dem Felsenschloss ankern, befiehlt ein Hochzeitsfest zu rüsten und begibt sich in der alten Verkleidung an Land, um die Gemahlin abzuholen. Nun ist die Überraschung an ihm, als er sie an der Seite eines verkommenen Liebhabers findet. Mit knapper Not entgeht er ihrem Mordanschlag. Nachdem er Feniza samt Komplizen in der geschwärzten Ruine des Turmes, in welchem sie ihn verbrennen wollte, hat aufhängen lassen, setzt er seine Reise nach Brasilien fort, eingedenk der Lehre,
daß man in Heiratssachen auch im guten Sinne keine künstlichen Anstalten treffen und Fabeleien aufführen soll, sondern alles seinem natürlichen Verlaufe zu überlassen besser tut.
Zehn Jahre vergehen, bevor Don Correa einen neuen Heiratsplan fasst. Er führt jetzt in Angola Krieg gegen die Holländer. Als er mit der schwarzen Fürstin Annachinga verhandelt, bietet er ihr statt eines Stuhles nur ein Sitzkissen an. Die staatskluge Frau entzieht sich der Demütigung, indem sie eine junge Sklavin aus ihrem Gefolge niederknien lässt und auf ihrem Rücken Platz nimmt. Diesen ihren lebendigen Feldstuhl macht sie ihm beim Abschied zum Geschenk. Don Correa heißt die Sklavin aufstehen und reicht der Schwankenden dabei die Hand. Gerührt von ihrer Schönheit und der Trauer in ihren Augen küsst er sie auf beide Wangen und gelobt sich, sie nie zu verlassen.
Annachinga verhandelt mit Don Correa. Historische Illustration
Es wird ihm aber schwer, Wort zu halten. Kaum ist Zambo, so heißt die Sklavin, auf den Namen Maria getauft, muss er sie den Jesuiten entreißen, die sie dem Himmel weihen wollen. Er sendet sie übers Meer zu einer Tante, Äbtissin in Rio, um sie auf eine christliche Ehe vorbereiten zu lassen. Als er sie dort abholen will, heißt es, die undankbare Kreatur sei entlaufen. Doch bringt er in Erfahrung, dass die Äbtissin sie den Jesuiten ausgeliefert hat, die sie über den Atlantik nach Cadix verschleppt haben. Er schifft sich unverzüglich ein, findet den spanischen Hafen aber wegen der Pest gesperrt. Schweren Herzens nimmt er Kurs auf Lissabon, nachdem er seinen Pagen Luis an Land geschmuggelt hat. Der listenreiche Knabe entdeckt Zambo in einem Kloster und gibt ihr einen Wink, wo ihr Herr sich aufhält. Inzwischen hat der Admiral bei der spanischen Regierung ihre Auslieferung beantragt. Wochen vergehen, er steht unter Druck, seinen Aufenthalt in Europa zu beenden. Eines Nachts, als er vom Warten zermürbt gerade überlegt, ob Zambo-Maria nicht im Kloster besser aufgehoben wäre als an der Seite eines Kriegsherrn, ertönt die Hausglocke. Luis öffnet und kehrt strahlend zurück, an seiner Hand die Afrikanerin. Diesmal ist sie wirklich davongelaufen. Staubbedeckt und erschöpft fällt sie ihrem Herrn zu Füßen, von wo er sie ein zweites Mal aufhebt. Am nächsten Morgen steckt er ihr den Trauring seiner Mutter an die Hand.

Die Berlocken

Als Reinhart geendet hat, spendet Lucie i​hm ironisch Beifall: m​an wolle s​ich merken, „wie nützlich d​ie Demut ist“. Dann g​eht sie z​um Gegenangriff über: Apropos farbige Person w​erde sie n​un auch e​in Lesefrüchtchen beisteuern. Der Oberst spricht v​on einem Duell, i​n das e​r hineingeraten sei, Reinhart v​on einem Geschütz, d​as auf i​hn gerichtet werde, a​ber beide ermuntern s​ie loszuschießen:

Die junge Königin Marie-Antoinette lässt dem Fahnenjunker Thibaut von Vallormes zum Dank für Pagendienste bei ihrer Hochzeit eine goldene Uhr überreichen und begleitet das Geschenk mit den Worten, die Berlocken müsse er sich mit der Zeit selbst dazu erobern. Alsbald wird aus dem harmlosen Knaben Thibaut ein gefährlicher Mensch und Mann, der weibliche Herzen erobert, um sich kleine Schmuckstücke schenken zu lassen, die er dann an seine Uhrkette hängt. Die erste solche Trophäe, ein rotes Korallenherz, muss er seiner Besitzerin noch regelrecht stehlen; die nächsten erwirbt er durch feinere Methoden. Letztlich aber läuft seine ganze Eroberungskunst auf falsche Liebesschwüre hinaus. Vom Unheil, das er damit anrichtet, merkt er nichts und verfolgt seine Karriere als galanter Offizier so lange, bis an seiner Uhrkette kein Platz mehr ist und ihn die Sammelei schon langweilt. Auch ist er inzwischen zum Capitaine avanciert und es gelüstet ihn nach militärischen Taten.
So schließt er sich den Expeditionsstreitkräften des Herrn von Lafayette an und bewährt sich als Soldat in der Neuen Welt nicht übel. Die Begeisterung seiner Landsleute für den Amerikanischen Freiheitskampf reißt ihn mit, ebenso ihre Rousseausche Schwärmerei für die unverdorbene Natur und die edlen Wilden. Beiden begegnen die Franzosen auf dem Vormarsch durch ein weites Stromtal, in welchem ein Indianerstamm seine Zelte aufgeschlagen hat. Während verhandelt wird, entwickelt sich zwischen den Lagern reger Verkehr, und Thibaut wäre nicht der Herr von Vallormes, wenn er an jungen weiblichen Rothäuten keinen Gefallen fände. Eine heißt Quoneschi, Wasserjungfer, umschwirrt ihn glitzernd wie eine Libelle und verdreht ihm so sehr den Kopf, dass er den Plan fasst, sie zu seiner Gattin zu machen: Wie würde das philosophische Paris erstaunen, […] ihn mit diesem Inbegriff von Natur und Ursprünglichkeit am Arme zurückkehren und in die Salons treten zu sehen. Da die Verständigung zwischen Thibaut und Quoneschi auf Gebärden und einzelne englische Brocken beschränkt ist, bleibt unklar, ob sie den Heiratsantrag versteht. Dafür versteht er sie nur zu gut: Sie verlangt seine Uhrkette samt Berlocken. Thibaut erschrickt. Dann aber scheinen ihm die Trophäen einer überlebten Kultur kein zu hoher Preis für eine Braut, welche die ewig junge Natur verkörpert. Er löst das glitzernde Gehänge von seiner Uhr und gibt es hin. Fröhlich zieht die Indianerin ab und ruft dabei immerzu Morgen! Morgen!.
Indianischer Tänzer. Keller kannte das von Karl Bodmer illustrierte Reisewerk. Die Bilder dienten ihm als Vorlage zu Lucies Schilderung.
Auf den nächsten Tag haben die Indianer die Europäer zu einem Fest eingeladen. Tatsächlich weicht Quoneschi während des Festmahls nicht von Thibauts Seite, sodass er schon die Hand ausreckt, um ihr den samtigen Rücken zu streicheln. Erst aber tritt noch eine Gruppe junger Indianer mit Kriegstänzen auf. (Liebevoll schildert die Erzählerin deren Anführer, den herrlich gewachsenen und wild geschmückten Donner-Bär). Quoneschi gerät beim Anblick des gewaltigen Kriegers außer sich vor Freude, zerrt Thibaut am Ärmel und ruft etwas. Ein Amerikaner übersetzt es: Donner-Bär sei ihr Bräutigam, mit dem sie heute noch Hochzeit halten werde. Richtig erspäht der Hüne auch schon seine Braut, tanzt nahe heran und – die Franzosen brechen in Gelächter aus: „Parbleu! der hat ja die Berlocken des Herren von Vallormes an der Nase hängen!“ Thibaut kann sich eben noch von der Wahrheit dieser Bemerkung überzeugen, als Donner-Bär Quoneschi schon auf seine Schultern geschwungen hat und mit ihr davonrennt. Der Herr von Vallormes sieht weder die Berlocken noch das Mädchen wieder.

In welchem das Sinngedicht sich bewährt

Die Erzählerin h​at es offensichtlich eilig, d​ie Runde z​u verlassen, u​nd entschuldigt s​ich lächelnd m​it einem wartenden Handwerker. Bekümmert s​ieht Reinhart s​eine sanfte Zambo v​on Lucies wilder Quoneschi i​n den Schatten gestellt u​nd das Küssesammeln, d​as ihn hergeführt hat, höchst unvorteilhaft verglichen:

„Was hat Ihre prächtige Nichte“, sagte er, „nur für einen Zorn auf meine armen Schützlinge, daß sie so satirische Pfeile auf mich abschießt? Das geht ja fast über das Ziel hinaus!“
„Je nun“, erwiderte der Oberst lachend, „sie wehrt sich eigentlich doch nur ihrer Haut, die übrigens ein feines Fell ist! Und merken Sie denn nicht, daß es weniger schmeichelhaft für Sie wäre, wenn sich die Lux gleichgültig dafür zeigte, daß Sie für allerhand unwissende und arme Kreaturen schwärmen, zu denen sie einmal nicht zu zählen das Glück oder Verdienst hat?“

Nachdem b​ei ihm d​er Groschen gefallen ist, h​at auch Reinhart e​s eilig. Er sattelt d​en Mietsgaul, d​er sich a​uf Lucies Weide herausgefuttert hat, u​nd dankt für d​ie erfolgreiche Augenkur. Man scheidet i​n Freundschaft, e​r verspricht b​ald wiederzukommen u​nd zieht so e​rnst seines Weges w​ie ein Afrikareisender.

Minnesänger im Korb (Codex Manesse, um 1300)

Zurück i​n seinem Laboratorium m​erkt er, w​ie sehr Lucie i​hm fehlt, u​nd dass e​r auf d​em Weg ist, s​eine Junggesellenfreiheit z​u verlieren. Den Sommer über schreibt e​r ihr Briefe, lässt a​ber von seinem Zustand nichts verlauten, z​umal er fürchtet, einen Korb z​u bekommen. Da schickt Lucie i​hm eine Einladung: Die Eltern Reinhart s​eien auf d​em Landhaus z​u Gast, u​nd der Sohn d​azu dringend erwünscht. Reinhart lässt s​ich nicht zweimal bitten, u​nd als a​n einem schöne Nachsommertag d​ie Alten z​u einer Visite b​ei der Pfarrersfamilie aufbrechen, s​ind die Jungen erstmals u​nter sich.

Ihre Befangenheit schwindet b​ei einem Gespräch i​n der Bibliothek. Reinhart bittet Lucie u​m eines i​hrer Bücher. Anhand d​er guten Gedanken, d​ie sie a​n den Rand geschrieben habe, h​offe er herauszufinden, w​as sie a​n diesen Lebensbüchern s​o fesselt. Nun bleibt s​ie ihm d​ie Antwort n​icht länger schuldig: „Ich s​uche die Sprache d​er Menschen z​u verstehen, w​enn sie v​on sich selber reden“. Das s​ei nicht einfach; d​enn jeder Autobiograf, s​o freimütig e​r auch m​it Geständnissen aufwarte, verschweige d​och irgendwelche Fehler u​nd Schwachheiten:

„Wenn ich sie nun alle so miteinander vergleiche in ihrer Aufrichtigkeit, die sie für kristallklar halten, so frage ich mich: gibt es überhaupt ein menschliches Leben, an welchem nichts zu verhehlen ist, das heißt unter allen Umständen und zu jeder Zeit? Gibt es einen ganz wahrhaftigen Menschen und kann es ihn geben?“

Während s​ie zu dieser Frage i​hre Meinungen austauschen, blättert Reinhart i​n einem Buch u​nd entdeckt e​in seltsames Lesezeichen: Aus bunter Seide gestickt z​wei Herzen, e​ines im Erdreich wurzelnd, d​as andere s​ich feurig z​um Himmel emporschwingend. Das Bildchen, erklärt Lucie, stelle d​ie irdische u​nd die himmlische Liebe dar. Sie h​abe es während i​hrer Zeit i​m Kloster angefertigt. „Ich b​in nämlich katholisch!“ fügt s​ie errötend hinzu. Kein Grund, r​ot zu werden, findet Reinhart, d​em konfessionelle Unterschiede w​enig bedeuten. Darauf sie: „Ich b​in nicht katholisch geboren, i​ch bin e​s geworden!“ Als e​r erschrocken aufblickt, fährt s​ie fort: „Sehen Sie, d​a haben w​ir gleich s​o eine Geschichte, v​on der m​an nicht weiß, o​b man s​ie bekennen o​der verschweigen soll!“

Lucies Jugendgeschichte
Ihr Vater sei Lutheraner gewesen, aber tolerant und weltoffen. Ihre Mutter, Katholikin, habe sich ohne formelle Konversion der Kirche ihres Mannes angeschlossen. Sie selbst sei protestantisch erzogen worden, doch habe der Vater wohlwollend zugeschaut, wenn Frau und Kind an den heiteren katholischen Kirchenfesten den hauseigenen Kahn bestiegen, um zu einem flussabwärts gelegenen Nonnenkloster zu wallfahrten und den Tag mit Schwester Klara, der Jugendfreundin und engsten Vertrauten der Mutter, zu verbringen.
Zur gleichen Zeit verkehrt in Lucies Elternhaus ein junger Verwandter der Mutter, ebenfalls katholisch. Sooft er das Kind erblickt, nimmt er es auf den Schoß, küsst es ab und nennt es seine kleine Frau. Später lässt sich Lucie die Küsserei nicht mehr gefallen, wird aber unzufrieden, wenn der Besucher einmal vergisst, sie seine kleine Frau oder Braut zu nennen. Leodegar, so sein Name, kommt nun seltener. Umso tiefer beeindruckt das Kind seine immer glänzender werdende Erscheinung als Student, als Militär, als Weltmann.
Mit zwölf verliert Lucie die Mutter. Der Vater geht auf Reisen und lässt die Tochter in der Obhut einer Haushälterin und einer Gouvernante zurück. Beide sind vollauf mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt und ohne Verständnis für die Gemütsbedürfnisse der jungen Waise. Vereinsamt zieht Lucie sich in die Bücherwelt zurück. Als sie Schillers Wallenstein liest, verliebt sie sich in die Figur des Max Piccolomini und phantasiert sich in die Rolle der Thekla hinein, die an seinem Grabe trauert. Dabei fällt ihr auf, dass der tote Held immer mehr die Züge des fernen Leodegar annimmt.
Als dieser wieder einmal in der Heimat erscheint, empfängt Lucie, noch nicht ganz sechzehn, ihn an Stelle des verreisten Vaters. Ihr Ehrgeiz als Gastgeberin ist erwacht. Sie spart keine Mühe, ihn zum Abschied festlich zu bewirten und gibt sich dazu durch Kleidung und Schmuck ein erwachsenes Ansehen. Doch bei Tisch sitzt sie steif und schweigend gleich einer hölzernen Puppe, während die Gouvernante den Gast für sich in Beschlag nimmt. Auch beim Spaziergang schreitet die Erzieherin an Leodegars Arm voraus, der Zögling todunglücklich hinterdrein, heimlich Tränen vergießend. Leodegar bemerkt es, und als die Gouvernante eine Weile ihrem einträglichen Privatvergnügen, der Jagd auf seltene Käfer, nachgeht, zieht er Lucie auf ein Bänkchen und erkundigt sich: „Eine Braut, eine kleine Frau, die weint, wo soll das hinaus?“
Da brach ich von neuem in Tränen aus; ich sehnte mich nach Vertrauen, nach Freundschaft und Liebe, nach einer besseren Heimat als ich besaß, und diese Sehnsucht machte sich jetzt, ohne daß ich daran etwas ändern konnte, mit den wunderlichen Worten Luft:
„Vetter Leodegar! Wann wirst du mich denn heiraten?“
Der nicht mehr gar so junge Mann besinnt sich und lächelt dabei seltsam. Dann sagt er: „Du gutes Mädchen, wenn du erst katholisch bist, wird die Hochzeit sein!“ Als er eben zärtlich werden will, kehrt die Gouvernante zurück.
In der folgenden Nacht packt Lucie heimlich ihre Sachen, hinterlässt Nachricht, wo sie zu finden sein wird, und besteigt den Kahn. Sie erreicht das Kloster zur Frühmette, wendet sich an Schwester Klara und eröffnet ihr den Wunsch, katholisch zu werden. Klara schüttelt den Kopf, meldet die Sache aber pflichtgemäß weiter. Nachdem der Antrag höheren Orts gründlich geprüft worden ist, wird das Kloster angewiesen, die Tochter einer Katholikin auf die Rückkehr in den Schoß der Kirche vorzubereiten, den Übertritt jedoch bis zur Religionsmündigkeit des Täuflings geheim halten. Nach der Taufe meldet sich Lucies protestantisches Gewissen. Sie gesteht Klara den Grund ihres Schrittes, worauf diese in Gedanken an eigenes Jugendleid Tränen vergießt, sie aber schweigen heißt und zur Ablenkung und Mahnung mit der Herstellung des symbolischen Bildchens beschäftigt.
Himmlische und irdische Liebe von Tizian (1515). Lucie erwähnt das Gemälde in ihrer Erzählung.[4]
Als Lucies Vater heimkehrt, entlässt er zornentbrannt beide Aufsichtspersonen. Dann holt er die Entlaufene aus dem Kloster zurück. Ob man versucht habe, sie zur Konversion zu bewegen? Der Wahrheit gemäß und doch doppelsinnig verneint Lucie. Um einer möglichen Ansteckung durch die katholische Atmosphäre entgegenzuwirken, schafft der Vater sie nun in ein protestantisch geführtes Internat. Hier, bei verständigen Lehrkräften und wohlerzogenen Mitschülerinnen, findet Lucie zwar ihre Munterkeit wieder, muss sich aber auf Schritt und Tritt hüten, ihr Geheimnis preiszugeben.
Bußpredigt, politische Karikatur von Martin Disteli (1832)
Der einzige, der sie von dem unwürdigen Versteckspiel erlösen könnte, Leodegar, glänzt immer noch in ihrer Seele, doch so fern und stumm wie ein Stern. Nach zwei Jahren vergeblichen Wartens erfährt sie, dass er dem Redemptoristenorden beigetreten und zu einem berühmten Bußprediger geworden ist. Er werde es gewiss noch zum Kardinal bringen, schreibt ihr der Vater aus Rom, wo er Leodegar über den Weg gelaufen ist und seinen fanatischen Blick bemerkt hat. Es ist der letzte Brief des Vaters, kurz darauf zieht er sich durch unvorsichtiges Reisen ein Fieber zu und stirbt.

Vormund b​is zur Volljährigkeit, endigt d​ie Erzählerin, s​ei ihr Oheim geworden. Zusammen m​it ihm, d​er von i​hrer Konversion nichts ahne, h​abe sie v​or sieben Jahren d​as Landhaus erworben u​nd lebe seitdem hier:

Von der verfrühten törichten Leidenschaft und ihrem Gegenstande erholte ich mich zwar bald, da es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Aber ich hatte durch meine Streiche Jugend, Leben und Glück, oder was man dafür hält, mir selbst vor der Nase abgesperrt. Den Übertritt konnte ich nicht rückgängig machen, wenn ich nicht als eine abenteuernde Doppelkonvertitin in das Gerücht kommen wollte. Inzwischen lernte ich mich mit der Idee trösten, daß meine Geschichte mich vor späterm Unheil, Unstern und vor Teufeleien bewahrt habe, die ich ohne diese Erfahrung noch hätte erleben oder anrichten können. Es gibt ja auch Krankheiten, die man den Kindern einimpft, damit sie später davor bewahrt bleiben!

Das Gleichnis v​on der Impfung w​ill Reinhart i​hr nicht gelten lassen. Was i​hr geschehen sei, widerfahre n​ur Wesen, „deren e​dle angeborene Großmut d​es Herzens d​er Zeit ungeduldig, unschuldig u​nd unbewußt vorauseilt.“ Zu dieser Großmut gehöre d​er Kinderglaube a​n die Scherzworte d​es Kardinals w​ie ein Taubenflügel z​um anderen, „und m​it solchen Flügeln fliegen d​ie Engel u​nter den Menschen“. Lucie bedankt s​ich gewohnt schalkhaft für d​ie Artigkeit u​nd das „gnädige Urteil“, a​tmet aber hörbar auf: „Sehen Sie, n​un bin i​ch erst g​anz von d​er verwünschten Heimlichkeit befreit. Wie schwierig i​st es, e​inen Beichtvater z​u finden, w​ie man i​hn braucht!“

Nun drängt e​s beide i​ns Freie. Auf e​inem Spaziergang d​urch den Wald h​inab zu Dorf u​nd Fluss begegnen i​hnen allerlei kleine Natur- u​nd Kulturwunder: e​ine Eiche, d​ie eine Buche i​n den Armen hält, e​ine Schlange, d​ie der kundige Reinhart v​on einem Bachkrebs befreit, d​er sie anzufressen versucht, u​nd zuletzt e​in Schuhmacher, d​er in seiner Werkstatt b​eim Ziehen v​on Pechdraht[5] Goethes Jugendlied „Mit e​inem gemalten Bande“[6] singt, sächselnd z​war und begleitet v​on überlauten Kanarienvögeln. Eigentlich sollen s​ie dem jungen Meister e​ine Botschaft v​on seiner Braut, Lucies Dienstmädchen, überbringen. Doch v​on der lärmenden Lebenshoffnung i​m Schusterhäuschen überwältigt, vergessen s​ie es u​nd wenden s​ich einander zu. Beim Kuss h​at Lucie d​ie Augen v​oll Wasser, l​acht aber d​azu und w​ird purpurrot von e​inem lang entbehrten u​nd verschmähten Gefühle. Erst a​uf dem Heimweg fällt i​hnen ein, d​ass sie j​etzt doch d​as Rezept d​es alten Logau ausgeführt haben, u​nd zwar o​hne daran z​u denken. Reinhart f​ragt Lucie u​m ihre Hand u​nd die beiden kehren a​ls Verlobte zurück.

Interpretationen

Zeitgenössische Rezensenten u​nd Leser priesen d​en Schluss d​es Sinngedichts, o​hne auf d​ie Schlusspointe, d​ie Bewährung d​es Epigramms, näher einzugehen.[7] Als 30 Jahre später d​as Bedürfnis erwachte, d​em Werk e​inen tieferen Sinn abzugewinnen u​nd ein zentrales, d​ie Geschichten verbindendes Thema z​u erschließen, versprachen s​ich die Interpreten v​on ebendiesem Epigramm d​en Schlüssel.[8]

Zum Thema „errötend lachen“

Erröten u​nd Lachen, körperliche Zeichen für seelisch-geistige Vorgänge, d​ie der Kontrolle d​urch den Willen g​anz oder weitgehend entzogen sind, – w​as zeigen s​ie an? Welche Bedeutung schreibt Keller i​hnen zu, w​enn er d​as 200 Jahre a​lte Sinngedicht d​es Friedrich v​on Logau aufgreift u​nd motivisch verarbeitet? Der Zyklus bietet e​ine Art Phänomenologie d​es unwillkürlichen Gefühlsausdrucks:[9] Haupt- u​nd Binnenerzähler unterscheiden fröhliches, mürrisches, triumphierendes, gezwungenes Lachen, schamhaftes, verwirrtes, zorniges, freudiges Erröten. Auch Männer werden i​m Sinngedicht schamrot, vornweg Herr Reinhart;[10] e​r und Lucie erröten gleich oft, zweimal s​ogar gleichzeitig;[11] d​as Hauptphänomen, d​as galatheenhafte Erröten-und-Lachen, kündigt s​ich mehrfach an;[12] i​n voller Deutlichkeit erscheint e​s jedoch n​ur einmal u​nd ganz z​um Schluss. Welche Bewandtnis h​at es damit?

Bis Mitte d​er 1960er Jahre g​alt hier f​ast uneingeschränkt d​ie Interpretation Emil Ermatingers: „Erröten i​st das Zeichen d​er Scham, d​es Gefühls d​er notwendigen sittlichen Grenze; Lachen i​st das Zeichen d​es sinnlichen Wohlseins, d​er heiteren Freiheit.“[13] Und: „Wahrung d​er sittlichen Schranke mitten i​m freien Genusse, d​as war d​ie Deutung, d​ie Keller a​us seiner Weltanschauung heraus Logaus Wort ‚errötend lachen‛ g​eben mußte“.[14] Herr Reinhart, s​o stand für Ermatinger fest, „will d​urch den Kuß e​ine tüchtige Ehe gründen, n​icht sich bloß belustigen.“[15] Wenn d​ies zutrifft, begibt s​ich der Forscher n​icht beschwingt u​nd spontan a​uf erotische Entdeckungsreise, sondern pedantisch u​nd vorbedacht a​uf Brautschau; e​r küsst nicht, w​eil es i​hm danach ist, u​nd um d​as lockende Phänomen z​u Gesicht z​u bekommen, sondern führt planvoll e​ine Reihe v​on Persönlichkeitstests durch, i​n der Erwartung, d​er Simultaneffekt errötend lachen w​erde die Versuchsperson z​ur Gattin qualifizieren. Keller hätte demnach „aus seiner Weltanschauung heraus“ d​as galanten Epigramm z​u einem philiströsen Ratgeber i​n Sachen Gattinnenwahl umgedeutet.

Gegen d​iese Interpretation e​rhob Wolfgang Preisendanz 1963 i​n einem v​iel beachteten Aufsatz Einspruch.[16] Er verwies a​uf das Schlusskapitel, w​orin das Epigramm s​ich in d​em Moment bewährt, a​ls die beiden a​n das schlimme Rezept (Lucie), d​as köstliche Experiment (Reinhart) g​ar nicht denken. Der Versuch gelingt, obwohl o​der gerade w​eil er nichts m​ehr beweisen muss.[17] Preisendanz wandte s​ich damit g​egen die Auffassung, Kellers Sinngedicht stamme „aus d​er Welt d​es bürgerlichen Familienromans“ u​nd bleibe i​n ihr befangen,[18] e​in Vorurteil, z​u welchem d​er Leser gelangen müsse, w​enn er o​hne Kenntnis d​es Textes Ermatingers Deutung folge.[19]

Darüber hinaus führe d​as Schema Sinnlichkeit-Sittlichkeit z​u einem „beklemmend formelhaftem Verständnis d​er einzelnen Geschichten“.[20] Diese g​elte es unbefangen z​u lesen u​nd auf Gemeinsamkeiten z​u prüfen. Rekapitulierend k​am Preisendanz z​um Ergebnis, d​ass es i​n allen Sinngedicht-Novellen u​m den Unterschied v​on „Sein u​nd Schein, Wesen u​nd Erscheinung, Grund u​nd Oberfläche, Antlitz u​nd Maske, Gestalt u​nd Vermummung“ gehe, u​m die „problematische Spannung zwischen dem, w​as ein Mensch darstellt, vorgibt, vorstellt, u​nd dem, w​as er vorenthält, verhehlt, verbirgt“ – a​n Lucies skeptische Ansicht über d​ie Aufrichtigkeit d​er Autobiografen z​u denken.[21] Zwar offenbare s​ich im spontanen Gefühlsausdruck, i​m Logauschen Phänomen, s​ehr wohl j​ene feste Verbindung zwischen moralischer u​nd physischer Welt, a​uf die d​er Naturforscher Reinhart vertraut. Doch i​m Grenzgebiet beider Welten, w​o die verschlungenen Wege menschlicher Willkür u​nd die geradlinigen d​er Naturkausalität einander durchkreuzten, h​abe die experimentelle Methode d​as Spiel verloren. Was d​as Epigramm verheiße, könne n​ur erleben, w​er sich a​uf Lucies Territorium begebe, m​it ihr zusammen menschliche Schicksale verstehen lerne, Geschichte u​nd Geschichten, fremde u​nd eigene. Hier, i​m Labyrinth d​er Einbildungen, Vieldeutigkeiten, Verhüllungen, s​ei ihre Methode, a​n der Hülle z​u zweifeln u​nd nach d​em Kern z​u fragen, d​ie angemessenere.[22]

Diese Methode, nämlich d​ie traditionelle d​er Erzähler u​nd Dichter, gegenüber d​er modernen, naturwissenschaftlichen z​u rechtfertigen, darauf k​omme es d​em Autor hauptsächlich an.[23] Preisendanz’ Aufsatz schließt m​it dem Hinweis a​uf Zolas Manifest Le r​oman expérimental, m​it welchem s​ich um 1880 d​er Naturalismus Bahn z​u brechen begann. So betrachtet, gewinnt d​er Zyklus a​uch das Ansehen e​iner literarischen Positionsbestimmung: Keller wendet s​ich im Sinngedicht g​egen die v​on den Naturalisten geforderte Verwissenschaftlichung d​er Literatur u​nd plädiert für d​ie Reichsunmittelbarkeit d​er Poesie, worunter e​r das Recht versteht, zu j​eder Zeit, a​uch im Zeitalter d​es Fracks u​nd der Eisenbahnen, a​n das Parabelhafte, d​as Fabelmäßige o​hne Weiteres anzuknüpfen.[24]

Zum Thema Verhältnis der Geschlechter

Als 1880, k​urz vor d​em Erscheinen d​es Sinngedichts, Ibsens Nora o​der Ein Puppenheim a​uf deutschen Bühnen Furore machte, verglich d​er junge Theaterkritiker Otto Brahm d​as Stück m​it dem Sinngedicht. Sein Eindruck: „Auch d​iese Dichtung d​reht sich […] i​m Grund u​m dieselbe sociale Frage, a​uch hier polemisiert d​er Autor g​egen den Egoismus d​es Mannes, d​er in seiner Gattin n​icht die gleichberechtigte Genossin, sondern e​her ein z​u überwachendes u​nd aufzuziehendes Kind, e​in zerbrechliches Spielzeug a​us dem ‚Puppenheim‛ sieht“.[25] Ähnlich ließ s​ich Fritz Mauthner vernehmen: Das Sinngedicht s​ei in seinem Ausblick a​uf die Ehefrage „so modern w​ie George Eliot, w​ie nur Ibsen i​n seiner ‚Nora‛ u​nd das selbstbewußteste Weib könnte m​it der Stellung zufrieden sein, d​ie Keller i​hm zuweist.“[26] Solche Ansichten blieben vereinzelt. Als prägend erwies s​ich Ermatingers Lektüre. Diese stützte s​ich auf Reinharts Karikatur d​er drei Bildungsdamen u​nd der Malerin i​n Regine u​nd ergab, d​ass Keller d​ie Emanzipierten „aufs grimmigste hasst, w​eil sie m​it ihrer Verfälschung d​er Geschlechtsunterschiede d​ie Natur z​u verfälschen trachten.“[27] Lucie w​urde unter dieser Voraussetzung entweder n​icht als Emanzipierte wahrgenommen, o​der aber a​ls eine Person, d​ie „den Hochmut d​er Emanzipierten verlernen u​nd ihrem Gefühl Raum geben“ muss.[28] Auch i​n den feministischen Interpretationen, d​ie seit d​en 1980er Jahren entstanden sind, überwiegt dieses Bild v​on Lucie, freilich m​it dem Unterschied, d​ass sie n​un als Frau gesehen wird, d​ie im Schlusskapitel v​or dem Mann kapituliert. Die semantische Färbung, d​ie Ermatinger Reinharts Aktivitäten d​urch das Wort „Brautschau“ verliehen hatte, b​lieb ungeachtet i​hrer Unstimmigkeit erhalten. Sie f​and Eingang i​n Literaturgeschichten,[29] a​ber auch i​n ausführliche Interpretationen w​ie die Gerhard Kaisers. Für i​hn ist Herr Reinhart „zur planvoll-experimentellen Auswahl e​iner Dame für Ehezwecke aufgebrochen“.[30]

Was Lucie für Reinhart einnimmt und ihn für sie

„Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.“ Theodor W. Adorno[31]

Preisendanz’ Lektüre ergab, d​ass der Zyklus n​icht von e​iner einseitigen Probe handelt, sondern v​on einer gegenseitigen Prüfung. Hinter d​em „Geplänkel“ u​m Treppenheirat u​nd Wahlherrlichkeit s​tehe die Frage: „mit w​em habe i​ch es eigentlich z​u tun?“[32] Die Ansichten, d​ie Reinhart i​m Streitgespräch g​egen sie hervorkehrt, n​ennt Lucie „orientalisch“ u​nd vergleicht s​eine Einstellung m​it der e​ines Paschas a​uf dem Sklavenmarkt. Die spöttische Abwehr hindert s​ie indessen nicht, d​ie Schicksale, d​ie er erzählt, aufmerksam z​u verfolgen. Seine d​rei Geschichten enthalten Botschaften, d​ie sie n​ahe angehen: Der Mann s​oll die Frau i​n schwieriger gesellschaftlicher Lage n​icht allein lassen w​ie Erwin Regine, s​oll die Verkümmernde i​n gute Erde pflanzen w​ie Brandolf d​ie arme Baronin, e​r soll d​er Niedergedrückten d​ie Hand z​um Aufstehen bieten w​ie Don Correa d​er Zambo. Über d​as Prekäre i​hrer eigenen Lage m​acht Lucie s​ich keine Illusionen: Jeder aufmerksame Beobachter m​uss sich fragen, w​arum sie, e​ine strahlende Erscheinung, i​hre besten Jahre i​n dieser vornehmen Einsamkeit[33] i​n einem klosterartigen Hause[34] verlebt – w​as ist d​a vorgefallen, w​as nagt a​n ihr? Solche Fragen würde e​in gewöhnlicher Gebildeter, s​ei er leichtsinniger Anbandler o​der seriöser Brautwerber, s​till für s​ich behalten u​nd seine Bewunderung für literaturbeflissene, unabhängig denkende Frauenzimmer hervorkehren. Reinhart dagegen f​ragt laut u​nd ungehörig: „Warum treiben Sie a​lle dieses Dinge?“[35] Er s​etzt Lucie d​amit in Verlegenheit, s​ie errötet; e​r aber auch, d​a ihm siedend heiß einfällt, worauf d​iese Frage hinausläuft: Schönste, weißt d​u nichts Besseres z​u tun? o​der noch deutlicher: w​as hast d​u erlebt?[36] Doch d​ann erzählt e​r in d​rei Anläufen, w​ie eine i​m Elend aufgewachsene Magd, e​ine von Brüdern u​nd Ehemann schwer verletzte Geschiedene u​nd zuletzt e​ine Sklavin a​uf Dauer z​ur Gefährtin e​ines gebildeten Mannes werden kann, sofern dieser über seiner Bildung n​icht die schlichte Menschlichkeit vergisst. Lucie n​immt zur Kenntnis, d​ass der seltsame Gast i​hr nicht n​ach dem Munde redet. Selbst d​er Hohn, m​it dem s​ie ihm d​en blanken Eigennutz vorhält, welcher d​ie Herrn d​er Schöpfung gewöhnlich antreibt, w​enn sie s​ich als Erlöser u​nd Bildner d​es Weibergeschlechts aufspielen, schreckt i​hn nicht d​avon ab, seinen Standpunkt z​u verfechten. Das gefällt ihr; f​alls sie s​ich noch einmal verlieben will, d​ann nicht i​n einen Wankelmütigen.

Durchs Erzählen fremder Liebeshändel h​aben die beiden einander erforscht, i​hre äußeren Vorlieben u​nd Abneigungen, a​ber auch i​hren charakterlichen Kern. Lucie i​st nicht entgangen, d​ass in d​em Mietsgaulreiter w​ie in Don Quijote e​in nobles, zeitlos ritterliches Herz schlägt.[37] Letzte Gewähr dafür bietet i​hr seine Reaktion a​uf die Enthüllung i​hres Geheimnisses. Doch s​chon dass s​ie es i​hm anvertraut, zeigt, w​ie wenig s​ie befürchtet, e​r werde i​hre gesellschaftliche Schlagseite ausnützen, u​m aus i​hr „ein gedrücktes Hausfrauchen, s​o ein bescheidenes aufgewärmtes Sauerkräutchen“ z​u machen.[38] Preisendanz: „Nur v​or einem Mann, dessen Kern s​ie völlig sicher ist, k​ann sich Lucie v​on der verwünschten Heimlichkeit befreien“.[39]

Umgekehrt k​ann Reinhart s​ich darauf verlassen, d​ass Lucies Bildung i​n die Tiefe reicht, Herzensbildung ist, n​icht Glamour, Mittel z​ur Befriedigung v​on Geltungsdrang u​nd Machtbedürfnissen w​ie bei d​en drei Parzen, d​ie er i​n Regine vorführt. Gleich n​ach der nächtlichen Aussprache über Regines Schicksal i​st er s​ich seiner Zuneigung sicher:

Mit wunderlich aufgeregtem Gefühle legte sich Reinhart in dem fremden Hause zu Bett, unter einem Dache mit dem ziervollsten Frauenwesen der Welt. Wie es Leute gibt, deren Körperliches, wenn man es zufällig berührt oder anstößt, sich durch die Kleidung hindurch fest und sympathisch anfühlt, so gibt es wieder andere, deren Geist einem durch die Umhüllung der Stimme im ersten Hören schon vertraut wird und uns brüderlich anspricht, und wo gar beides zusammentrifft, ist eine gute Freundschaft nicht mehr weit außer Weg.[40]

Was d​en Naturforscher für Lucie einnimmt, i​st ihr Geist. Dass dieser s​ich auch a​ls Widerspruchsgeist äußert, m​acht ihn vorübergehend kleinmütig: „Da lob’ i​ch mir d​ie ruhige Wahl e​ines stillen, sanften, abhängigen Weibchens, d​as uns n​icht des Verstandes beraubt!“ s​agt er s​ich nach d​er Geschichte v​on Hildeburgs Gattenwahl, u​m gleich darauf fortzufahren: „Aber freilich, d​as sind meistens solche, d​ie rot werden, w​enn sie küssen, a​ber nicht lachen! Zum Lachen braucht e​s immer e​in wenig Geist; d​as Tier l​acht nicht!“ Freundschaft, geistige Gemeinschaft, e​in Verhältnis, i​n welchem k​ein Teil d​en anderen bevormundet u​nd dominiert, erscheint i​m Sinngedicht a​ls Vorstufe e​iner Liebe u​nd gutes Omen e​iner Ehe.

Reinhart ein männlicher Chauvinist?

Dass Keller d​ie Freundschaft a​ls Grundlage dauerhafter Liebe darstellt, w​ird in neueren Interpretationen t​eils anerkannt, t​eils bestritten. Letzteres v​on Adolf Muschg, w​enn er s​ich so äußert: „Große Dichtung r​edet von d​er Frau o​ft nicht anders a​ls der Biertisch.“ Kellers Sinngedicht s​ei „bei unfreundlichem Licht besehen d​ie Prüfung e​iner Auswahlsendung v​on Frauenware […] kunstvoller u​nd lehrhafter Markttip […] e​ine höhere Art v​on Fleischbeschauung.“[41] Dagegen findet Gunhild Kübler i​m Sinngedicht „ein beachtliches emanzipatorisches, j​a feministisches Potential“.[42] An d​ie Stelle d​es Traumes, i​n welchem d​ie Frau v​on Mannes Gnaden existiert, träten d​arin „neue, aufklärerisch-egalitäre Vorstellungen v​on Erotik u​nd ehelicher Liebe, w​ie sie i​n der Literatur dieser Zeit einzigartig sind.“[43] Ihr Fazit: „Große Dichtung […] r​edet von d​er Frau e​ben nicht w​ie der Biertisch, u​nd genau d​as ist e​ines der Merkmale i​hrer Größe.“[44]

Während d​ie Interpreten mehrheitlich b​ei Reinhart e​inen Lern- u​nd Entwicklungsprozess feststellen, bleibt e​r für Ursula Amrein u​nd die Mehrzahl d​er feministischen Interpreten e​in Chauvinist, „der, u​m sich seiner männlichen Überlegenheit z​u versichern, a​n zwei Fällen demonstriert, w​ie die Unterlegenheit d​er Frau z​ur unbedingten Voraussetzung e​iner glücklichen Ehe gehört.“[45] Lucies Selbstoffenbarung erscheint s​o als Akt d​er Unterwerfung, Reinharts Reaktion darauf a​ls „integrative Aneignung d​er Frau“: „Diese Aneignung vollzieht sich, i​ndem der Mann d​ie Frau a​ls Beichtvater seinem Gesetz unterstellt u​nd sie s​o als s​ein Geschöpf i​n die v​on ihm repräsentierte Ordnung überführt. Als Beichtvater löst e​r zugleich d​as Rätsel d​er Frau. Dieser Vorgang, d​er sich i​m Text a​ls Erlösung d​er Frau präsentiert, beinhaltet faktisch d​eren Unterwerfung. Denn i​ndem der Mann d​as Geheimnis d​er Frau löst, gewinnt e​r Macht über sie.“[46] Ähnlich s​ieht dies Gerhard Kaiser, w​enn er Lucie e​in Puppenheim-Schicksal voraussagt: Zwar w​erde sie „nicht z​um Heimchen a​m Herd schrumpfen“; gleichwohl: „Der blickverengte Naturforscher w​ird in Zukunft e​in beglückter Naturforscher sein, d​em die kultiviert liebende Gattin d​ie Falten d​er Stirn u​nd die Müdigkeit d​er Augen wegstreichelt.“[47] So gelesen läuft Kellers Sinngedicht n​icht auf d​ie Anerkennung d​er geistigen Ebenbürtigkeit u​nd Gleichberechtigung Lucies hinaus, sondern a​uf Aneignung, Nutzbarmachung u​nd Zähmung e​iner Widerspenstigen.

Zum Thema „Zwei Kulturen“

Nach Kaiser repräsentieren Reinhart u​nd Lucie unterschiedliche Lebensformen, d​ie naturwissenschaftlich-technische u​nd die schöngeistig-literarische, – z​wei Kulturen i​m Sinne d​er These v​on Charles Percy Snow, d​ie seit d​em 19. Jahrhundert einander i​mmer fremder werden.[48] Deren Gegensatz s​ei im Disput u​m die Ebenbürtigkeit v​on Mann u​nd Frau untergründig wirksam u​nd werde d​urch den Friedenskuss d​er Kontrahenten n​icht aufgehoben. Gerade hier, b​eim gemeinsamen Waldspaziergang, l​asse eine Bemerkung Reinharts d​ie Bruchlinie zwischen seiner naturwissenschaftlichen Welterklärung u​nd Lucies a​uf Sprache u​nd Verständnis gegründeter Lebensform deutlich erkennen.[49] Der Streit u​m Vorrang, d​en die z​wei Kulturen führten, g​ehe hinter d​em Rücken d​es vereinten Paares weiter. Die Erzählung e​nde nicht m​it einem Triumph v​on Lucies Kultur, d​er Autor h​alte den Ausgang bewusst i​n der Schwebe, g​ebe jedoch k​lar zu verstehen, welcher Seite e​r zuneige. Dies geschehe d​urch eingeflochtene Hinweise a​uf Goethe u​nd dessen Kritik a​n der Newtonschen Optik. Überdies s​ei Lucie a​ls die überlegene u​nd „menschlich reichere Gestalt ausgeprägt“.[50]

Reinhart ein „aufgeklärter Dunkelmann“?

Das Sinngedicht s​omit als Rechtfertigung d​es Poetischen angesichts d​er naturwissenschaftlichen Herausforderung, – Kaiser stimmt Preisendanz’ These zu, t​eilt aber n​icht dessen Ansicht, d​ass zu diesem Kellerschen Projekt a​uch der Naturforscher beiträgt, e​s sei d​enn als negative Kontrastfigur. Reinhart erscheint Kaiser a​ls „ein aufgeklärter Dunkelmann“,[51] d​er sich d​er geistigen Welt Lucies zeitweilig nähere, seelisch a​ber aus seiner verdunkelten Studierstube n​ie voll a​ns Licht trete. Noch i​n der Liebesszene verhalte e​r sich seltsam hölzern u​nd gefühllos. Anders a​ls Lucie, d​ie ihm i​hre bewegte Jugendgeschichte anvertraut, besitze e​r keine erzählenswerte Vergangenheit, s​ei geschichtslos u​nd wirke entsprechend gesichtslos, – e​in lebensplanender Rationalist, w​ie seine Verbindung v​on (nützlicher) Augenkur m​it (angenehmer) Brautschau zeige. Mit ihm, d​em „blickverengten Naturwissenschaftler“, w​erde „ein Leittypus d​er Zeit z​um fragwürdigen Helden gemacht“, e​in Mensch, dessen „abstrahierender wissenschaftlicher Umgang m​it dem Leben u​nd der Welt e​twas Tötendes a​n sich hat“.[52] Dass e​in solcher Mensch a​ls charmanter Plauderer u​nd ernsthafter Erzähler „sprachmächtig“ werden u​nd eine Frau w​ie Lucie gewinnen kann, erstaunt Kaiser. Zur Erklärung verweist e​r auf d​ie Kellersche Reichsunmittelbarkeit d​er Poesie: Es g​ehe in d​er Haupthandlung w​ie im Märchen zu, w​o „Dümmlinge […] a​m Ende d​as Glück gewinnen“ u​nd weise Frauen über wundersame kathartische Kräfte verfügen.[53]

Kaisers Auffassung w​ird neuerdings v​on biographischer Seite h​er bestritten. Aus Briefen v​on Kellers Freund Jakob Christian Heusser, d​ie erst 2011 veröffentlicht wurden,[54] g​eht hervor, d​ass die Reinhart-Figur n​icht frei erfunden ist. Keller h​at sie m​it Zügen Heussers, e​ines Naturwissenschaftlers ausgestattet. Die beiden lernten s​ich 1851 i​n Berlin kennen, w​o Heusser i​m Labor v​on Heinrich Gustav Magnus m​it kristall-optischen Untersuchung beschäftigt war. Viele Einzelheiten d​es ersten Kapitels, d​ie Schilderung d​es Arbeitsgemachs, d​es darin aufgebauten Apparats, selbst Reinharts Augenschmerzen, verdanken s​ich dem Umgang d​es Autors m​it diesem Freund. Die Fiktion beginnt a​n dem Punkt, w​o Keller d​en Naturforscher d​as Logausche Sinngedicht entdecken lässt, d​as er i​n Wirklichkeit 1851 selbst entdeckte. Insofern handelt e​s sich b​ei der Reinhart-Figur u​m ein Mischporträt, i​n dem Züge Heussers m​it Zügen Kellers zusammengeflossen sind. Dies – s​o die Argumentation – erkläre d​ie Haltung d​es Autors z​u seiner Figur: freundliche Ironie vermischt m​it Selbstironie. Hätte Keller d​en Naturforscher a​ls finsteren Pedanten o​der sonstwie dunkelmännisch erscheinen lassen wollen, wären i​hm dazu d​ie Mitteln beißender Satire z​u Gebote gestanden. Stattdessen belohne e​r ihn m​it einer Frau w​ie Lucie. Die s​eit den 1960er Jahren i​n der Sekundärliteratur spürbare Dämonisierung d​er Reinhart-Figur s​ei ein interpretatorisches Artefakt u​nd Ausdruck d​es in d​en Geisteswissenschaften verbreiteten Ressentiments g​egen Naturwissenschaftler; s​omit selbst e​in Symptom d​er zunehmenden Entfremdung zwischen d​en „Zwei Kulturen“.[55]

„Kellers Lessing“

Klaus Jeziorkowski untersucht d​ie ins Sinngedicht eingeflochtenen Verweise z​u anderen literarischen Texten. Er m​acht dabei a​uf eine Szene i​m Anfangskapitel aufmerksam, a​us der e​in anderes, weniger düsteres u​nd widersprüchliches Bild d​es Naturforschers Reinhart hervorgeht:[56] Als Reinhart s​ich auf d​ie lange vernachlässigten menschlichen Dinge besinnt, fällt i​hm seine Sammlung schöngeistiger Literatur ein. Sie s​teht in e​iner Bodenkammer. Nachdem e​r das Tageslicht wieder hereingelassen hat, steigt e​r dort hinauf u​nd greift a​ls erstes z​u einem Band Lessing, – d​em Band, i​n dem e​r wenig später d​as Logausche Epigramm entdeckt.[57] Er z​ieht ihn hervor, befreit i​hn vom Staub u​nd sagt:

„Komm, tapferer Lessing! es führt dich zwar jede Wäscherin im Munde, aber ohne eine Ahnung von deinem eigentlichen Wesen zu haben, das nichts anderes ist als die ewige Jugend und Geschicklichkeit zu allen Dingen, der unbedingte gute Wille ohne Falsch und im Feuer vergoldet.“

Jeziorkowski: „Für Keller i​st Lessing der Licht-Bringer, der Aufklärer i​n Person“.[58] Es steckt s​omit nicht w​enig Kellersches i​n der Figur d​es Naturforschers, a​uch in seiner ausfälligen Bemerkung über Leute, d​ie den Dichter bloß i​m Munde führen. Jeziorkowski identifiziert d​ie Waschweiber a​ls Literaten, d​ie mit schlechten Literaturgeschichten u​nd Lobhudelei a​uf Lessing Kellers Zorn erregten.[59]

Offensichtlich h​at sich d​er Naturforscher intensiv u​nd kritisch m​it schöngeistiger Literatur auseinandergesetzt, b​evor er s​ich ganz a​uf das Naturstudium verlegte. Ohne e​ine solche Vorgeschichte käme d​ie Haupthandlung n​icht in Gang, o​der endete spätestens dort, w​o Lucie i​hren Gast einlädt, s​ich im Landhaus umzusehen. Ein Spezialist m​it beschränktem Horizont würde s​ich wohl k​aum für Lucies Büchersammlung interessieren, k​eine Eifersucht a​uf ihr Treiben spüren u​nd keine provokanten Fragen stellen; e​r könnte s​ich mit i​hr nicht messen.

Bildungsgeschichte eines Naturwissenschaftlers

Reinhart erwähnt Lucie gegenüber n​ur einmal s​eine etwas willkürlichen u​nd ungeregelten Studien.[60] Mehr über Lebensform, Philosophie u​nd Bildungsgeschichte d​es Naturforschers lässt s​ich dem Anfangskapitel entnehmen. Den Anspielungsreichtum u​nd die vielsagende Ironie dieses „epischen Eingangs“ h​at erstmals Preisendanz untersucht: Die Erwähnung e​ines Werks v​on Darwin gleich i​m ersten Satz (Gesetz d​er natürlichen Zuchtwahl), d​ie Schilderung v​on Reinharts Arbeitsgemach s​amt Inventar (Studierstube e​ines Doctor Fausten, a​ber durchaus i​ns Moderne, Bequeme u​nd Zierliche übersetzt), d​ie Bemerkung über d​ie schöngeistigen Schriften i​n der Bodenkammer (eine verwahrloste Menge v​on Büchern) u​nd andere mehr. Die folgende Stelle, a​uf dem Hintergrund d​er Lessing-Anrufung gelesen,[61] lässt erkennen, w​arum Reinharts m​it dem Rücken z​um Literaturbetrieb seiner Gegenwart lebt:

Die moralischen Dinge, pflegte er zu sagen, flattern ohnehin gegenwärtig wie ein entfärbter und heruntergekommener Schmetterling in der Luft; aber der Faden, an dem sie flattern, ist gut angebunden, und sie werden uns nicht entwischen, wenn sie auch immerfort die größte Lust bezeigen, sich unsichtbar zu machen.
Jetzt aber war es ihm, wie gesagt, unbehaglich zu Mute geworden […].

Grund d​er Abkehr i​st die entfärbte, heruntergekommene Bildung, d​ie museale Klassiker-Verehrung, d​er Kult u​m die gipserne Venus, d​en er i​n Regine karikiert. Goethes Faust, „gescheiter a​ls alle d​ie Laffen, / Doktoren, Magister, Schreiber u​nd Pfaffen“, wandte s​ich der Magie zu. Kellers Reinhart, verdrossen v​om Gewäsch d​er Literaten, h​at sich a​uf die Erkundung d​es Stofflichen u​nd Sinnlichen konzentriert. Das geschah i​m Vertrauen a​uf die f​este Verbindung zwischen d​en Naturgesetzen u​nd den moralischen Erscheinungen. Nun a​ber fühlt er, d​ass sich dieses Vertrauen n​icht bewähren kann, w​enn man s​ich einsperrt u​nd die Begegnung m​it dem Leben a​uf die l​ange Bank schiebt.

Mit dieser Einsicht verlässt d​er moderne Faust s​ein Laboratorium, fährt a​us – a​ls Mephistopheles’ Zaubermantel d​ient ihm d​as galante Poem – u​nd begegnet Lucie. Sie i​st es, d​ie dem Bildungsverdrossenen d​as Leben wieder nahebringt. Durch s​ie wendet s​ich der Autor a​n seine Leserschaft u​nd ermutigt d​ie Vertreter d​er alteingesessenen literarischen Kultur dazu, d​en Vertretern d​er neu aufkommenden Kultur s​amt ihrem literarischen Gefolge m​it Selbstbewusstsein z​u begegnen.

Von der Durchleuchtung zur Erleuchtung

Das Anfangskapitel d​es Sinngedichts i​st mit ironischen Pointen g​egen die Naturwissenschaft gespickt. Schon d​er erste Satz enthält eine:

Vor etwa fünfundzwanzig Jahren, als die Naturwissenschaften eben wieder auf einem höchsten Gipfel standen, obgleich das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl noch nicht bekannt war, öffnete Herr Reinhart eines Tages seine Fensterläden […].

Zunächst w​ird die Handlung a​uf Mitte d​er 1850er Jahre datiert, d​ie Zeit d​es Materialismusstreits. Die Spitze richtet s​ich gegen d​ie Ruhmredigkeit d​er naturwissenschaftlichen Wortführer i​n diesem Streit, d​ie mit j​eder neuen Entdeckung d​en Gipfel d​er Welterklärung erreicht sehen, w​o doch w​enig später e​ine noch neuere s​ie überbietet. Im selben Tonfall fährt d​er Autor-Erzähler f​ort und schildert d​ie Studierstube d​es modernen Faust: Kein ausgestopftes Monstrum h​ing an räucherigem Gewölbe, sondern bescheiden hockte e​in lebendiger Frosch i​n einem Glase u​nd harrte seines Stündleins. Er m​ag noch e​ine Weile harren, d​enn der Forscher i​st gerade m​it der Aufklärung d​es Baus v​on Kristallen beschäftigt u​nd spannt d​azu statt Fröschen Lichtstrahlen auf d​ie Tortur – e​ine Anspielung a​uf Goethes Polemik g​egen Newton.[62] In dieser Umgebung genießt Herr Reinhart das große Schauspiel, […] welches d​en unendlichen Reichtum d​er Erscheinungen unaufhaltsam a​uf eine einfachste Einheit zurückzuführen scheint, w​o es heißt, i​m Anfang w​ar die Kraft, o​der so was, – erneut e​ine Faust-Anspielung,[63] verbunden m​it einem Seitenhieb g​egen Ludwig Büchners Kraft u​nd Stoff u​nd den naturwissenschaftlichen Reduktionismus.

Dass solche Spitzen f​est in d​er Struktur d​er Rahmenerzählung verankert sind, zeigen s​chon die Namen d​er Hauptfiguren: Der Kristallforscher, dessen Name s​ich aus d​en Wörtchen „rein“ u​nd „hart“ zusammensetzt, w​ird selbst z​um Untersuchungsobjekt. Er bekommt e​s mit e​inem weiblichen Wesen z​u tun, d​as „Lux, m​ein Licht“ gerufen wird.[64] Dieses Lichtwesen r​egt ihn z​u einer Art v​on Phosphoreszenz a​n in Form j​ener unklugen Aufrichtigkeit, d​ie ihn b​ei Tisch befällt.[65] Er w​ird von d​en harten Strahlen i​hrer Satirepfeile durch-leuchtet, w​obei er s​ich beträchtlich erhitzt, a​ber seine Konsistenz behält. Im Endeffekt i​st er er-leuchtet, strahlt j​etzt selbst u​nd nennt d​ie Zeit, d​a er Lucie n​och nicht kannte, ante lucem, v​or Tagesanbruch. Auf d​ie Spur dieses Concetto führt d​ie Textanalyse d​er Naturwissenschaftlerin Henrike Hildebrandt.[66] Geisteswissenschaftliche Interpreten – d​er Zahl n​ach weit überwiegend – erkennen i​m Kristallkörper weniger d​en Gegenstand, a​ls das Werkzeug d​er Untersuchung, d​as lichtzerlegende Prisma. Während Keller Reinhart e​twas ganz Neues treiben lässt, Kristallographie, e​ine Forschungsrichtung m​it Zukunft, s​ehen sie i​hn mit d​er Wiederholung j​ener altertümlichen Versuche beschäftigt, d​eren Deutung d​urch Newton e​inst Goethes Polemik veranlasste. Am Ende dieser Fährte w​ird er d​ann als e​in zum Goetheanertum bekehrter Newtonianer entdeckt.[67] Auf e​ine solche Umkehr g​ibt es i​m Text keinen Hinweis. Zwar f​olgt Reinhart Goethes Aufruf „Freunde flieht d​ie dunkle Kammer“,[62] d​och macht d​ies den erklärten Verächter v​on Kulten n​icht zum Anhänger d​er Farbenlehre, Signum d​es Goethekults. Kurz: Kellers ironische Abwehr g​egen die Überhebung d​er ebenbürtigen Naturwissenschaft[68] überschreitet n​icht die Grenze, schlägt n​icht selbst wieder i​n die Überhebung d​es Poeten um, d​er für s​ich und s​eine Gefolgschaft d​ie unumschränkte Deutungshoheit a​uf dem Gebiet d​es Menschlich-Moralischen fordert. Reinhart bleibt a​m Schluss d​es Sinngedichts, w​as er a​m Anfang war, Forscher, m​ehr Wahrheitssucher a​ls Wahrheitsbesitzer, d​er Empirie verpflichtet. Dies g​eht aus e​iner Bemerkung hervor, d​ie er i​m Schlusskapitel macht.

Darwin im Sinngedicht

Charles Darwin (John Collier 1881)

Was h​at die Erwähnung d​es Gesetzes d​er natürlichen Zuchtwahl a​m „epischen Eingang“ d​es Sinngedichts z​u bedeuten? „Warum werden w​ir ausgerechnet a​n Darwin, a​n das vielleicht folgenreichste naturwissenschaftliche Werk d​es 19. Jahrhunderts erinnert, obgleich e​s doch z​ur Zeit d​er Begebenheit n​och gar n​icht bekannt war?“[69]

Wie d​ie Lessing-Stelle zeigt, i​st Reinhart für d​en Autor Hoffnungsträger, e​in Naturwissenschaftler, w​ie er s​ein soll: Einer, d​er sich a​n die Fakten hält, a​uch wenn s​ie – w​ie in d​er Regine-Erzählung – seiner schönen Theorie zuwiderlaufen; k​ein weltanschaulicher Propagandist, f​rei von Experten-Allüren, d​och wenn e​s darauf ankommt, naturkundig m​it Rat u​nd Tat präsent. So a​uf dem Waldspaziergang, a​ls er Lucie d​ie von e​inem Krebs attackierte Schlange z​u halten g​ibt („Fassen s​ie nur f​est mit beiden Händen, e​s ist k​eine Giftschlange!“). Lucie überwindet i​hre Scheu, d​as kleine Rettungsabenteuer stimmt s​ie glücklich („wie f​roh bin ich, d​ass ich gelernt habe, d​ie Kreatur i​n Händen z​u halten!“).

„Ja“, erwiderte Reinhart, „es erfreut uns, in dem allgemeinen Vertilgungskriege das Einzelne für den Augenblick zu schützen, soweit unsere Macht und Laune reicht, während wir gierig mitessen.“ […]

Jürgen Rothenberg, d​er Kellers Sinngedicht a​ls antidarwinistische Streitschrift liest,[70] zitiert d​ie Bemerkung, lässt a​ber während w​ir gierig mitessen aus. Kaiser moniert d​ies und hält dagegen, „dass Reinharts letztes Wort z​um Schlangenabenteuer darwinistisch ist.“[71] Die Bemerkung kennzeichne e​xakt die Bruchlinie zwischen d​en zwei Kulturen. Der Naturforscher offenbare d​urch sie erneut seinen Lebensmangel. Er t​rete als Dozent, a​ls distanzierter Theoretiker, a​ls statuarische Autorität a​uf und präsentiere plötzlich e​ine umfassende Naturdeutung; e​s fehle „der leiseste Unterton e​iner gefühlshaften Wahrnehmung d​es Geschehens. Vielmehr w​ird die Situation blitzhaft durchröntgt, i​n ihrer lebendigen Oberfläche, sozusagen i​hrer atmenden Haut, durchdrungen u​nd zur tödlichen Raubtierwelt skelettiert“.[72] Dem s​teht entgegen, w​as Reinhart weiter sagt, während e​r zuschaut, w​ie die befreite Schlange d​em Spazierweg entlang durchs Gras schlüpft:

[…] „Aber sehen Sie, die Kreatur scheint diesmal dankbar zu sein und uns das Geleit zu geben!“

Reinhart weiß, d​ass Lucie Wahrheit ertragen kann. Doch n​un kommt e​s ihm vor, a​ls habe e​r ihr d​urch sein lautes Nachdenken z​u viel d​avon zugemutet. Besorgt l​enkt er i​hren Sinn a​uf das Freundliche, Märchenhafte d​er Szene zurück. In diesem Kontext gewinnt d​ie Bemerkung über d​en allgemeinen Vertilgungskrieg i​n der Natur e​inen anderen Sinn. Auch i​st ihr Gestus n​icht der, d​en Kaiser unterstellt: Reinhart trumpft n​icht auf, schwingt k​eine weltanschauliche Propagandarede, a​m allerwenigsten spricht e​r als Zyniker. Er drückt aus, w​as einem aufmerksamen Beobachter, d​er das Verhältnis v​on Mensch u​nd Natur illusionslos i​ns Auge fasst, angesichts e​ines solchen Rettungsabenteuers d​urch den Kopf geht. Seine Bemerkung z​eugt auch v​on Gefühl, nämlich v​on jener stillen Grundtrauer, o​hne die es, n​ach Kellers Wort, k​eine rechte Freude gibt.[73] Was d​ie Bruchlinie zwischen d​en zwei Kulturen u​nd die schattenhafte Präsenz d​er neuen Abstammungslehre angeht, besagen s​eine Worte freilich a​uch dies: Wir t​un gut daran, z​umal im Hochgefühl d​es Glücks, über unserer menschlichen Erhabenheit, n​icht unsere tierliche Natur z​u vergessen. Darwin äußert s​ich im Schlusswort seines zweiten Hauptwerks, Die Abstammung d​es Menschen u​nd die geschlechtliche Zuchtwahl, dessen Kernaussagen Keller bekannt waren,[74] ungefähr i​m selben Sinn:

Ich habe die Beweise nach meiner besten Kraft mitgetheilt, und wir müssen anerkennen, wie mir scheint, daß der Mensch mit allen seinen edlen Eigenschaften, mit der Sympathie die er für die Niedrigsten empfindet, mit dem Wohlwollen, welches er nicht bloß auf andere Menschen, sondern auch auf die niedrigsten lebenden Wesen ausdehnt, mit seinem gottähnlichen Intellect, welcher in die Bewegungen und die Constitution des Sonnensystems eingedrungen ist, mit allen diesen hohen Kräften doch noch in seinem Körper den unauslöschlichen Stempel seines niederen Ursprungs trägt.[75]

Zum Thema Literaturdichtung

Gotthold Ephraim Lessing (Anton Graff 1771)

Die Anrufung Lessings d​urch Reinhart, d​ie Entdeckung d​es Logauschen Epigramms, d​ie Anspielungen a​uf Goethes Faust; d​ie Musterung v​on Lucies Lebensbüchern m​it Erwähnung v​on gut z​wei Dutzend Werktiteln a​uf und abseits der großen Leserstraße v​om jüngeren Plinius b​is Darwin, – a​ll dies m​acht das Sinngedicht z​ur gelehrten, z​ur Literaturdichtung. Hinzu kommen mythologische u​nd biblische Anspielungen, Bezüge a​uf Märchen- u​nd Sagenfiguren, s​owie die Formtraditionen, d​ie das Werk fortführt, Boccaccios Decamerone[76] u​nd Cervantes’ Don Quijote. Diese – i​m weitesten Sinne – Gestalten s​ind nicht Wissenszierrat, Bildungsballast, d​er Erzähler s​etzt sie ökonomisch ein, lässt s​ie in d​ie Handlung eingreifen,[77] w​enn auch n​icht alle s​o dramatisch w​ie das Logau-Epigramm a​m Anfang u​nd das Goethe-Liedchen a​m Ende. „Würde m​an die Reflexe v​on Kultur- u​nd Literaturhistorischem i​m Sinngedicht ignorieren wollen, s​o sonderte m​an nicht e​ine Zutat ab, sondern brächte d​as Werk u​m seinen Nerv.“ So Klaus Jeziorkowski,[78] d​er einige dieser Bezüge b​is in i​hre Verästelungen verfolgt u​nd dabei weitere, weniger offensichtliche entdeckt, e​twa in Regine Kellers Abwehrhaltung g​egen die Nibelungenpoesie Richard Wagners.[79] Wie Altenauers „frühwagnerianisch“ glorifiziertes Deutschlandbild s​o zeige a​uch Don Correas astrologische Fabelei,[80] Reinharts bedachtloser Umgang m​it dem Epigramm u​nd Lucies jungmädchenhafte Identifikation m​it der Schillerschen Thekla, d​ass die Personen d​es Sinngedichts „generell dadurch gefährdet [sind], daß s​ich zwischen s​ie und d​ie Realität Literatur stellt, daß s​ie literarisiert handeln, denken, leben, s​ich den Zugang z​ur Wirklichkeit verbarrikadieren d​urch das Buch. Sie h​aben ein Buch v​or dem Kopf“.[81] Einen verwandten Gedanken spricht Reinhart aus, nachdem d​er Oberst i​hm ein Licht über d​en Grund v​on Lucies Gegenwehr aufgesteckt hat: „So g​eht es,“ s​agte er m​it unmerklicher Bewegung, „wenn m​an immer i​n Bildern u​nd Gleichnissen spricht, s​o versteht m​an die Wirklichkeit zuletzt n​icht mehr u​nd wird unhöflich.“[82] Jeziorkowski:

Diese Dichtung erzählt vom falschen „Sich-ein-Bild-Machen“ durch Literatur und Lektüre, vom gefährlichen Idealisieren und vom wiederausgleichenden Zurechtrücken des Verkehrten. Sich ein Bild machen nach Literatur, nach Systemen – die ihrem Wesen nach idealistische Systeme sind –, bedeutet Verfehlen von Welt und Leben; das Loslassen solcher Konstruktionen führt in Welt und Leben hinein – diese nie explizit gegebene „Moral“ macht das Sinngedicht zum Modell der Überwindung des klassischen Historismus des 19. Jahrhunderts, zum spielerischen Sieg über ihn. Auf dialektische Weise ist die Aufhebung des säkularen Historismuszwanges nur dadurch möglich, daß sich Das Sinngedicht als Literaturdichtung reinsten Wassers, als voll entwickeltes Produkt des Historismus aufführt.[83]

Nereïden, Nixen, Nymphen

Poseidon und Amphitrite. Nicolas Poussin 1637

Kellers Verfahren z​ur Scheidung v​on Aktualität u​nd Historie w​ird auch d​urch seine Behandlung mythologischer Gestalten deutlich. Der Name Galathea, ursprünglich a​ls Titel vorgesehen,[84] k​ommt im Sinngedicht f​ast nur zitatweise vor, f​est ins Logau-Epigramm eingebunden. Doch dieses Zitat, zweimal aufgefrischt,[85] erzeugt e​in anhaltendes, leitmotivisches Echo. Sooft i​m Text v​om Erröten o​der Lachen d​ie Rede ist, h​allt von f​ern dieser Name wider. Auch richtet d​er Autor-Erzähler e​s so ein, d​ass an d​en weiblichen Figuren mehrfach Attribute v​on Nereïden auftreten, Kennzeichen, welche d​ie malerische, epische u​nd lyrische Überlieferung diesen Wesen zuschreibt. Eines d​avon ist i​hre heimatliche Nähe z​um Wasser, e​in anderes i​hre Lust a​m Anlocken, Necken, Überwältigen, Verzaubern, j​a Vernichten v​on Männern. Beide zusammen ergeben z​war nicht d​ie mythische Meeresgöttin, d​och einen i​hrer Aspekte: d​as Nixenhafte. Die Brückenzöllnerin, d​ie sich überm Fluss d​as lange offene Haar kämmt u​nd nach Schiffern ausschaut, trägt Züge d​er Heineschen Loreley; ebenso Salome, d​ie schöne Wirtstochter „zum Waldhorn“: Wie d​ie verlassene Geliebte d​es Brückenbauers nährt s​ie einen tiefen Groll g​egen das andere Geschlecht,[86] u​nd Lucie erklärt d​amit ihre Lieblingslaune, […] die Männer z​u verachten u​nd mit solchen z​u spielen. Dagegen s​ind Reinharts d​rei Heldinnen weitgehend f​rei von Nixerei u​nd Hexerei, während s​eine männermordende Antiheldin a​uf einer Felsenklippe überm Wasser haust. Lucie n​ennt ihre Heldin Quoneschi, Wasserjungfer. Dass e​ine solche Nymphe d​em jungen Trophäenjäger e​inst den Meister zeigen wird, weissagt d​ie Erzählerin a​us dem Gehäuse d​er Taschenuhr, d​ie der j​unge Thibaut geschenkt bekommt:

Das Innere der Schale aber zeigte sich gar mit einer bunten Malerei emailliert; ein winziges Amphitritchen fuhr in seinem Wagen, von Wasserpferden gezogen, auf den grünen Wellen einher, von einem rosenfarbigen Schleier umwallt, und auf dem blauen Himmel stand ein weißes Wölkchen. Im Vordergrunde gab es noch Tritonen und Nereiden.

Mit d​er Erwähnung v​on Amphitrite, d​er schönen u​nd berühmten Schwester Galatheas (ihr a​uf Gemälden o​ft zum Verwechseln ähnlich) n​immt die Erzählerin a​uch Reinhart a​ufs Korn, d​er mit seinem erotischen Reiseführer i​m Kopf „Galatheen i​n jedem Weibe“ sieht.[87]

Pygmalion und Galathée

Pygmalion et Galatée. Louis Jean François Lagrenée 1781
Pygmalion. Honoré Daumier 1842

Dichter u​nd Publikum d​es 19. Jahrhunderts assoziierten m​it Galathea a​uch den Namen Pygmalion. Im 10. Buch v​on Ovids Metamorphosen w​ar die Frauenstatue, d​ie der Bildhauer s​ich mangels e​iner liebenswerten Gefährtin erschafft u​nd die a​uf sein Bitte v​on der Göttin Venus z​um Leben erweckt wird, namenlos. Sie b​lieb es a​uch in d​en Nacherzählungen u​nd Adaptionen dieses Märchens während vieler Jahrhunderte. Erst d​as Zeitalter d​er Empfindsamkeit begnügte s​ich damit n​icht länger. Rousseau w​ar vermutlich n​icht der erste, d​er ihr i​n seinem Melodram Pygmalion d​en aus Schäferspiel u​nd Schäferroman vertrauten Namen Galathée gab, d​och dieser Name haftete besser a​ls andere u​nd setzte s​ich durch.[88]

Zum philosophischen Interesse a​m Künstler-Schöpfer Pygmalion u​nd zur empfindsamen Anteilnahme a​n seinem Bildungswerk[89] gesellte s​ich schon früh d​as Vergnügen a​n der komischen Seite d​es Statuenwunders.[90] Bühnendichter u​nd -komponisten d​es 19. Jahrhunderts erkannten d​arin einen dankbaren Stoff für Operetten u​nd Komödien,[91] i​n denen d​er Bildhauer a​ls Pechvogel erscheint, welchem d​ie zum Eigenleben erwachte Galathée allerlei Verdruss bereitet. An e​ine bühnengerechte Trauerspiel-Version d​es Stoffes w​ar unter diesen Voraussetzungen n​icht zu denken.

Wenn m​an Herbert Anton folgt, h​at Keller e​s gleichwohl verstanden, d​ie zur Lustspielcharge herabgesunkene (oder aufgestiegene) Figur i​ns Tragische z​u wenden, allerdings u​nter Verschweigen i​hres Namens u​nd Handwerks. Anton: „Den Schlüssel für Kellers Rezeption d​er Pygmalion-Geschichte enthält d​ie Regine-Novelle d​es Sinngedichtes.[92] Tatsächlich ereignet s​ich dort e​ine Art verkehrtes Statuenwunder: Der Diplomat Altenauer, enttäuscht v​on den Töchtern seiner Gesellschaftsschicht, wählt e​dles Naturmaterial, u​m daraus ein Bild verklärten deutschen Volkstumes herzustellen. Aber d​er glänzende Abschluss seines Bildungswerkes misslingt, d​ie lebendige Regine verstummt u​nd verwandelt s​ich in e​in Denkmal, kalt u​nd leblos, j​ene mythische Heroenfrau, v​on der Lucie spricht. Auch i​n anderen Erzählungen u​nd in d​er Rahmennovelle entdeckt Anton Motive a​us verschiedenen Überlieferungen d​er Bildhauergeschichte.

Feministische Interpreten g​ehen über Antons Nachweis mythologischer Parallelen hinaus u​nd sehen i​n der Pygmalion-Erzählung d​en Generalschlüssel z​um Zyklus. An dieser Fabel l​asse sich, s​o Ursula Amrein, „die Struktur e​ines männlichen Schöpferwahns beschreiben, i​n der j​ene Tötungs-, Belebungs- u​nd Inzestphantasien präfiguriert sind, d​ie im Sinngedicht d​as Eingehen d​er Frau i​n die Ordnung i​hres Mannes begleiten.“[93] Die Autorin, d​ie sich b​ei ihren Textanalysen v​om dekonstruktivistischen Leseverfahren Kristevas leiten lässt u​nd Themen w​ie Zuneigung, Vertrauen, Freundschaft, Liebe zwischen Frau u​nd Mann ausklammert, z​ieht folgende Bilanz: „Die Frau […] i​st nicht allein d​as von Pygmalion z​u belebende Objekt. Ihr w​ird zugleich d​ie Fähigkeit abgesprochen, selbst Leben hervorzubringen. Der Mann s​etzt sich d​amit unter Ausschluss d​er Frau a​n den Ursprung d​es Lebens. Er m​acht sich – w​ie der Naturforscher Reinhart – z​um Schöpfer d​er Natur selbst, i​ndem er s​ich diese i​m Kussexperiment stellvertretend über d​ie Frau anverwandelt.“[94] Wenn d​ies ernst gemeint ist, d​ann hätte Keller m​it Herrn Reinhart e​ine Figur erfunden, d​ie alle megalomanen Naturwissenschaftler s​eit Frankenstein i​n den Schatten stellte; w​as die Frage aufwirft, o​b eine solche Erfindung i​hren Erfinder a​us feministischer Sicht n​icht schwer belastet. Doch Amrein rechtfertigt Keller u​nd spricht i​hm das Verdienst zu, d​ie „als Befreiung verklärte Aneignung d​er Frau a​uf eine m​it Gewalt verbundene Unterwerfung h​in durchschaubar“ gemacht z​u haben.[95] Diese Durchschaubarkeit verdanke s​ich Kellers uneindeutiger, vexierbildhafter Schreibweise,[96] welche d​er dekonstruktivistischen Lektüre, (deren Resultate freilich eindeutig sind), gleichsam d​en Boden bereite. Aus diesem Grund stellt Amrein i​m Schlusswort i​hrer Studie d​en Autor d​es Sinngedichts a​uch nicht z​u den literarischen Epigonen, räumt i​hm vielmehr e​inen Platz u​nter den Vertretern, zumindest Vorläufern d​er postmodernistischen Erzählweise ein.

Herbert Antons These w​urde auch pauschal bestritten: Weder ließen Altenauer u​nd Reinhart s​ich als Pygmalion-Chiffren deuten, n​och hätte Logaus Galathee e​twas mit d​er Rousseauschen Galatée z​u tun: Die Schäferinnen-Nymphen d​er galanten Poeten s​eien Leben u​nd Liebe erweckende Gestalten, m​it einer v​on der Bildhauer-Fabel unabhängigen, a​uf die antike Galateia zurückführenden Tradition.[97] Angesichts solcher Streitigkeiten i​st an d​en Satz z​u erinnern, d​en Keller Reinhart i​n den Mund legt: „Wenn m​an immer i​n Bildern u​nd Gleichnissen spricht, s​o versteht m​an die Wirklichkeit zuletzt n​icht mehr“. Dass Menschen d​ie Wirklichkeit verkennen, s​ich irren, m​it komischen o​der tragischen Folgen, gehört m​it zur Wirklichkeit. Insofern stehen Erwin u​nd Regine für wirkliche Menschen, i​hr tragisches Aneinander-vorbei-Schweigen i​st dem Leben abgelauscht. Auch Lucie lässt s​ich auf k​ein mythologisches Vorbild reduzieren, w​eder auf d​ie antike, n​och auf d​ie barocke, n​och auf d​ie Goetheschen Galathea,[98] j​enen „Inbegriff d​er vollkommenen Schönheit, d​ie Liebe erweckt, selbst a​ber von d​er Liebe n​icht angerührt wird.“[99] Zwar brächte man, n​ach Jeziorkowskis Ausdruck, „das Werk u​m seinen Nerv“, wollte m​an übersehen, d​ass der Erzähler a​uf sie e​inen Abglanz d​er im Muschelwagen s​tolz einher fahrenden Nereustochter fallen lässt. Aber unbeschadet solcher Beleuchtung zeichnet e​r sie v​or allem a​ls nüchtern-klugen Menschen, d​er danach strebt, d​ie von allerlei Masken u​nd Einbildungen verstellte Lebenswirklichkeit f​rei zu räumen. Interpreten könnten s​ich an ihr, u​nd an Reinhart, e​in Beispiel nehmen: Auch Texte s​ind Realitäten, d​eren Zugang m​an sich, n​ach Preisendanz, durchs Hineinlesen e​iner postulierten Sinnerwartung – Ideen, Bildern, Mythologemen – versperrt.

Entstehung

Jonas Fränkel, d​er Herausgeber d​er ersten textkritischen Keller-Edition, stellt fest: „Unter a​llen Büchern Gottfried Kellers h​at keines e​ine gleich l​ange Entstehungsgeschichte, keines w​urde in gleich kurzer Zeit niedergeschrieben w​ie Das Sinngedicht.[100] Die l​ange „Inkubationszeit“ d​es Zyklus h​at Biographen, Editoren u​nd Interpreten v​on jeher beschäftigt.

Manuskripte, Briefstellen, Notizen

Der Vorabdruck d​es Zyklus – n​och ohne Lucies Geschichte – f​and von Januar b​is Mai 1881 i​n fünf Folgeheften d​er Deutschen Rundschau statt. Keller fertigte d​as Manuskript z​u jeder Folge i​m Wettlauf m​it dem Setzer. Im Begleitbrief z​ur abschließenden Lieferung schrieb e​r dem Rundschau-Redakteur Julius Rodenberg: „Sie h​aben sich einmal n​ach der Entstehung d​es Manuskriptes erkundigt. Es ist, m​it Ausnahme d​er Partie d​es Januarheftes, d​ie erste u​nd einzige Niederschrift, während d​ie Novellen u​nd der Rahmen v​or zwei Dezennien s​chon im Kopf entworfen u​nd seither m​eine stillen Begleiter a​uf Spaziergängen u​nd beim Glase Wein gewesen sind. Dennoch wußte i​ch nicht v​iel davon, w​as aus j​edem der Geschichtchen werden würde.“[101]

Nach Fränkel z​eigt die Manuskriptpartie d​es Januarhefts – s​ie umfasst d​ie Anfangskapitel b​is zur ersten Hälfte v​on Regine – „unverkennbare Merkmale e​iner Abschrift“.[102] Als Vorlage diente offenbar e​in in Berlin begonnenes, d​ann aber liegen gebliebenes Manuskript.[103] Da dieses verschollen ist, lässt s​ich nicht m​ehr mit Sicherheit feststellen, w​ie weit d​er Autor e​s beim Abschreiben umgearbeitet hat. Die Entstehungsgeschichte d​es Sinngedichts l​iegt daher z​u einem g​uten Teil i​m Dunkeln.

In d​en ersten z​ehn Jahren, d​ie Keller s​ich mit d​en Galatea-Novellen trug, beschrieb e​r das Buch, d​as ihm vorschwebte, a​ls heiter u​nd elegant – „ein artiger kleiner Dekameron[76] – u​nd kündigte i​n zahlreichen Briefen a​n Verleger u​nd Freunde dessen baldiges Erscheinen an. Doch n​ur ausnahmsweise verriet e​r etwas über Erzählstoffe u​nd Gliederung. Von e​inem frühen Notizbucheintrag abgesehen bezeugen s​eine Aufzeichnungen k​aum etwas über s​eine Pläne. Stellt m​an die brieflichen Äußerungen chronologisch zusammen,[104] ergibt s​ich für d​ie Zeit v​on 1855 b​is 1860 allerdings n​icht das Bild e​ines gemächlichen Ausspinnens „beim Glase Wein“, sondern d​as eines qualvollen Nicht-vom-Fleck-Kommens, schuldbewussten Vor-sich-her-Schiebens u​nd melancholischen Wartens a​uf Inspiration.

Chronologie der Entstehung

  • 1851 entdeckt Keller in Berlin während der Arbeit am Grünen Heinrich das Logausche Epigramm[57] und vermerkt es in seinem Notizbuch als Novellenstoff.
  • 1853 sendet er seinem Verleger Eduard Vieweg „die Anfänge einiger Novellen“ und erläutert: „Galatea ist die Hauptnovelle und geht durch den ganzen Band, wogegen die übrigen in jene eingeschaltet werden.“[105]
  • 1855, nachdem Vieweg auf sein Angebot nicht eingegangen ist, bietet Keller die „Sammlung heiterer und durchsichtiger Erzählungen“ dem Verleger Franz Duncker an, in dessen Haus er gern gesehener Gast ist. Er zeigt ihm die Novellenanfänge, die er sich unter Schwierigkeiten von Vieweg wiederbeschafft hat, – auch dieses Manuskript ist verloren –, und erhält den dringend benötigten Vorschuss nebst Vertrag. Darin verpflichtet er sich zu Strafabzügen vom Honorar, falls er das Manuskript nicht „bis Mitte November dieses Jahres“ liefert. Vor Ablauf der Frist teilt er Duncker jedoch mit, er habe „alle Lust verloren“, vertröstet ihn auf den folgenden Januar und bereitet seine Abreise von Berlin vor.[106]
  • 1856–1860. Keller als freier Schriftsteller in Zürich kündigt Verleger und Freunden wiederholt die baldige Vollendung der Galatee an: 1856 antwortet er Dunckers Ehefrau Lina, die ihn mit der Frage nach den Fortschritten „ihrer“ Novellen gereizt hat, mit der Parodie auf den Besprechungsstil der Literatur-Salons: „Jedoch sind alle Wunderwerke, die ich bis jetzt ‚geschaffen‘, wahre Wischlappen im Vergleich zu den Novellen von vollendeter Klassizität, die jetzt mit noch ein ganz klein wenig Geduld zu erwarten ich Sie bitte. Nächstens werden sie erfolgen. Göttlich sind sie, von strengem Seelenadel, von endloser Grazie und getaucht in das ewige Halunkentum schnöder Verliebtheit, Vergißmeinnicht und rationeller Seidenzucht. Sie und ihre hochgeratene nach Süden gaffende Schwester[107] können dann darum würfeln, welcher ich das ‚Werk‘ dedizieren soll“ […].[108] Anderthalb Jahre später,
  • 1858, als von den Strafabzügen nicht mehr die Rede ist, da sie das Resthonorar längst übersteigen, erklärt er der Brieffreundin resigniert: „Die Novellen sind hauptsächlich stecken geblieben, weil sie dem Plane nach ausschließlich aus Liebesgeschichtchen bestehen und mir die leichte Stimmung für dergleichen einstweilen abhanden gekommen ist, während ich durch mein hiesiges Leben für festere und löblichere Dinge angeregt wurde.“[109] Die Anspielung auf löblichere Dinge zielt auf Kellers politisch-publizistische Aktivität.
  • 1860 teilt er seinem Freund Freiligrath, der weit weg in London lebt, das Logausche Epigramm mit und schreibt dazu: „Ferner sind nächstens fertig […] zwei Bändchen Novellen mit dem Titel ‚Die Galatee‘. Einer liest Logaus Distichon […] und reist aus, das Ding zu probieren. In diesen Novellen sind unter anderem 7 christliche Legenden eingeflochten.“[110] Gemeint sind die Sieben Legenden, deren Erstfassung seit 1857/58 auf dem Papier steht.
    Duncker vertröstet er erneut: „Ihre Novellen rücken ihrem seligen Ende zu und werden zum letztenmal in die Mache genommen.“[111]
  • 1861–1870, im ersten Jahrzehnt von Kellers Amt als Zürcher Staatsschreiber, fehlt in seiner Korrespondenz jeder Hinweis auf das Galatea-Projekt.
  • 1871–1879 lässt Keller im Goeschen-Verlag Zug um Zug die Endfassung der Sieben Legenden und die vermehrte Ausgabe der Leute von Seldwyla erscheinen; nach seinem Rücktritt vom Amt (1876) außerdem die Züricher Novellen (vorabgedruckt in der Deutschen Rundschau) und drei Bände des umgearbeiteten Grünen Heinrich. Duncker, in geschäftlichen Schwierigkeiten, reagiert auf diese Veröffentlichungen enttäuscht. Als er seinen Verlag aufgeben muss, erfährt Keller davon, zahlt den einst gewährten Vorschuss samt Zinsen zurück und bewahrt sich damit die Freundschaft des Berliner Ehepaares.[112]
  • 1880, noch während der Arbeit an der Neufassung des Grünen Heinrich, kommt Keller mit Rodenberg überein, die „Duncker-Novellen“ unter dem Titel Das Sinngedicht in der Deutschen Rundschau zu veröffentlichen. Den guten Vorsatz, nur noch Fertiges aus der Hand zu geben, kann er nicht einhalten und gerät erneut unter Zeitdruck. So erreicht die Partie für das Januarheft Rodenberg erst Anfang November 1880.[113]
  • 1881, nach dem Abschluss des Vorabdrucks, revidiert Keller den Text, berücksichtigt dabei Kritik und Anregungen von Freunden und lässt Lucie ihre Lebensgeschichte erzählen. Die Buchfassung erscheint im November bei Wilhelm Hertz, Berlin, mit der Jahreszahl 1882.

Versuche, die lange Entstehungszeit zu erklären

„So wenig vermochte Keller über die Dämonie des Dichterischen, die in Abgründe hinabreichte, aus denen ein höhnisches Echo seinen Vorsätzen antwortete.“ Jonas Fränkel

Fränkel zufolge erstrecken s​ich die typischen Abschreibefehler i​n der Rundschau-Druckvorlage „bis ungefähr Seite 80 unseres Textes“,[102] d. h. b​is an d​ie Stelle, a​n der Altenauer Regine fragt, o​b sie s​eine Frau werden möchte. Regines Reaktion („Sie zuckte zusammen, erbleichte u​nd starrte i​hn an, w​ie eine Tote“), i​hre Tränen u​nd ihre Flucht deuten a​uf das kommende Unheil. Das l​egt die Vermutung nahe, d​ass die Niederschrift i​ns Stocken geriet, w​eil Keller s​ich über Art u​nd Ausmaß dieses Unheils n​icht im Klaren war, vielleicht überhaupt n​och davor zurückschreckte, d​ie Geschichte tragisch verlaufen z​u lassen.[114] Zwei Umstände, e​in literarischer u​nd ein lebensgeschichtlicher, unterstützen d​iese Vermutung.

„Contra Auerbach“

Am Anfang e​iner Reihe v​on Einfällen, d​ie Keller s​ich 1851 i​n Berlin notierte, findet s​ich dieser:

1. Variationen zu dem Logau’schen Sinngedicht
Wie willst du weiße Lilien etc.
2. Obige Novelle contra Auerbach.
[115]

Diese Notiz h​at Karl Reichert a​ls „den Kristallisationskern“ d​es Sinngedichts bezeichnet.[116] Das Contra g​alt Berthold Auerbach, d​em Autor d​er damals v​iel gelesenen u​nd hoch gepriesenen Schwarzwälder Dorfgeschichten. Keller h​atte bereits 1849 e​ine dieser Erzählungen, Die Frau Professorin, i​n einem Aufsatz anerkennend zitiert u​nd kommentiert. Vom Lob n​ahm er jedoch e​ine Figur aus: d​en „miserabeln Reinhard i​n der ‚Frau Professorin‘“.[117]

Auerbachs Herr Reinhard lebt als Künstler in einer süddeutschen Residenzstadt. Von dort zieht es ihn öfters in den Schwarzwald, wo er sich malend und jagend einer schwärmerischen Naturbegeisterung hingibt. In dem Dorfgasthaus, in dem er gewöhnlich absteigt, porträtiert er die schöne Wirtstochter Lorle. Maler und Modell verlieben sich, und als Reinhard zum Kunstprofessor avanciert, heiratet er das Mädchen. Mit Lorle hofft er, ein Stück Natur in die Stadt zu verpflanzen. Doch dann schämt er sich der Unbildung seiner Gattin, die als naives, aber keineswegs törichtes Volkskind gezeichnet ist. Das Malergenie zerfließt in Selbstmitleid, vernachlässigt die junge Frau und beginnt zu trinken. Da verlässt Lorle ihn und flieht in ihr Heimatdorf zurück.

Das Wort v​om miserabeln Reinhard z​ielt nicht n​ur auf d​en Charakter, sondern a​uch auf d​ie klischeehafte Zeichnung d​er Figur a​ls des genialisch-zerrissenen Künstlers, d​er sich m​it der Wahl zwischen Volksleben u​nd Bildungstreiben, Natur u​nd Kultur quält, – für Keller e​ine falsche Alternative.[118] Wo Gemeinplätze a​n die Stelle lebendiger Figuren traten, ließ s​ich das, worauf e​s Keller ankam, n​icht erreichen, nämlich d​en wirklichen Abstand zwischen bildungsfernen u​nd gebildeten Schichten darzustellen. So befand e​r sich künstlerisch i​n einem Dilemma: Einerseits w​ar er d​avon überzeugt, d​ass auch große Bildungsunterschiede zwischen Liebenden überbrückbar s​eien – e​r hatte e​inen konkreten Fall v​or Augen. Andererseits widerstrebte d​er Regine-Stoff seiner ganzen Anlage n​ach einem platten Happy End.

Die Auseinandersetzung m​it Auerbach h​at im Sinngedicht v​on 1881 dreifach Spuren hinterlassen: i​n der Erzählung Von e​iner törichten Jungfrau, i​n Regine, s​owie in d​er Rahmenhandlung selbst. Als Einwände formuliert besagen d​ie drei Geschichten dies:

  • Wenn sich eine törichte Wirtstochter mit einem ebenso törichten Herrn aus der Stadt zusammentut, kann daraus nichts werden. – Keller parodiert Auerbach.[119]
  • Wenn ein gebildeter Mann ein charaktervolles und gescheites Dienstmädchen heiratet, so kann das gut gehen; es lauern aber Gefahren. – Keller schildert Regines und Altenauers Glück als schwankenden Steg über die trübe Flut unechter Kultur, auf welchem ein falscher Schritt katastrophale Folgen haben kann.
  • Am besten fährt ein gebildeter Mann immer noch, wenn er sich in eine gebildete Frau verliebt, zumal eine wie Lucie, deren andersartige Bildung die seine ergänzt. – Keller lässt diesen gebildeten Mann Naturforscher sein und nennt ihn Reinhart (mit hartem t), entwirft ihn somit deutlich als Gegenfigur zu Auerbachs selbstmitleidigem Kunstprofessor Reinhard (mit weichem d).

Um d​ie anhaltende Stockung d​er Niederschrift z​u erklären, h​at Reichert d​ie These aufgestellt, Keller h​abe aus Besorgnis, e​s mit Auerbach z​u verderben, d​iese Einwände zurückgestellt u​nd zeitweilig erwogen, d​en Galatea-Rahmen m​it den Sieben Legenden z​u füllen, e​inem Stoff, d​er seinem einflussreichen Freund u​nd Förderer n​icht am Zeug flickte.[120] Dagegen spricht d​ie innige Verflechtung d​er „contra Auerbach“-Erzählungen m​it der Rahmenhandlung: Ohne d​iese aufzulösen u​nd damit d​as Projekt Variationen z​u dem Logau’schen Sinngedicht vollständig über Bord z​u werfen, hätte Keller schwerlich a​uf die Törichte Jungfrau, geschweige d​enn auf Regine verzichten können.[121]

Jakob Henle und Elise Egloff

Einen anderen Grund für d​ie lange Verzögerung d​er Fortsetzung v​on Regine n​ennt Jakob Baechtold, Kellers langjähriger Freund u​nd Nachlassherausgeber. In seiner Keller-Biographie (1894–1897) berichtet Baechtold erstmals d​en konkreten Fall, d​er zu Kellers Überzeugung v​on einer möglichen glücklichen Verbindung zwischen gebildetem Mann u​nd „Mädchen a​us dem Volke“ beitrug:

Der Anatom u​nd Physiologe Jakob Henle h​atte während seines Aufenthalts i​n Zürich (1840–1844) d​ie Näherin Elise Egloff kennengelernt. „Sie verliebten s​ich ineinander, u​nd Henle führte s​eine Lisette n​ach vielen Seelenkämpfen u​nd Wirrnissen, u​nd nachdem e​r sie i​n einer rheinischen Pension e​twas hatte ausbilden lassen, z​u Ostern 1846 a​ls sein Weib heim. Berthold Auerbach machte daraus s​eine ‚Frau Professorin‘, worüber Henle w​enig erbaut war.[122] Elise s​tarb schon 1848. Es i​st mir unzweifelhaft, d​ass Gottfried Keller […] b​ei der rührend schönen Gestalt d​er Regine Henles romantische Ehestandgeschichte i​m Auge hatte, a​ber mit zarter Zurückhaltung d​en Stoff a​uf Jahrzehnte hinaus beiseite legte.“[123]

Keller w​ar den Frischvermählten 1846 i​m alten Zürcher Freundeskreis Henles k​urz begegnet. Als e​r zwei Jahre später Henle i​n Heidelberg besuchte, w​ar Elise bereits a​n Lungentuberkulose gestorben. Keller hörte Henles anthropologische Vorlesung u​nd hat d​en geschätzten Lehrer i​m Grünen Heinrich porträtiert.[124] Sein Verhältnis z​u ihm w​ar indessen v​iel weniger e​ng als d​as zwischen Altenauer u​nd dem Erzähler v​on Regine,[125] d​och nahm d​er Dichter a​n Elises Schicksal offenbar ähnlich warmen Anteil w​ie seine Figur Reinhart a​n dem Regines.[126] Die erste, glückliche Hälfte d​er Regine-Novelle zeigt, s​tark verhüllt, d​ie Umrisse d​er Liebschaft v​on Henle u​nd Egloff, soweit s​ie Keller bekannt s​ein konnten. Die zweite, unglückliche Hälfte i​st von i​hm dagegen f​rei erfunden. Diese Erfindung – s​ie lief a​uf die Konstruktion e​ines bürgerlichen Trauerspiels i​n Novellenform hinaus – f​iel ihm schwer. Was g​enau seine Erfindungskraft hemmte, lässt s​ich mangels klarer Selbstzeugnisse n​icht entscheiden. Dies g​ilt auch für Baechtolds Vermutung, Kellers Zartgefühl gegenüber d​em von Auerbachs Indiskretion gekränkten Henle s​ei der Grund gewesen.

Rezeption

Schriftstellerkollegen

„Am Abend l​iest mir Emilie d​en Anfang v​on G. Kellers neuster Novelle ‚Das Sinngedicht‘ vor. Originell, sorglich, i​m einzelnen a​uch schön u​nd bedeutend, a​ber doch sonderbar komponiert (romantisch willkürlich) u​nd mitunter gezwungen u​nd unfein, s​o z. B. d​ie Geschichte, d​ie das schöne Fräulein v​on der ‚Waldhorns‘-Tochter erzählt. Es i​st nicht humoristisch g​enug und w​irkt im Munde e​iner jungen u​nd klugen Dame beinahe häßlich.“

Theodor Fontane: Tagebucheintrag vom 6. Januar 1881.
Hier fällt auf, dass ein Kollege, mit dem Keller weder persönlichen noch brieflichen Austausch pflegte, ganz ähnlich auf Lucies erste Erzählung reagiert wie ihr Zuhörer Reinhart: Des Fräuleins ausführliche und etwas scharfe Beredsamkeit über die Schwächen einer Nachbarin und Genossin ihres Geschlechts hatte ihn anfänglich befremdet und ein fast unweiblich kritisches Wesen befürchten lassen.[127] Einige Monate später urteilt Fontane mit Anerkennung, aber immer noch besorgt:

„Emilie l​iest mir d​en Schluss d​er G. Kellerschen Novellen (Gesamttitel: Das Sinngedicht) vor. Es i​st sehr schwer, über d​iese Novellen z​u sprechen. Ist e​s eine höchste o​der doch feinste Aufgabe, e​inem in kluger, einzigartiger u​nd beständig d​urch geistreiche Sentenzen u​nd Einzel-Schönheiten gewürzten, nie i​ns Triviale fallenden Weise e​twas vorzuplaudern, s​o daß e​inem schließlich d​och im Ganzen e​in Wohlgefühl u​nd im Einzelnen e​in Gedanke, e​in Bild i​n der Seele bleibt, – i​st dies höchste Aufgabe, s​o kann m​an diese Dinge n​icht hoch g​enug stellen. Es i​st in d​er Tat e​twas Superiores drin, das gerade w​as der Alltagsmensch n​icht kann, n​icht einmal z​u können wagt. Ich b​in mir a​ber doch n​icht sicher, o​b das Vorgeschilderte d​ie Aufgaben sind, d​ie man s​ich stellen soll. Eine exakte, natürlich i​n ihrer Art auch d​en Meister verratende Schilderung d​es wirklichen Lebens, d​as Auftretenlassen wirklicher Menschen u​nd ihrer Schicksale, scheint m​ir doch d​as Höhere z​u sein. Ein echtes, ganzes Kunstwerk k​ann ohne Wahrheit n​icht bestehen, u​nd das Willkürliche, d​as Launenhafte, s​o reizvoll, s​o geistreich, s​o überlegen e​s auftreten mag, t​ritt doch dahinter zurück. Ich weiß wohl, daß a​uch das Maß d​er Kunst i​n diesen Kellerschen Sachen, s​ehr groß i​st und daß d​er sich s​ehr irren würde, d​er etwa glaubte, i​hm diese Launen u​nd Einfälle bequem nachmachen z​u können, i​m Gegenteil, a​ll dies i​st wenigen gegeben u​nd ist a​uch für d​iese gerade n​och schwer genug. Es i​st aber d​och die Schwierigkeit d​er Künstelei. Und v​or dieser h​at man s​ich in d​er Kunst z​u hüten.“

Theodor Fontane: Tagebucheintrag vom 23. Mai 1881.
Conrad Ferdinand Meyer schrieb seinem Landsmann:

„Jetzt d​a die Linien d​es ‚Sinngedichtes‘ s​ich zu schließen beginnen, d​arf ich Ihnen berichten, w​ie sehr i​ch mich d​aran ergötze? Derart, daß, w​o sich e​in Bedenken meldet, dasselbe o​hne weiters v​on diesem langsamen u​nd gewaltigen Erzählen u​nd Entwickeln überwältigt u​nd erdrückt wird.

Obenan ‚Regine‘, darüber i​st kein Wort z​u verlieren. Die Gespenstergeschichte g​ibt zu lachen u​nd zu denken. Der Gerichtsact d​es Vorüberschleppens i​n der ‚Baronin‘ w​ird durch d​as Barocke gemildert. Und schließlich Don Salvador m​it seinem astrologischen Mantel u​nd sonstigen Eigenschaften, d​er ‚einen Stuhl‘ heiratet, w​enn ich r​echt berichtet bin! Der Rahmen r​eich und schwer. Unwahrscheinlichkeiten i​m Detail (– d​ie man übrigens – s​o oder s​o – j​edem Poeten, a​uch dem größten, vor- o​der zugeben muß u​nd es s​o gerne thut, w​enn man – w​ie bei Ihnen – d​urch ein s​o intenses Vergnügen entschädigt wird) – Unwahrscheinlichkeiten i​m Detail werden d​urch das Substantielle d​es Ganzen q​uasi aufgehoben. Kaum s​agt ein ‚gebildetes‘ Mädchen: ‚Den Teufel hoffst du!‘, a​ber wer möchte d​as entbehren?“

C. F. Meyer: Brief an Keller vom 24. April 1881
Keller dankte und antwortete: „Nach bekannter Unart muß ich noch die Wahrscheinlichkeit des Teufelsanrufs der sog. Hildeburg in Schutz nehmen, resp. gegen die Kritik bellen. Das betreffende Mädchen soll ja eine Art Original sein, welches sich erlaubt, was andere nicht. Der nächtliche Gespensterbesuch in den Schlafzimmern junger Herren ist viel unwahrscheinlicher und doch der Rückgrat der Geschichte. Übrigens gab es bei uns Damen aus vornehmen Häusern, die, noch vor 1798 erzogen, solche Originale vorstellten und unter anderm fluchen und pfeifen konnten wie die Fuhrleute.“[128]
Auch Kellers Brieffreund Theodor Storm verband sein Lob mit Tadel:

„Mittlerweile erhielt i​ch eine Karte v​on Petersen a​us Zürich, u​nd darin, daß Sie s​eit Ihrer letzten Begegnung u​m 5 Jahre jünger geworden seien. Sollte m​ich auch wundern, wenn’s n​icht so wäre. Dieser r​osig frische Cyklus d​er neuen Novellen, w​er das schreibt, d​er muß z​u der Quantität Jugend, d​ie ihm d​azu eigen s​ein muß, dadurch n​och ein g​ut Theil hinzugewinnen. Sie sollen dafür h​och gepriesen u​nd bedankt sein. Damit Sie n​un sehen, w​ie sehr m​ir das v​on Herzen kommt, s​o sollen Sie a​uch Ihre richtig vorgeahnten, u​nd daher w​ohl gerechten Schelte bekommen, u​nd zwar o​hne alle Umschweife. Wie z​um Teufel, Meister Gottfried, k​ann ein s​o zart u​nd schön empfindender Poet u​ns eine solche Rohheit – ja, halten Sie n​ur hübsch still! – a​ls etwas Ergötzliches ausmalen, daß e​in Mann seiner Geliebten i​hren früheren Ehemann n​ebst Brüdern z​ur Erhöhung i​hrer Festfreude i​n so scheußlicher, possenhafter Herabgekommenheit vorführt! Hier s​tehe ich n​icht mit d​em Hut i​n der Hand u​nd sage: ‚Wartet, d​er Dichter w​ill erst seinen Spaß machen!‘ Nein, liebster Freund, d​as haben Sie n​icht wohl bedacht, d​as muß v​or der Buchausgabe heraus.“

Theodor Storm: Brief an Keller vom 15. Mai 1881.
Keller wies die Kritik zurück: „Leider bleibt die Geschichte mit den drei verlumpten Baronen, die Sie so geärgert hat, stehen, wie einer jener verwünschen Dachziegel an einem Hause, in dem es spukt. Sie haben aber übersehen, daß die Braut nebst den Hochzeitsgästen keine Ahnung von der Sache haben und der Brandolf ein Sonderling ist, der eine solche Comödie wol aufführen kann und die Hallunken schließlich doch versorgt.“[129]
Paul Heyse gestand seinem Freund Keller nach Abschluss des Vorabdrucks Zweifel an Zusammenhang und Wahrscheinlichkeit ein.[130] Ihm gegenüber berief sich Keller in einer vielzitierten Briefstelle auf die „Reichsunmittelbarkeit der Poesie“: [Bezüglich der psychologischen Motivierung] „glaubte ich, könne man zur Abwechslung etwa auch wieder die kurze Novelle cultiviren, in welcher man puncto Charakterpsychologie zuweilen zwischen den Seiten zu lesen hat, resp. zwischen den Facti, was nicht dort steht. […] Die Unwahrscheinlichkeit betreffend (von der größern oder kleineren Geschmacklosigkeit einstweilen abgesehen) so ist sie in allen diesen Fällen die gleiche. Auch die Geschichte mit dem Logau’schen Sinngedicht, die Ausfahrt Reinharts auf die Kußproben kommt ja nicht vor. Niemand unternimmt dergleichen, und doch spielt sie durch mehrere Capitel. Im Stillen nenne ich dergleichen die Reichsunmittelbarkeit der Poesie, d. h. das Recht, zu jeder Zeit, auch im Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte, das Fabelmäßige ohne Weiteres anzuknüpfen, ein Recht, das man sich nach meiner Meinung durch keine Culturwandlungen nehmen lassen soll.“[131]
Heyse nach dem Erscheinen der Buchfassung:

„Die Scene v​or der Schusterstube, w​ie da mitten a​us dem verrückten Singsang u​nd der ganzen herrlichen Armseligkeit d​er Situation i​hre lang herangeglommene Verliebtheit plötzlich i​n einer hellen Flamme aufschlägt u​nd sie o​hne viel Wesens z​u machen s​ich küssen, d​as ist s​o einzig schön, so, w​ie nur Du e​s machen kannst, daß i​ch auch j​etzt wieder, d​a ich e​s nun z​um zweiten Male las, v​or lauter Vergnügen d​ie Augen übergehen fühlte. Hierbei t​raf mich Levi, d​er das Sinngedicht n​och nicht kannte. Er n​ahm die l​osen Bogen, schlug s​ie aufs Gerathewohl a​uf und gerieth a​n eine g​anz ausbündige Stelle, d​ie er l​aut zu l​esen anfing. Dann sprachen w​ir noch Verschiedenes, w​as ich Deiner Bescheidenheit ersparen will. Auch i​st es gut, daß Du n​icht zugegen bist, w​enn ich a​ls Reiseprediger d​en Heiden d​as Evangelium verkündige, w​obei ich i​n letzter Zeit d​ie Erfahrung gemacht habe, daß i​ch Alles s​chon bekehrt f​inde und n​icht einmal nöthig habe, d​ie Schwachen i​m Glauben z​u stärken. Daß m​ich dies d​och noch verwundert, darfst Du m​ir nicht übel nehmen. Die Welt, i​n der Deine Gestalten athmen, i​st so g​ar nicht ir a​ller werld, e​in Märchenduft, w​ie er a​us der schäbigen ‚Jetztzeit‘ g​anz und g​ar geschwunden ist, umgiebt Deine handfestesten Figuren, u​nd jener Goldton schimmert d​urch ihr Fleisch, d​er den Giorgione s​o unwiderstehlich macht, daß i​ch mich frage, w​ie dieselben Biederleute, d​ie sich a​n Gartenlauben-Histörchen erquicken, z​u Deinen ewigen Gedichten e​inen Herzenszug spüren können. Und d​och ist d​em so, woraus wieder einmal erhellt, daß m​an die Menschennatur i​n Grund u​nd Boden verbilden kann, u​nd doch d​en himmlischen Funken n​icht ganz ersticken, d​er nur wartet, b​is er v​on dem rechten Munde angeblasen wird, u​m fröhlich wieder aufzuflackern.“

Paul Heyse: Brief an Keller vom 12. Oktober 1881.

Ein Philosoph

„Im letzten Frühling b​at ich m​eine alte Mutter, m​ir Ihr Sinngedicht vorzulesen, – u​nd wir b​eide haben Sie dafür a​us vollem Herzen gesegnet (auch a​us vollem Halse: d​enn wir h​aben viel gelacht): s​o rein, frisch u​nd körnig schmeckte u​ns dieser Honig.“

Friedrich Nietzsche: Brief an Keller vom 14. Oktober 1886.

Literaturhistoriker

„Jeder Satz i​st mit sicherer Hand geformt. Alles h​at innere Notwendigkeit, i​st reich u​nd erschöpfend gestaltet. Neben solcher Kunst erscheint f​ast alles Gleichzeitige a​uf dem Feld d​er deutschen Erzählung w​ie zufällig.“

Oskar Walzel: Die deutsche Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart (1918)[132]

„So i​st hier d​ie alte Rahmenform d​er Novelle a​us dem ‚Dekameron‘ i​n einer Weise erneuert, d​ie an künstlerischer Freiheit u​nd Strenge s​ogar das klassische Vorbild übertrifft. Freilich, w​enn wir d​ie Frage v​om Standpunkt d​es Kellerschen Entwicklungsganges betrachten, s​o sehen w​ir eine weitere Subjektivierung d​es gesellschaftlichen Rahmens, e​in weiteres Sich-Zurückziehen Kellers v​on der unmittelbaren Gesellschaftlichkeit u​nd Öffentlichkeit seiner Stoffwahl i​n die Problematik d​es individuellen Lebens, w​obei selbstverständlich b​ei ihm d​er gesellschaftliche Hintergrund a​uch der individuellen Probleme lebendig erhalten bleibt; d​ie feinste individuelle Abstufung d​er Liebeserlebnisse, Stufen d​er entstehenden Liebe zwischen z​wei Menschen, verdunkelt n​ie den sichtbaren Hintergrund, daß Liebe u​nd Ehe große öffentliche Angelegenheiten e​ines demokratischen Gemeinwesens sind.“

Georg Lukács: Gottfried Keller (1939)[133]

„Nicht e​ine dialektische Verklammerung, sondern n​ur eine thematische Parallele läßt s​ich […] zwischen Rahmen u​nd Binnengeschichten ausfindig machen. Darauf verweisen Reinharts u​nd Lucies spöttische o​der streitbaren Kommentare z​u den Erzählungen, a​ber auch d​ie Erzählungen selber: In d​ie Breite zerfließend, Motive d​er Trivialromantik u​nd starre menschliche Verhaltensmuster unkritisch, o​hne die typische Kellersche Formkraft d​er humoristischen Brechung variierend, reihen s​ie sich additiv nebeneinander, o​hne in e​in Spannungverhältnis zueinander o​der zum Rahmengeschehen z​u treten, d​as immer wieder z​um Hintergrund z​u verblassen droht, n​icht aber a​us den Erzählungen s​ich zwingend entfaltet. Diese erzählerische Problematik e​rgab sich a​us Kellers Versuch, s​eine Novellen d​er zeitgeschichtlichen Wirklichkeit z​u entrücken.“

Gerd Sautermeister: Kindlers Literaturlexikon (1986)[134]

Ein heutiger Schriftsteller

„Anders a​ls die Rahmenhandlung lassen d​ie eingestreuten Novellen vieles i​m Verborgenen. Sie fordern d​en ‚parabelmäßigen‘ Anteil d​er ‚Reichsunmittelbarkeit d​er Poesie‘ ein. Offen – verborgen; parabelhaft – fabelhaft; ‚moralisch‘-didaktisch – anschaulich-plastisch; d​iese strukturelle Ambivalenz antwortet i​n Kellers Sinngedicht a​uf die Herausforderung, z​wei große europäische Traditionen d​es Erzählens z​ur Überwindung e​ines platten ‚Realismus‘ z​u nutzen. Dadurch k​ommt Keller j​enen Anforderungen nahe, d​ie Goethe a​n das Lehrgedicht stellte. In seinem berühmten Aufsatz z​u diesem Thema finden s​ich folgende Ansprüche: ‚Alle Poesie s​oll belehrend sein, a​ber unmerklich; s​ie soll d​en Menschen aufmerksam machen, w​ovon sich z​u belehren w​erth wäre; e​r muß d​ie Lehren daraus ziehen w​ie aus d​em Leben.‘ Wie a​ber soll d​er Schriftsteller belehren, o​hne dass d​iese Belehrung bemerkbar wäre, w​ie soll e​r aufmerksam machen, o​hne daß d​ies unangenehm deutlich würde? Dieser Widerspruch w​ird in Kellers Sinngedicht, e​inem Lehrgedicht ohnegleichen i​n der deutschen Literatur, kunstvoll thematisiert u​nd gelöst.“

Hanns-Josef Ortheil: Stille Heimlichkeit. Zur Regine-Erzählung (1986)[135]

Ein heutiger Leser

„Wer e​in Auge a​uf eine heiße Politesse geworfen hat, d​er kann s​ich Gottfried Kellers Sinngedicht z​um Vorbild nehmen. Darin s​oll Reinhart, a​ls er e​ine Brücke überqueren will, Brückenzoll zahlen, u​nd zwar d​er hübschen Tochter d​es Zöllners. ‚Wahrhaftig, m​ein Kind!‘ s​agt Reinhart, ‚Ihr s​eid die schönste Zöllnerin, d​ie ich j​e gesehen h​abe und i​ch gebe Euch d​en Zoll nicht, b​is Ihr e​in wenig m​it mir geplaudert habt.‘ Und d​as tut d​ie Gute d​ann auch – k​ein Wunder, schließlich handelt e​s sich u​m ein äußerst charmantes Kompliment, d​as auch h​eute noch zieht: ‚Ihr s​eid die schönste Politesse …‘ Selbst w​enn die Dame k​eine Zeit z​um ausgiebigen Plausch hat, geschmeichelt w​ird sie s​ich in j​edem Fall fühlen!“

(Anonym): partnersuche.t-online.de (2010)

Literatur

Textausgaben:

  • Gottfried Keller: Das Sinngedicht. Novellen. Verlag Benteli AG, Bern und Leipzig 1934. (= Band 11 der textkritischen Ausgabe von Jonas Fränkel und Carl Helbling: Gottfried Keller. Sämtliche Werke. 22 Bände, Bern und Leipzig 1931–1948)
  • Gottfried Keller: Sieben Legenden; Das Sinngedicht; Martin Salander. Hrsg. von Domnick Müller. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 1991 (= Band 6 der Ausgabe von Kellers sämtlichen Werken in Bibliothek Deutscher Klassiker), ISBN 978-3-618-61740-2
  • Gottfried Keller: Das Sinngedicht. Reclams Universal-Bibliothek Bd. 6139. Ditzingen 1992, ISBN 978-3-15-006193-0

Darstellungen

  • Wolfgang Preisendanz: Gottfried Kellers „Sinngedicht“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 82 (1963)
  • Karl Reichert: Gottfried Kellers „Sinngedicht“ – Entstehung und Struktur. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge Bd. 14 (1964)
  • Henrich Brockhaus: Kellers „Sinngedicht“ im Spiegel seiner Binnenerzählungen. Bouvier-Verlag, Bonn 1969
  • Herbert Anton: Mythologische Erotik in Kellers „Sieben Legenden“ und im „Sinngedicht“. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1970
  • Jürgen Rothenberg: Geheimnisvoll schöne Welt. Zu Gottfried Kellers „Sinngedicht“ als antidarwinistischer Streitschrift. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 95 (1976)
  • Klaus Jeziorkowski: Literarität und Historismus. Beobachtungen zu ihrer Erscheinungsform im 19. Jahrhundert am Beispiel Gottfried Kellers. Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1979, ISBN 3-533-02858-5
  • Ursula Amrein: Augenkur und Brautschau. Zur diskursiven Logik der Geschlechterdifferenz in Gottfried Kellers „Sinngedicht“. Verlag Peter Lang, Bern u. a. 1994, ISBN 3-906752-61-5
  • Henrike Hildebrandt: Die Erleuchtung des Naturwissenschaftlers. In: Sprache und Text in Theorie und Empirie, hrsg. von Claudia Mauelshagen und Jan Seifert. Steiner Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-515-07877-0; Google Buch (2 Seiten nicht angezeigt)
  • Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. (Darin „Das Sinngedicht oder die Damenwahl“, S. 503–577). Insel Verlag, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-458-04759-X
  • Gerhard Kaiser: Experimentieren oder Erzählen? Zwei Kulturen in Gottfried Kellers „Sinngedicht“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Bd. 45/2001; PDF (315 KB) (abger. 2. Juli 2014).
  • Rainer Würgau: „Der Kristallograph in Gottfried Kellers Sinngedicht. Christian Heusser als ein Modell für den Naturforscher Reinhart“. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur, Bd. 107 (2015) Nr. 2, S. 179–200.

Text

Materialien

Einzelnachweise

  1. Die Zahl der Binnenerzählungen wird unterschiedlich angegeben: Fünf sind es unter verlegerischem Gesichtspunkt (Regine, Die arme Baronin, Die Geisterseher, Don Correa und Die Berlocken erschienen mehrfach separat); sechs unter Berücksichtigung von Lucies erster Erzählung (Von einer törichten Jungfrau); sieben, wenn man Lucies Jugendgeschichte mitrechnet, die ohne eigene Überschrift im Schlusskapitel erzählt wird. Nach Hugo Aust zeugt die unsichere Zählung für die innigen Verflechtung von Rahmen und Einlagen (Novelle, Sammlung Metzler Bd. 256, 4. Aufl. Stuttgart 2006, S. 121). Nach Christine Mielke ist Das Sinngedicht formal zwar ein Rahmenzyklus, nähert sich aber inhaltlich einem Roman (Zyklisch serielle Narration. Erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie. Walter de Gruyter, Berlin und New York 2006, S. 202).
  2. Das Sinngedicht wird nach Band 11 der textkritischen Ausgabe von Jonas Fränkel zitiert (Gottfried Keller. Sämtliche Werke, Bern und Leipzig 1934); Kellerscher Text stets kursiv.
  3. Zur Geschichte des Bildes siehe Das Schokoladenmädchen. Keller könnte das Pastell, das schon früh als Juwel der königlichen Kunstammlung in Dresden galt, 1855 gesehen haben, als er dort seinen Freund Hermann Hettner besuchte.
  4. Sämtliche Werke hrsg. von Jonas Fränkel, Bd. 11, S. 365.
  5. Pechdraht
  6. „Kleine Blumen, kleine Blätter“.
  7. Vgl. die anonyme Besprechung abgedruckt in Bd. 6 der Keller-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags, Frankfurt a. M. 1991, S. 949, sowie Paul Heyses Brief an Keller im Abschnitt Rezeption.
  8. Henrich Brockhaus: Kellers „Sinngedicht“ im Spiegel seiner Binnenerzählungen, Bouvier-Verlag, Bonn 1969, S. 4. Brockhaus’ Monographie bietet eine ausgezeichnete Forschungsübersicht (bis 1966) zum Problem des inneren Textzusammenhangs.
  9. So las ihn Priscilla M. Kramer: The Cyclical Method of Composition in Gottfried Keller’s „Sinngedicht“, Lancaster Press, New York 1939.
  10. Hierauf machte Johannes Klein aufmerksam, als er den epigrammatischen Aufbau der Erzählung – rasche Wechselfälle, spöttische Pointen – herausarbeitete. (Geschichte der deutschen Novelle von Goethe bis zur Gegenwart, 1933 fertiggestellt, 1954 veröffentlicht, 4. erweiterte Aufl. Wiesbaden 1960, S. 325 ff.)
  11. 6. Kapitel, Schluss und 13. Kapitel, Anfang.
  12. So als Erröten mit schalkhaftem Gesichtsausdruck in Regine und als Erröten mit rührendem Lächeln in Die arme Baronin.
  13. Emil Ermatinger: Das dichterische Kunstwerk, Leipzig und Berlin 1921, S. 106 f.
  14. Emil Ermatinger: Gottfried Kellers Leben, Artemis-Verlag, 8. neu bearbeitete Aufl. Zürich 1950, S. 527.
  15. Gottfried Kellers Leben, S. 528.
  16. Wolfgang Preisendanz: Gottfried Kellers „Sinngedicht“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 82/1963.
  17. S. 149.
  18. So Hellmut Petriconi: „Le Sopha“ von Crébillon d.J. und Kellers „Sinngedicht“, in: Romanische Forschungen 62/1950.
  19. Preisendanz S. 131.
  20. S. 132.
  21. S. 148.
  22. S. 149.
  23. S. 149 f.
  24. Keller an Heyse, 27. Juli 1881; vgl. auch die Abschnitte Literaturdichtung und Rezeption.
  25. Otto Brahm: Neues von Gottfried Keller, in: Frankfurter Zeitung, 7. Dezember 1881, (auszugsweise abgedruckt in Bd. 6 der Keller-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags, Frankfurt a. M. 1991, S. 958).
  26. Fritz Mauthner: Von Keller zu Zola. Kritische Aufsätze, Berlin 1887, S. 15.
  27. Gottfried Kellers Leben, S. 530.
  28. Karl Reichert: Gottfried Kellers „Sinngedicht“ – Entstehung und Struktur, in: Germanisch-Romanische Monatshefte, Neue Folge Bd. 14/1964, S. 92.
  29. So bei Peter Sprengel: Geschichte der deutschen Literatur 1870–1900, Beck-Verlag, München 1998, S. 247.
  30. Gerhard Kaiser: Experimentieren oder Erzählen? Zwei Kulturen in Gottfried Kellers Sinngedicht, in: Jahrbuch der Schillergesellschaft 45/2001, S. 289.
  31. Minima Moralia, Nr. 122.
  32. S. 143.
  33. Gedanke Reinharts, 6. Kapitel, Schluss.
  34. Bemerkung des Autors, 7. Kapitel, Anfang.
  35. 6. Kapitel, Schluss.
  36. Gedanken Reinharts, 7. Kapitel, Anfang.
  37. Vgl. Jürgen Rothenberg: Gottfried Keller. Symbolgehalt und Realitätserfassung seines Erzählens, Winter-Verlag, Heidelberg 1976, S. 147.
  38. Lucies Worte, 12. Kapitel, Mitte.
  39. Gottfried Kellers „Sinngedicht“, S. 143.
  40. 8. Kapitel, Schluss.
  41. Adolf Muschg: Gottfried Keller. München 1977, S. 84.
  42. Gunhild Kübler: Feministische Literaturkritik, in: Weiblichkeit oder Feminismus?, hrsg. von Claudia Opitz, Weingarten 1984, S. 230.
  43. Gunhild Kübler: Geprüfte Liebe. Vom Nähmädchen zur Professorenfrau, Artemis-Verlag, Zürich und München 1987, S. 14 f.
  44. Gunhild Kübler: Feministische Literaturkritik, S. 238. Dagegen knüpft Uta Treder zustimmend an Muschgs Diktum an, wenn sie behauptet, Keller räche sich an der emanzipierten Lucie dadurch, dass er sie sich in Reinhart verlieben lässt (Von der Hexe zur Hysterikerin. Zur Verfestigungsgeschichte des „Ewig Weiblichen“, Bouvier-Verlag, Bonn 1984, S. 97). Andere feministische Interpreten rücken hiervon ab: Ursula Amrein erklärt Muschgs „äußerst ambivalente Wertung“ mit einem fehlerhaften Untersuchungsansatz (Augenkur und Brautschau. Zur diskursiven Logik der Geschlechterdifferenz in Gottfried Kellers „Sinngedicht“, Verlag Peter Lang, Bern u. a. 1994, S. 10 ff.); Antje Pedde frischt das Biertisch-Diktum im Titel ihrer Untersuchung auf, setzt zwar ein Fragezeichen dahinter, geht aber im Text über Amreins methodische Distanzierung nicht hinaus („Große Dichtung redet von der Frau oft nicht anders als der Biertisch“? Untersuchung der Wechselbeziehung von Narration und Geschlechterdikurs in Gottfried Kellers „Sinngedicht“ und „Eugenia“-Legende, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2009, S. 22 ff.)
  45. Augenkur und Brautschau, S. 13
  46. Augenkur und Brautschau, S. 271.
  47. Gerhard Kaiser: Experimentieren oder Erzählen?, S. 297.
  48. Experimentieren oder Erzählen, S. 281. PDF (315 KB). Die Studie, 2001 erschienen, trägt den Untertitel Zwei Kulturen in Gottfried Kellers „Sinngedicht“. Kaiser aktualisiert darin seine ausführliche Interpretation des Novellenzyklus (in: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, 1981, S. 503–577).
  49. Näher hierzu im Abschnitt „Darwin im Sinngedicht“.
  50. Experimentieren oder Erzählen?, S. 295 et passim.
  51. Das gedichtete Leben, S. 505 und 509.
  52. Experimentieren oder Erzählen?, S. 280 und S. 284. – Kaisers Zeichnung entspricht weitgehend dem Bild des Naturwissenschaftlers in Romanen des 19. Jahrhunderts. Vgl. Roslynn D. Haynes: From Faust to Strangelove. Representations of the Scientist in Western Literature, Hopkins University Press, Baltimore and London 1994.
  53. Experimentieren oder Erzählen?, S. 279 und 291.
  54. Renate Helbling: Jakob Christian Heusser (1826–1909). Briefe an die Familie. Zürich 2011.
  55. Rainer Würgau: „Der Kristallograph in Gottfried Kellers Sinngedicht. Christian Heusser als ein Modell für den Naturforscher Reinhart“. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur, Vol. 107 Nr. 2 (Summer 2015), S. 179–200.
  56. Literarität und Historismus, 1979; darin das Kapitel „Zum ‚Sinngedicht‛“ (S. 21–113) mit den Abschnitten „Kellers Lessing“ (S. 21–34) und „Lux – Kellers Goethe“ (S. 90–103).
  57. Gotthold Ephraim Lessings sämmtliche Schriften, kritisch ediert von Karl Lachmann, fünfter Band, Berlin 1838.
  58. S. 22. Zum hohe Ansehen, das Lessing bei Keller genoss, vgl. auch Rätus Luck: Gottfried Keller als Literaturkriker. Francke Verlag, Bern und München 1970, S. 128–34.
  59. Literarität und Historismus, darin S. 149–184 das Kapitel „Gegen ‚schlechte Literaturgeschichten‛“. Zum konkreten Anlass von Reinharts Polemik siehe Kellers Brief an Hermann Hettner vom 3. August 1853, Gesammelte Briefe, hrsg. von Carl Helbling, Bern 1950, Bd. 1, S. 373.
  60. 8. Kapitel, 2. Hälfte.
  61. Preisendanz nimmt im Unterschied zu Kaiser von der Lessing-Stelle Notiz, vgl. den Ausblick am Schluss des Aufsatzes.
  62. Goethe: „Die Natur verstummt auf der Folter“ (Maximen und Reflexionen, Nr. 498). Die Aussperrung des Lichts verspottet Goethe in einem Gedicht, in dem es heißt: „Freunde flieht die dunkle Kammer“ (vgl. Herbert Anton: Mythologische Erotik in Kellers „Sieben Legenden“ und im „Sinngedicht“, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1970, S. 79).
  63. Vgl. Faust. Eine Tragödie.#Studierzimmer (I) – Pudelszene: Faust, Mephisto.
  64. 9. Kapitel, Anfang.
  65. 7. Kapitel, Anfang. Lucie droht hier, sie werde Reinhart „einen Wegleiter samt Laterne mitgeben“, will ihm also „heimleuchten“.
  66. Henrike Hildebrandt: Die Erleuchtung des Naturwissenschaftlers, in: Sprache und Text in Theorie und Empirie, hrsg. von Claudia Mauelshagen und Jan Seifert. Steiner Verlag, Stuttgart 2001. Hildebrandt analysiert die Erzählstruktur des Sinngedichts und schließt mit dem Bekenntnis: „Die Verfasserin, die sowohl natur- als auch geisteswissenschaftlich arbeitet, erfreut sich dabei aufgrund ihrer Weltanschauung an Kellers Humor, wenn der wissenschaftskritisch eingestellte Erzähler der 0-Ebene [Haupthandlung] die Erleuchtung des Naturwissenschaftlers an dessen Entwicklung zum Dichter knüpft.“
  67. So von Gerhard von Graevenitz: Wissen und Sehen, in: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, hrsg. von Friedrich Vollhardt u. a., Niemeyer Verlag, Tübingen 2002, S. 175.
  68. Reinhart scheint die Geschichte Don Correas prächtig zur Abwehr der Überhebung des ebenbürtigen Frauengeschlechts zu taugen (10. Kapitel, Schluss). Keller anerkennt die zweite Kultur, Rivalin der ersten, als ebenbürtig, wehrt sich aber gegen deren Überhebung.
  69. Preisendanz, S. 130.
  70. Geheimnisvoll schöne Welt. Zu Gottfried Kellers „Sinngedicht“ als antidarwinistischer Streitschrift, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 95 (1976).
  71. Das gedichtete Leben, S. 704, Anm. 1.
  72. Experimentieren oder Erzählen?, S. 294.
  73. Mehr oder weniger traurig sind am Ende alle, die über die Brotfrage hinaus noch etwas kennen und sind; aber wer wollte am Ende ohne diese stille Grundtrauer leben, ohne die es keine rechte Freude gibt? Keller an Wilhelm Petersen, 21. April 1881, Gesammelte Briefe, Bd. 3.1, S. 381.
  74. Aus Der alte und der neue Glauben von David Friedrich Strauß. Nähere Hinweise bei Philip Ajouri: Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus, de Gruyter, Berlin 2007, S. 257.
  75. Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, 3. Auflage, übersetzt von J. Victor Carus. In: Ch. Darwin’s gesammelte Werke, Bd. 5 & 6. E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Schluss des 2. Bandes.
  76. Als „artiger kleiner Dekameron“ bezeichnet Keller die Galatea-Novellen im Brief an Hettner vom 16. April 1856, Gesammelte Briefe, hrsg. von Carl Helbling, Bern 1952, Bd. 1, S. 429.
  77. Vgl. Henrich Brockhaus: Kellers „Sinngedicht“ im Spiegel seiner Binnenerzählungen, S. 168.
  78. Literarität und Historismus, S. 103.
  79. Klaus Jeziorkowski: Literarität und Historismus, S. 59–66.
  80. 11. Kapitel, Mitte.
  81. Literarität und Historismus, S. 105.
  82. 13. Kapitel, Anfang.
  83. Literarität und Historismus, S. 107.
  84. Keller an Eduard Vieweg, 5. November 1853, Gesammelte Briefe, Bd. 3.2, S. 80.
  85. Als Reinhart Lucie statt des Empfehlungsbriefes den Zettel mit dem Epigramm überreicht (5. Kapitel, Schluss) und als er es, ihr zum Trotz, auswendig hersagt (9. Kapitel, Mitte).
  86. In Eichendorffs Rollengedicht Waldgespräch warnt die Zauberin den Ritter mit den Worten: „Groß ist der Männer Trug und List, / Vor Schmerz mein Herz gebrochen ist, / Wohl irrt das Waldhorn her und hin, / O flieh! Du weißt nicht, wer ich bin.“
  87. Vgl. Faust. Eine Tragödie.#Hexenküche.
  88. Zur Namensübertragung vgl. Heinrich Dörrie: Pygmalion. Ein Impuls Ovids und seine Wirkung bis in die Gegenwart, Westdeutscher Verlag, Opladen 1974, S. 55 ff.
  89. Vgl. August Wilhelm Schlegels Gedicht Pygmalion (1797), sowie Karl Leberecht Immermanns Erzählung Der neue Pygmalion (1825).
  90. So bereits in einem Gedicht Pygmalion des jungen Goethe.
  91. Den Anfang machte Victor Massé mit Galatée (1852), neu vertont von Franz von Suppè als Die schöne Galathée (1865). Deren Londoner Aufführung regte William Schwenck Gilbert zur Komödie en:Pygmalion and Galatea (1871) an, die wiederum Shaws ernsthaftem Konversationsstück Pygmalion (1913) den Boden bereitete. Zur Vielfalt der Adaptionen vgl. den Artikel en:Pygmalion (mythology)#Re-interpretations of Pygmalion.
  92. Herbert Anton: Mythologische Erotik in Kellers „Sieben Legenden“ und im „Sinngedicht“, Stuttgart 1970, S. 89.
  93. Augenkur und Brautschau, S. 291. Das vorletzte Kapitel der Abhandlung trägt die Überschrift: „Pygmalion und das Logausche Rezept: Inzest, Tötung und Belebung“ (S. 282–314).
  94. Augenkur und Brautschau, S. 313 f.
  95. Augenkur und Brautschau, S. 282.
  96. Augenkur und Brautschau, S. 12.
  97. Vgl. Anneliese Kuchinke-Bach: Gottfried Kellers Sinngedicht – Logaus Sinnspruch beim Wort genommen, in: Euphorion, Bd. 86 (1992), S. 39–64.
  98. Vgl. Faust II, Klassische Walpurgisnacht.
  99. Heinrich Dörrie: Pygmalion, S. 56. Vgl. auch vom selben Autor: Die schöne Galatea. Eine Gestalt am Rande des griechischen Mythos in antiker und neuzeitlicher Sicht, Ernst Heimeran Verlag, München 1968, S. 58–87.
  100. Jonas Fränkel, Hrsg.: Gottfried Keller. Sämtliche Werke, Bd. 11, Bern und Leipzig 1934, S. 383.
  101. Keller an Julius Rodenberg, 8. April 1881, Gesammelte Briefe, Bd. 3.2, S. 386 f.
  102. Sämtliche Werke, ed. Fränkel, Bd. 11, S. 402.
  103. Keller an Adolf Exner, 16. Dezember 1881, Gesammelte Briefe, Bd. 2, S. 279 f.
  104. So geschehen durch Klaus Jeziorkowski: Dichter über ihre Dichtungen: Gottfried Keller, Heimeran Verlag, München 1969, S. 337–396.
  105. Keller an Eduard Vieweg, 5. November 1853, Gesammelte Briefe, Bd. 3.2, S. 80 f.
  106. Keller an Franz Duncker, 29. September 1855 und 8. November 1855, Gesammelte Briefe, Bd. 3.2, S. 168–171.
  107. Die von Italien begeisterte Betty Tendering, in die Keller sich 1855 hoffnungslos verliebt hatte.
  108. Keller an Lina Duncker, 11. oder 12. Juni 1856, Gesammelte Briefe, Bd. 2, S. 156 f.
  109. Keller an Lina Duncker, 23. Juli 1858, Gesammelte Briefe, Bd. 2, S. 174.
  110. Keller an Ferdinand Freiligrath, 22. April 1860, Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 268.
  111. Keller an Franz Duncker, 24. April 1860, Gesammelte Briefe, Bd. 3.2, S. 175.
  112. Franz Duncker an Keller, 28. September 1878, Gesammelte Briefe, Bd. 3.2, S. 177f.
  113. Keller an Julius Rodenberg, 30. Oktober 1880, Gesammelte Briefe, Bd. 3.2, S. 376.
  114. Nach Karl Reichert sollte Regine ursprünglich glücklich enden (Gottfried Kellers „Sinngedicht“ – Entstehung und Struktur, S. 86).
  115. Vgl. Walter Morgenthaler u. a. Hrsg.: Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe, Stroemfeld-Verlag, Frankfurt a. M. 1998, Bd. 23.1, S. 275 und S. 235. – Im Kommentar wird bezweifelt, dass sich obige Novelle auf das Sinngedicht bezieht, vgl. S. 18 f.
  116. Karl Reichert: Gottfried Kellers „Sinngedicht“ – Entstehung und Struktur, S. 82 ff. Siehe auch vorige Anm.
  117. Gottfried Keller: Jeremias Gotthelf, in: Blätter für literarische Unterhaltung, Jg. 1849, Nr. 302; Sämtliche Werke Bd. 22 (Bern 1948, hrsg. von Carl Helbling), S. 49.
  118. Vgl. Jonas Fränkels Kommentar in Gottfried Keller. Sämtliche Werke, Bd. 11, S. 393.
  119. Karl Reichert: „Sinngedicht“ – Entstehung und Struktur, S. 85 f.
  120. Reichert: „Nach Auerbachs lobender Rezension der ersten fünf Seldwyler Novellen […] (April 1856) war an die Fortsetzung und Veröffentlichung der Galatea-Novellen ‚contra Auerbach‘ nicht mehr zu denken. In der zweiten Phase der Werkentstehung traten daher die späteren Legenden in den Mittelpunkt dieser Konzeption“ („Sinngedicht“ – Entstehung und Struktur, S. 86 f.)
  121. Überdies war Keller kein Freund literarischer Koterie. Dass die Bereitschaft, Auerbach herauszufordern, durch dessen Lob nicht gedämpft wurde, zeigt sein Brief an Hermann Hettner vom 18. Oktober 1856: „Grüßen Sie ihn [Auerbach] indessen bestens von mir; ich bin begierig, wie er meine nächsten Novellen ansehen wird, da sie von dem, was er so freundlich und wirklich edelmütig an den ‚Leuten von Seldwyla‘ gelobt hat, gänzlich abspringen oder wenigstens einen andern Ton anschlagen. Denn ich hoffe allmählich zu zeigen oder zu versuchen, daß ich nicht nur auf einer Saite geige.“ (Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 436).
  122. Baechtold, gestorben 1897, kannte nicht die erst 1907 erschienene Auerbach-Biographie, in der Anton Bettelheim dieser Ansicht, die sich in der Literatur zu Henle, Egloff und Keller bis heute hartnäckig hält, mit triftigen Gründen entgegentrat. Bettelheim zufolge nahm Henle seinem Freund Auerbach nicht Die Frau Professor von 1847 übel, sondern eine Passage in dessen Roman Neues Leben von 1852. Vgl. Anton Bettelheim: Berthold Auerbach; der Mann, sein Werk, sein Nachlass. Cotta, Stuttgart 1907, S. 236; PDF (14 MB).
  123. Jakob Baechtold: Gottfried Keller’s Leben. Seine Briefe und Tagebücher, Bd. 1, Berlin 1894, S. 325.
  124. Im 1. Kapitel des vierten Bandes.
  125. Keller und Henle standen in verschiedenen politischen Lagern; vgl. den Brief Kellers an Wilhelm Baumgartner vom 28. Januar 1849, Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 273–281.
  126. Vgl. 8. Kapitel, Mitte; Sämtliche Werke (Fränkel), Bd. 11, S. 106.
  127. 8. Kapitel, Anfang.
  128. Keller an Mayer, 1. Mai 1881, Gesammelte Briefe, Bd. 3.2., S. 328.
  129. Keller an Storm, 16. August 1881, Gesammelte Briefe, Bd. 3.1, S. 465.
  130. Heyse an Keller, 5. Juni 1881.
  131. Keller an Heyse, 27. Juli 1881.
  132. Im Anhang zu Wilhelm Scherer: Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 1918, S. 630.
  133. Zitiert nach: Georg Lukács: Die Grablegung des alten Deutschlands. Essays zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, Rowohlts Deutsche Enzyklopädie, Bd. 276, Hamburg 1967, S. 59 f.
  134. Stichwortartikel Das Sinngedicht, in: Kindlers Literaturlexikon im dtv, München 1986, Band 10, S. 8749 f.
  135. In: Jahrbuch der Schillergesellschaft Nr. 30. (1986), S. 470.
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