SS-21 Scarab
Die SS-21 Scarab ist der NATO-Codename für eine taktische ballistische Boden-Boden-Rakete aus sowjetischer/russischer Produktion. Im GRAU-Index der Streitkräfte Russlands trägt sie die Bezeichnung 9K79 Totschka (russisch Точка, Totschka, übersetzt ‚Punkt‘). Die Lenkwaffe wird 9M79 bezeichnet.
9K79 Totschka | |
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Allgemeine Angaben | |
Typ | Boden-Boden-Rakete |
Heimische Bezeichnung | 9K79 Totschka |
NATO-Bezeichnung | SS-21 Scarab |
Herkunftsland | Sowjetunion / Russland |
Hersteller | Konstruktionsbüro KBM, Kolomna |
Entwicklung | 1968 |
Indienststellung | 1976 |
Einsatzzeit | im Dienst |
Technische Daten | |
Länge | 6,40 m |
Durchmesser | 650 mm |
Gefechtsgewicht | 9M79: 2000 kg 9M79-1: 2010 kg |
Spannweite | 9M79: 1.350 mm 9M79-1: 1.440 mm |
Antrieb | Feststoff-Raketentriebwerk |
Geschwindigkeit | 1.036 m/s (Mach 3,1) |
Reichweite | 9M79: 70 km 9M79-1: 120 km |
Ausstattung | |
Lenkung | Trägheitsnavigationssystem |
Gefechtskopf | 482 kg Splittergefechtskopf, Streumunition, Nukleargefechtskopf |
Zünder | Programmierbarer Zünder |
Waffenplattformen | BAZ-5921-Lkw |
Listen zum Thema |
Entwicklung
Die 9K79 wurde als Nachfolgemodell der 9K52 Luna-M (NATO-Codename: FROG-7) konzipiert.[1] Im Jahr 1968 wurde im Konstruktionsbüro KBM in Kolomna mit der Systementwicklung begonnen. Die 9K79 wurde 1976 in der Sowjetarmee eingeführt.[2] Die verbesserte Ausführung 9K79-1 wurde in den Jahren 1984–1988 entwickelt.[3] Weiter arbeitete man beim Konstruktionsbüro KBM in den 1990er-Jahren an der Ausführung 9K79M. Mit den nochmals verbesserten 9M79M-Raketen sollen Schussdistanzen von bis zu 180 km erreicht worden sein.[4] Ob die Ausführung 9K79M fertig entwickelt wurde, ist nicht bekannt.[5] Bis zum Zerfall der Sowjetunion wurden über 1200 Lenkwaffen hergestellt.[5]
Versionen
- 9K79 Totschka: 1. Serienversion, eingeführt 1976.
- mit Rakete 9M79 mit einer Reichweite von 70 km.
- 9K79-1 Totschka-U: 2. Serienversion, eingeführt 1988.
- mit Rakete 9M79-1 mit einer Reichweite von 120 km.
- 9K79P Totschka-P: mit passiver Radarlenkung zur Bekämpfung von Radaranlagen.[6]
- mit Rakete 9M79R mit einer Reichweite von 70–120 km.
- mit Rakete 9M79FR.
- mit Rakete 9M79-1FR.
- KN-02 Toksa: Nachbau mittels Reverse Engineering aus Nordkorea.
Technik
Die SS-21 gehört zur Klasse der Gefechtsfeld-Kurzstreckenraketen (BSRBM). Das System ist auf dem geländegängigen BAZ-5921-Lkw platziert. Dabei handelt es sich um eine modifizierte Version des BAZ-5937. Der Systemindex der Streitkräfte Russlands für dieses Fahrzeug lautet 9P129 bzw. OTR-21. Das System ist hochmobil und schnell verlegbar. Es wird eine minimale Reaktionszeit aus voller Fahrt bis zum Raketenstart von fünf Minuten erreicht.[7] Jedes Fahrzeug ist mit einer 9M79-Rakete bestückt.
Die 9M79-Rakete wird von einem einstufigen, kartuschierten Feststoff-Raketentriebwerk angetrieben.[1] Die Brenndauer des Triebwerkes liegt je nach Ausführung zwischen 18,4 und 28 Sekunden. Das Raketentriebwerk beschleunigt die Rakete auf eine Geschwindigkeit von 1.036 m/s (rund Mach 3,1). Die Steuerung erfolgt mittels einer Trägheitsnavigationsplattform, die während des gesamten Flugs aktiv ist. Die Kurskorrekturen erfolgen durch vier Strahlruder sowie vier trapezförmige wabenförmige Gitterflossen am Raketenheck. Die Reichweitensteuerung erfolgt nicht durch Schubterminierung, sondern durch Anpassen der Flugbahn.[1] Daher kann die Flugbahn der Raketen neben der üblichen Wurfparabel auch der einer semi-ballistischen Kurve gleichen. Die maximale Schussdistanz von 120 km wird in 136 Sekunden zurückgelegt.[8] Bei der maximalen Schussdistanz von 120 km beträgt das Apogäum 26 km.[8] Die minimale Einsatzdistanz liegt je nach Version bei 15 bis 20 km.[5] Die maximale Einsatzdistanz liegt je nach Version bei 70 bis 120 km.[1] Die Raketen erzielen einen Streukreisradius (CEP) von 50 bis 300 m (je nach Version und Schussdistanz).[2][3][4]
Die Raketen können mit unterschiedlichen Gefechtsköpfen bestückt werden:
- 9N39: mit AA-60-Nuklearsprengkopf mit einer variablen Sprengleistung von 10–100 kT.[8]
- 9N64: mit AA-86-Nuklearsprengkopf mit einer variablen Sprengleistung von 5–50 kT.[5]
- 9N64: mit AA-92-Nuklearsprengkopf mit einer variablen Sprengleistung von 100–200 kT.[5]
- 9N123F: 482 kg schwerer Splittergefechtskopf. Splitterwirkungskreis 80–100 m.[8]
- 9N123F-1: verbesserter 9N123F-Splittergefechtskopf. Splitterwirkungskreis 100–150 m.
Beim Zielanflug wird die Rakete in einer Höhe von rund 450 m auf einen Winkel von 80° zur Erdoberfläche eingeschwenkt.[2] Der 9N123F-Splittergefechtskopf ist in einem Winkel von 10° zur Längsachse der Rakete eingebaut. Dadurch befindet sich der Gefechtskopf im Moment der Detonation in einer senkrechten Lage über dem Ziel und entfaltet eine optimale Flächenwirkung. Der Splittergefechtskopf wird durch einen Laser-Näherungszünder in einer Höhe von 15–21 m zur Detonation gebracht und hat je nach Ausführung einen Splitterwirkungskreis von 80–150 m. Der 9N123F-Splittergefechtskopf wiegt 482 kg, hat einen Sprengstoffanteil von 162,5 kg und erzeugt 14.500 Splitter.[8] Der 9N123K-Bomblet-Gefechtskopf öffnet sich in einer Höhe von 2.250 m und verteilt die Bomblets in einem kreisförmigen Gebiet von 20.000–30.000 m². Das 9N24-Splitter-Bomblet wiegt 7,45 kg und erzeugt 316 Splitter.[2]
Einsatz
Die SS-21 löste bei der Sowjetarmee die FROG-7-Systeme ab. Das System wurde in großem Umfang exportiert. Neben den sowjetischen Streitkräften wurde es von elf Staaten beschafft. In der Folge kam die SS-21 bei verschiedenen kriegerischen Auseinandersetzungen zum Einsatz. Die sowjetischen und später die russischen Streitkräfte setzten die SS-21 in Afghanistan, Tschetschenien und im Kaukasuskrieg 2008 ein.[10][11] Im Bürgerkrieg in Syrien wird die SS-21 von der syrischen Armee eingesetzt. Am 21. Februar 2020 wurden zwei OTR-21 von der syrischen Armee gegen die von der Türkei unterstützten HTS-Rebellen eingesetzt und Raketenwerfer und Haubitzen getroffen, die zuvor die syrische Armee beschossen hatten.[12] Die SS-21 kommt im Bürgerkrieg in Jemen und im Rahmen der Militärintervention im Jemen seit 2015 zum Einsatz.[13] Im Zuge vom Krieg um Bergkarabach 2020 beschossen die Streitkräfte Armeniens die Stadt Gəncə in Aserbaidschan mit einer unbekannten Anzahl 9K79-Totschka-Raketen.[14][15][16] Nach von unabhängiger Seite nicht bestätigten Berichten starteten beim Russischen Überfall auf die Ukraine 2022 die Ukrainischen Streitkräfte in den ersten Tagen eine unbekannte Anzahl 9M79-Raketen; u. a. gegen den Luftwaffenstützpunkt Millerovo in der russischen Oblast Rostow nahe der ostukrainischen Grenze.[17][18]
Nutzerstaaten
Bei den Streitkräften Russlands war die 9K79 Totschka bis Ende 2019 im Einsatz. Sie wurde durch die 9K723 Iskander (NATO-Codename: SS-26 Stone) ersetzt.[19]:196
Aktuelle Nutzer
- Armenien – Stand Januar 2020 befinden sich 4 SS-21-Startfahrzeuge im Dienst.[19]:183
- Aserbaidschan – Stand Januar 2020 befinden sich 4 SS-21-Startfahrzeuge im Dienst.[19]:185
- Bulgarien – Stand Januar 2020 befindet sich eine unbekannte Anzahl von SS-21-Startfahrzeugen im Dienst.[19]:92
- Jemen – Stand Januar 2020 befindet sich eine unbekannte Anzahl von SS-21-Startfahrzeugen im Dienst.[19]:384
- Kasachstan – Stand Januar 2020 befinden sich 12 SS-21-Startfahrzeuge im Dienst.[19]:191
- Nordkorea – Stand Januar 2020 befindet sich eine unbekannte Anzahl von SS-21-Startfahrzeugen im Dienst. Lokale Bezeichnung KN-02 Toksa.[19]:285
- Syrien – Stand Januar 2020 befindet sich eine unbekannte Anzahl von SS-21-Startfahrzeugen im Dienst.[19]:377
- Ukraine – Stand Januar 2020 befinden sich 90 SS-21-Startfahrzeuge im Dienst.[19]:212
- Belarus – Stand Januar 2020 befinden sich 36 SS-21-Startfahrzeuge im Dienst.[19]:188
Ehemalige Nutzer
- Deutsche Demokratische Republik – 8 Startfahrzeuge und 70 Raketen[20]
- Polen – 4 Startfahrzeuge und 40 Raketen[20]
- Sowjetunion & Russland – rund 300 Startfahrzeuge[20]
- Tschechoslowakei – 8 Startfahrzeuge und 70 Raketen[20]
- Ungarn – 4 Startfahrzeuge und 40 Raketen[20]
- Usbekistan – unbekannte Anzahl[20]
Siehe auch
Literatur
- Duncan Lennox: Jane’s Strategic Weapon Systems. Edition 2001, 34th edition Edition, Jane’s Information Group, 2001, ISBN 0-7106-0880-2.
- Michal Fiszer, Jerzy Gruszczynski: Bolt From the Blue – Russian land-based precision-strike missiles. In: Journal of Electronic defense. Bd. 26, Nr. 3, Horizon House Publications, 2003
- Schmucker Robert & Schiller Markus: Raketenbedrohung 2.0: Technische und politische Grundlagen. Mittler Verlag, 2015, ISBN 3-8132-0956-3.
Weblinks
Einzelnachweise
- Schmucker Robert & Schiller Markus: Raketenbedrohung 2.0: Technische und politische Grundlagen. 2015. S. 350–352.
- ТАКТИЧЕСКИЙ РАКЕТНЫЙ КОМПЛЕКС 9К79 «ТОЧКА». In: bastion-karpenko.ru. НЕВСКИЙ БАСТИОН, abgerufen am 11. November 2020 (russisch).
- ТАКТИЧЕСКИЙ РАКЕТНЫЙ КОМПЛЕКС 9К79-1 «ТОЧКА-У». In: bastion-karpenko.ru. НЕВСКИЙ БАСТИОН, abgerufen am 11. November 2020 (russisch).
- 9К79 Точка - SS-21 SCARAB. In: military.tomsk.ru. Military Russia, abgerufen am 1. Oktober 2020 (russisch).
- Duncan Lennox: Jane’s Strategic Weapon Systems. Edition 2001, 34th edition Edition, Jane’s Information Group, 2001, S. 139–141.
- ТАКТИЧЕСКОГО РАКЕТНОГО КОМПЛЕКСА 9К79 «ТОЧКА-Р». In: bastion-karpenko.ru. НЕВСКИЙ БАСТИОН, abgerufen am 11. November 2020 (russisch).
- Fiszer Michal & Gruszczynski Jerzy: Bolt From the Blue – Russian land-based precision-strike missiles. in: Journal of Electronic Defense. Bd. 26, Nr. 3, 2003.
- Raketenkomplex 9K79 Totschka. In: rwd-mb3.de. Raketen- und Waffentechnischer Dienst im Kdo. MB III, abgerufen am 13. November 2018.
- Сайт Федорова Льва Александровича: Химическое разоружение по-русски (russisch)
- https://web.archive.org/web/20080913195713/http://de.rian.ru/analysis/20080909/116648987.html
- https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/140512/
- Within Syria: Two OTR-21 missiles have targeted Turkish forces in Sarmin ... As for now. In: @WithinSyriaBlog. 20. Februar 2020, abgerufen am 21. Februar 2020 (englisch).
- Sebastien Roblin: SS-21 Scarab: Russia's Forgotten (But Deadly) Ballistic Missile. In: nationalinterest.org. The National Interest, 12. September 2016, abgerufen am 3. März 2017 (englisch).
- Ministry of Defence of the Republic of Azerbaijan. In: mod.gov.az/en. Abgerufen am 19. Oktober 2020 (englisch).
- МЧС Азербайджана сообщило о 13 погибших при ракетном обстреле Гянджи. In: ria.ru. Россия сегодня, 17. Oktober 2020, abgerufen am 19. Oktober 2020 (englisch).
- Karabakh war leaves civilians shell-shocked and bitter. In: bbc.com. British Broadcasting Corporation, 15. Oktober 2020, abgerufen am 19. Oktober 2020 (englisch).
- Janes.com: Ukraine reportedly strikes Russian airbase
- Shephardmedia.com: Russian equipment losses underline hardy Ukrainian resistance
- The International Institute for Strategic Studies (IISS): The Military Balance 2020. 1. Auflage. Routledge, London 2020, ISBN 978-1-85743-955-7 (englisch, Stand: Januar 2020).
- Trade Register auf sipri.org, Zugriff: 27. Januar 2022.