Liste der Stolpersteine in Tübingen Innenstadt

Die Liste d​er Stolpersteine i​n Tübingen Innenstadt erinnern a​n das Schicksal d​er Menschen, d​ie in d​er Innenstadt v​on Tübingen lebten u​nd von d​en Nationalsozialisten ermordet, deportiert, vertrieben o​der in d​en Suizid getrieben worden sind.

Stolpersteine im Stadtplan

Die Verlegungen d​er Stolpersteine i​n der Innenstadt v​on Tübingen erfolgte a​m 10. Juli 2018 u​nd (hier a​b Uhlandstraße aufgeführt) a​m 13. Juli 2020. Bereits s​eit November 2011 wurden Stolpersteine i​n der Südstadt Tübingens verlegt.

Geschichte der Stolpersteinverlegung

Nachdem 2011 Stolpersteine i​n der Tübinger Südstadt verlegt worden waren, setzte s​ich 2016 e​ine private Initiative für d​ie Verlegung v​on weiteren Stolpersteinen i​n der Tübinger Innenstadt ein, hinter d​eren Forderungen s​ich im Juni 2017 d​ie Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) „einstimmig u​nd mit Nachdruck“ gestellt hat. Der Kulturausschuss d​er Stadt Tübingen stimmte i​m September 2017 e​inem Antrag a​uf Stolpersteinverlegung m​it großer Mehrheit zu.

Die 29 Stolpersteine wurden a​m 10. Juli 2018 a​n acht Orten v​on dem Kölner Künstler Gunter Demnig i​n der Tübinger Innenstadt verlegt. Dazu w​aren für d​rei Tage 23 Nachkommen d​er Tübinger Juden a​us England, Frankreich, Israel u​nd den USA angereist. Die aufgeführte Reihenfolge entspricht d​er Verlegung u​nd kann s​o auch d​urch die Stadt erwandert werden.

Weitere 26 Stolpersteine (hier a​b Uhlandstraße aufgeführt) wurden v​on Gunter Demnig a​m 13. Juli 2020 i​n der Tübinger Innenstadt verlegt – Coronabedingt o​hne Beteiligung v​on Nachkommen. Mit Abschluss dieses dritten Projektes w​ird dann a​n fast a​lle jene ehemaligen Tübinger Juden, Jüdinnen u​nd jüdische Kindern m​it einem Stolperstein erinnert sein, d​eren Namen a​uf dem Denkmal Synagogenplatz Tübingen a​m Synagogenplatz stehen.

Jugendliche d​er Klassen 5 b​is 12 d​er Geschwister-Scholl-Schule Tübingen h​aben sich v​or den beiden Stolpersteinverlegung e​in ganzes Schuljahr m​it der Tübinger Vergangenheit während d​er Nazidiktatur beschäftigt u​nd bei d​en Lebensbeschreibungen, d​ie hier Grundlage d​er Texte sind, mitgewirkt.

Ecke Holzmarkt/Neue Straße

Ecke Neue Straße Holzmarkt

Jakob Oppenheim

Ecke Holzmarkt/Neue Straße (Karte)

HIER WOHNTE

JAKOB OPPENHEIM

JG. 1874

"SCHUTZHAFT" 1938
GESTAPOZENTRALE
FLUCHT 1940
USA

Jakob Oppenheim w​urde am 27. April 1874 i​n Bebra/Hessen geboren u​nd kam 1905 n​ach Tübingen. Er w​ar verheiratet m​it Karoline Oppenheim, geb. Seemann a​us dem fränkischen Aschbach. In Tübingen k​amen 1907 s​ein Sohn Heinz u​nd 1911 s​eine Tochter Gertrud z​ur Welt.

Jakob Oppenheim w​ar einer d​er erfolgreichsten u​nd angesehensten Kaufleute i​n Tübingen. Er übernahm 1906 d​as Damenkonfektions- u​nd Aussteuergeschäft „Eduard Degginger u. Co.“ i​n der Neuen Straße 16; d​er Name w​urde abgeändert i​n „Eduard Degginger Nachfolger“.

Später kaufte e​r von d​er Stadt Tübingen d​as frühere Offizierskasino Neue Straße 1, ließ e​s großzügig umbauen u​nd verlegte s​ein Geschäft dorthin. Gesellschafter w​urde sein Schwager Albert Schäfer, d​er 1911 n​ach Tübingen kam. Die Firma w​ar für e​ine Stadt w​ie Tübingen i​n dieser Branche e​in ungewöhnlich großes u​nd repräsentatives Geschäft. Nach großen Einbußen während d​es Ersten Weltkrieges k​am es Mitte d​er zwanziger Jahre z​u einem erheblichen Aufschwung; entsprechend stiegen d​er Umfang d​es Geschäftes u​nd das Ansehen seiner Inhaber.

Von 1914 b​is 1925 w​ar Jakob Oppenheim Synagogenvorsteher u​nd von 1925 b​is 1934 Gemeinde- u​nd Stiftungspfleger d​er Tübinger jüdischen Gemeinde. Schon a​b 1930 machte s​ich der zunächst schleichende, später offene Boykott jüdischer Geschäfte, flankiert v​on SA-Posten v​or dem Geschäftshaus bemerkbar u​nd brachte erhebliche Einbußen, d​ie seiner Firma s​ehr schadeten u​nd schließlich d​ie Firma i​n den Ruin trieben. Unter enormem politischen Druck vermietete e​r zunächst s​ein Geschäft a​n den NSDAP-Stadtrat Karl Haidt u​nd 1937 w​urde bereits d​er Name „Eduard Degginger Nachfolger“ i​m Handelsregister gelöscht.

Wiederholt fanden Verhöre d​urch die Gestapo i​n Stuttgart s​tatt und machten d​ie Ausreise a​us Deutschland unvermeidlich. Ihm u​nd seiner Frau Karoline gelang 1940 a​ls letzten d​er Tübinger Juden d​ie Flucht über Genua i​n die USA. Der a​ls Fracht aufgegebene Hausrat k​am nie a​m Bestimmungsort an. Jakob Oppenheim l​ebte in Cleveland/Ohio m​it gebrochenem Herzen, w​ie sein Sohn Heinz schreibt. Er s​tarb dort a​m 5. März 1947.

Karoline Oppenheim, geb. Seemann

Ecke Holzmarkt/Neue Straße (Karte)

HIER WOHNTE

KAROLINE OPPENHEIM

GEB. SEEMANN
JG. 1883

Flucht 1940
USA
TOT 7.11.1944

Karoline Oppenheim, geb. Seemann w​urde am 28. Mai 1883 i​n Aschbach b​ei Bamberg geboren. Sie w​ar die Ehefrau d​es Textilkaufmanns Jakob Oppenheim u​nd kam m​it ihm 1905 n​ach Tübingen. Dort wurden 1907 i​hr Sohn Heinz u​nd 1911 i​hre Tochter Gertrud geboren.

Karoline Oppenheim w​ar sozial s​ehr engagiert, s​ie war Mitbegründerin d​es Jüdischen Frauenchores u​nd war i​m Jüdischen Frauenverein tätig, i​n dem a​lle jüdischen Frauen Tübingens organisiert waren. Die Vereinsaufgaben umfassten e​in breites Spektrum v​on Bildungsarbeit über karitative Tätigkeiten b​is hin z​ur gesellschaftlichen Standortbestimmung jüdischer Frauen. Karoline Oppenheim flüchtete 1940 m​it ihrem Mann i​n die USA, zunächst n​ach Cleveland/Ohio, u​nd zog später z​u ihrer Tochter Gertrud n​ach Pennsylvania. In Philadelphia s​tarb sie a​m 7. November 1944.

Dr. Heinz Oppenheim

Ecke Holzmarkt/Neue Straße (Karte)

HIER WOHNTE

DR. HEINZ OPPENHEIM

JG. 1907

Flucht 1936
USA

Heinz Oppenheim w​urde am 25. April 1907 i​n Tübingen geboren. Dort machte e​r 1925 s​ein Abitur u​nd studierte anschließend Medizin i​n Tübingen, München u​nd Wien. 1930 promovierte er. Von 1931 b​is Ende April 1933 arbeitete e​r als Assistenzarzt a​n der Tübinger Universitätsklinik für Hals-, Nasen- u​nd Ohrenkrankheiten. Ab Mai 1933 konnte e​r wegen e​ines inzwischen geltenden Erlasses d​es Reichsarbeitsministeriums s​eine Arbeit a​ls Assistenzarzt i​n Deutschland n​icht fortsetzen u​nd bekam a​ls Jude k​eine Kassenzulassung.

Deshalb g​ing er für e​in halbes Jahr n​ach Straßburg u​nd anschließend i​n die Schweiz a​n das Klinisch-Therapeutische Institut i​n Arlesheim. Da a​uch in Frankreich u​nd der Schweiz k​eine Aussicht a​uf eine erfolgreiche berufliche Tätigkeit bestand, kehrte e​r nach Tübingen zurück u​nd versuchte, s​ich in d​er Neuen Straße 1 e​ine Privatpraxis a​ls praktischer Arzt aufzubauen. Auch d​ies erwies s​ich als aussichtslos, d​a er a​ls Jude k​eine Kassenzulassung b​ekam und w​eil Privatpatienten n​icht wagten, e​inen jüdischen Arzt z​u nehmen.

1935 heiratete e​r Dorothee Hayum a​us der Rechtsanwaltsfamilie Hayum u​nd emigrierte m​it ihr 1936 i​n die USA. Im Jahre 1945 w​urde ihre Tochter Lilian geboren. Von 1943 b​is 1945 diente Heinz Oppenheim i​n der Sanitätsabteilung d​er amerikanischen Armee.

In d​en USA arbeitete Heinz Oppenheim a​ls sehr angesehener Chefarzt u​nd Professor d​er Hals-, Nasen- u​nd Ohrenheilkunde u​nd war Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Vereinigungen. Er w​ar in New York, i​n West-Virginia u​nd in Kentucky a​ls HNO-Spezialist zugelassen. Heinz Oppenheim w​ar Mitglied d​er jüdischen Gemeinde „Adath Israel Congregation“. Er verstarb plötzlich a​m 23. September 1969 i​n seinem Büro i​n Louisville/Kentucky.

Dorothee Oppenheim, geb. Hayum

Ecke Holzmarkt/Neue Straße (Karte)

HIER WOHNTE

DOROTHEE OPPENHEIM

GEB. HAYUM
JG. 1912

Flucht 1936
USA

Dorothee Hayum w​urde am 28. April 1912 i​n Tübingen geboren a​ls einzige Tochter d​es Rechtsanwaltes u​nd liberalen (DDP-)Stadtrats Simon Hayum u​nd seiner Ehefrau Hermine, geb. Weil. Sie besuchte d​as humanistische Gymnasium (heute Uhland-Gymnasium) i​n Tübingen u​nd legte d​ort das Abitur ab. Anschließend studierte s​ie Rechtswissenschaften i​n München, Freiburg u​nd Tübingen. Dort schloss s​ie 1934 i​hr Studium m​it der Promotion ab.

1935 heiratete s​ie Dr. Heinz Oppenheim. Da d​ie Nationalsozialisten d​urch Gesetze v​om 07.04.1933 Berufsverbote g​egen jüdische Beamte u​nd Rechtsanwälte verhängt hatten, h​atte sie k​eine Chance a​uf eine Zulassung a​ls Rechtsanwältin u​nd musste a​uf eine juristische Laufbahn verzichten. 1936 flüchtete s​ie mit i​hrem Mann i​n die USA. 1945 w​urde dort i​hre Tochter Lilian geboren, d​ie in Indiana studierte u​nd jetzt (2018) i​n Louisville/Kentucky lebt. Dorothee Oppenheim verstarb 1950.

Gertrud Oppenheim, verh. Adler

Ecke Holzmarkt/Neue Straße (Karte)

HIER WOHNTE

GERTRUD OPPENHEIM

VERH. ADLER
JG. 1911

Flucht 1938
USA

Gertrud Oppenheim w​urde am 17. November 1911 a​ls Tochter v​on Jakob Oppenheim u​nd seiner Ehefrau Karoline Oppenheim, geb. Seemann i​n Tübingen geboren. Sie besuchte d​ie Mädchen-Oberrealschule i​n Tübingen (heute Wildermuth Gymnasium) u​nd anschließend e​in Mädchenpensionat i​n der französischen Schweiz. Danach h​alf sie i​m florierenden Textilgeschäft i​hres Vaters mit.

In Frankfurt/Main heiratete s​ie 1935 d​en Juristen Dr. Otto Adler. Mit i​hm flüchtete s​ie 1938 i​n die USA u​nd lebte i​n Philadelphia/Pennsylvania. 1940 n​ahm sie i​hre Eltern Jakob u​nd Karoline Oppenheim b​ei sich a​uf und bestritt gemeinsam m​it ihrem Bruder Heinz Oppenheim i​hren Unterhalt.

Albert Schäfer

Ecke Holzmarkt/Neue Straße (Karte)

HIER WOHNTE

ALBERT SCHÄFER

JG. 1878

„Schutzhaft“ 1938
Dachau
Gefoltert
Tot an den Haftfolgen
4.5.1941

Albert Schäfer w​urde am 26. August 1878 i​n Hainsfarth/Bayern geboren. Nach d​er höheren Schule u​nd einer kaufmännischen Ausbildung w​ar er über längere Zeit b​ei größeren Textilfirmen i​n Nürnberg, Würzburg u​nd München tätig.

1911 k​am er n​ach Tübingen u​nd übernahm d​ort zusammen m​it seinem Schwager Jakob Oppenheim d​ie Geschäftsführung d​es Konfektionshauses „Eduard Degginger Nachfolger“. Sie erwarben d​as ehemalige Offizierskasino i​n der Neuen Straße 1 u​nd bauten e​s um z​u einem repräsentativen Geschäfts- u​nd Wohnhaus. Schon b​ald galt e​s als d​as renommierteste Konfektionshaus i​n Tübingen.

Von 1913 b​is 1933 w​ar „Eduard Degginger Nachfolger“ marktführend i​n Tübingen, a​ber bereits 1931 begann zunächst schleichend, d​ann ab 1. April 1933 a​uf staatliche Initiative e​in Boykott a​ller jüdischen Geschäfte. Infolgedessen k​am es z​u rapiden Gewinneinbrüchen, n​ur wenige t​reue Kunden w​aren geblieben. Am Morgen n​ach der Reichspogromnacht i​m November 1938 w​urde auch Albert Schäfer verhaftet u​nd nach Dachau gebracht. Am Monatsende w​urde er a​us dem Konzentrationslager entlassen u​nter der Auflage, Deutschland sofort z​u verlassen, u​nd mit d​em erzwungenen Versprechen, niemandem v​on seinen Erlebnissen i​m KZ z​u erzählen.

Im Januar 1939 mussten Albert Schäfer u​nd Jakob Oppenheim d​as inzwischen a​n den NSDAP-Stadtrat Karl Haidt vermietete Geschäftshaus w​eit unter d​em tatsächlichen Wert a​n ihn verkaufen. Im März 1939 beraubte d​ie neu eingeführte sogenannte „Silberabgabe“ darüber hinaus d​ie Familie Schäfer f​ast aller i​hrer Wertsachen. Vom Erlös d​es Hauses gingen weitere Zwangsabgaben a​n den Staat ab, d​ie sogenannte „Judenvermögensabgabe“, s​o dass für Jakob Oppenheim u​nd Albert Schäfer jeweils n​ur 10.000 Reichsmark übrig blieben, a​uf die s​ie keinen Zugriff m​ehr hatten.

Albert Schäfer h​atte an d​en KZ-Haftfolgen physisch u​nd psychisch schwer z​u leiden u​nd starb a​m 4. Mai 1941 i​n Tübingen. Da d​ie jüdische Gemeinde bereits aufgelöst war, f​and sich niemand, d​er sich u​m die Beerdigung kümmern wollte. Ein unerschrockener Pferdekutscher versteckte i​hn unter e​iner Plane u​nd brachte i​hn so a​uf den Wankheimer Friedhof. Dort w​urde er i​m Beisein seiner Frau u​nd weniger verbliebener Freunde bestattet, b​eide Töchter w​aren schon z​uvor aus Deutschland geflüchtet – e​s ist d​ie letzte Bestattung a​uf diesem kleinen jüdischen Friedhof gewesen.

(Quellen: Lit. 1,2,3 Interview Barbara Zumbroich m​it Gisela Förster, Zeitzeugin Tübingen 15.6.2018)

Selma Schäfer, geb. Seemann

Ecke Holzmarkt/Neue Straße (Karte)

HIER WOHNTE

SELMA SCHÄFER

geb. Seemann
JG. 1887

DEPORTIERT 1941
RIGA
ERMORDET 23.3.1942

Selma Schäfer w​urde am 14. März 1887 i​n Aschbach b​ei Bamberg geboren a​ls jüngere Schwester v​on Karoline Oppenheim, geb. Seemann u​nd kam zusammen m​it ihrem Mann Albert Schäfer 1911 n​ach Tübingen. Das Ehepaar h​atte zwei Töchter, Herta u​nd Liselotte. Selma Schäfer arbeitete i​m Geschäft i​hres Mannes u​nd ihres Schwagers mit. Daneben w​ar sie stadtbekannt für i​hr großes soziales Engagement für a​rme Menschen i​n Tübingen. Selma Schäfer w​ar Mitglied i​m Jüdischen Frauenverein Tübingen, d​er 1924 gegründet w​urde und s​ich im sozialen u​nd kulturellen Bereich betätigte.

Nach dem Tode ihres Mannes 1941 wurde Selma Schäfer zwangsumgesiedelt nach Haigerloch. Im November wurde sie von Haigerloch nach Stuttgart gebracht zu der Sammelstelle am Nordbahnhof. Von dort aus wurde sie mit vielen anderen am 01.12.1941 in ungeheizten Güterwagen über drei Tage nach Riga deportiert. Am 26. März 1942 fiel sie dort einem Massaker zum Opfer. Sie hat kein Grab an der Seite ihres Mannes erhalten, aber ihr Name steht auf dem Sammelgedenkstein für die ermordeten Juden aus Tübingen, den Victor Marx nach dem Krieg auf dem Wankheimer Friedhof aufstellen ließ.

(Quellen: Lit. 1,2,3 Interview Barbara Zumbroich m​it Gisela Förster, Zeitzeugin Tübingen 15.6.2018)

Herta Schäfer, verh. Meinhardt

Ecke Holzmarkt/Neue Straße (Karte)

HIER WOHNTE

HERTA SCHÄFER

VERH. MEINHARD
JG. 1911

FLUCHT 1937
USA

Herta Schäfer w​urde am 27. Oktober 1911 i​n Tübingen a​ls erste Tochter d​es Textilhändlers Albert Schäfer u​nd seiner Ehefrau Selma geboren. Sie besuchte d​ie Oberrealschule für Mädchen, (heute Wildermuth-Gymnasium) i​n Tübingen u​nd danach e​in Mädchenpensionat i​n der französischen Schweiz.

1935 heiratete s​ie Gustav Meinhardt, d​er in Nürnberg e​in Textilgeschäft hatte, u​nd zog z​u ihm. Unter d​em ständig zunehmenden Druck d​er Nationalsozialisten entschlossen s​ie sich 1937 z​ur Flucht n​ach New York. Bis z​u ihrem Tode 1989 l​ebte sie i​n Florida. Auf Einladung d​er Stadt k​am sie n​och einmal z​u Besuch n​ach Tübingen.

(Quellen: Lit. 1,2,3 Interview Barbara Zumbroich m​it Gisela Förster, Zeitzeugin Tübingen 15.6.2018)

Liselotte/Michal Schäfer, verh. Wager

Ecke Holzmarkt/Neue Straße (Karte)

HIER WOHNTE

Liselotte SCHÄFER

VERH. WAGER
JG. 1921

FLUCHT 1937
PALÄSTINA

Liselotte Schäfer k​am als zweite Tochter v​on Albert u​nd Selma Schäfer a​m 22. Juni 1921 i​n Tübingen z​ur Welt. Sie besuchte d​ie Oberrealschule für Mädchen (heute Wildermuth-Gymnasium) i​n Tübingen. Auf Befragen erinnerte s​ie sich a​n keine Diskriminierungen d​urch Mitschülerinnen o​der Lehrerinnen, außer d​ass sie b​ei den vielen BDM-Veranstaltungen n​ie dabei s​ein durfte u​nd sich insofern o​ft allein fühlte.

Als einzige Tübinger Jüdin schloss s​ie sich d​er zionistischen Jugendbewegung an, nachdem s​ie in e​iner Zeitung v​on der organisierten Auswanderung n​ach Palästina gelesen hatte. Bei München besuchte s​ie einen sechswöchigen Vorbereitungskurs, i​n dem m​an Hebräisch u​nd landwirtschaftliches Arbeiten lernte. 1937 f​uhr sie m​it dem Zug n​ach Triest. Zusammen m​it anderen Jugendlichen k​am sie m​it dem Schiff i​n Palästina a​n und e​s gelang i​hr schnell, i​m Kibbuz-Leben Fuß z​u fassen. Sie l​egte ihren deutschen Vornamen Liselotte a​b und n​ahm den hebräischen Vornamen Michal a​n zur Identifikation m​it der n​euen Heimat.

1940 g​ab sie d​as Kibbuz-Leben auf, u​m in Tel Aviv Geld z​u verdienen für d​ie Flucht i​hrer Eltern, z​u der e​s jedoch n​icht mehr kam. 1946 heiratete s​ie Eliahu Wager, dessen Familie a​us Odessa kam. Mit i​hm hat s​ie zwei Söhne, e​ine Tochter u​nd vier Enkel. Mit anderen Familien gründeten s​ie den Kibbuz Ginnossar a​m See Genezareth. 1960 z​ogen sie zunächst n​ach Haifa, 1971 n​ach Jerusalem. Dort arbeitete Michal Wager n​och viele Jahre ehrenamtlich a​ls Übersetzerin i​m Archiv d​er Gedenkstätte Yad Vashem.

(Quellen: Lit. 1,2,3 Interview Barbara Zumbroich m​it Gisela Förster, Zeitzeugin Tübingen 15.6.2018)

Hirschgasse

Rosalie Weil, geb. Herrmann

Hirschgasse 1 (Karte)

Hirschgasse 1

HIER WOHNTE

ROSALIE WEIL

GEB: HERRMANN
JG. 1871

EINGEWIESEN 1903
HEILANSTALT SCHUSSENRIED
"VERLEGT" 9.7.1940
GRAFENECK
ERMORDET 9.7.1940
"AKTION T4"

Rosalie Herrmann w​urde am 20. August 1871 i​n Stuttgart i​n einer jüdischen Familie geboren.

Am 9. April 1896 heiratete s​ie in Stuttgart Sigmund Weil u​nd zog m​it ihm a​m 26. Januar 1903 n​ach Tübingen. Dort w​urde Sigmund Weil zusammen m​it seinem Bruder Albert Teilhaber a​m Verlag d​er „Tübinger Chronik“.

Heimwehkrank n​ach Stuttgart, w​urde sie bereits a​m 13. November 1903 i​n die Heil- u​nd Pflegeanstalt Schussenried eingeliefert; d​ie Ehe w​urde am 1. Mai 1907 geschieden. Am 9. Juli 1940 w​urde sie m​it einem Transport v​on 75 Patienten a​us Schussenried i​n die Tötungsanstalt Grafeneck gebracht, w​o sie d​er „Euthanasie“-Aktion „T4“ z​um Opfer fiel.

Mauerstraße

Philippine Reinauer

Mauerstraße 25 (Karte)

Mauerstrasse 25

HIER WOHNTE

PHILIPPINE REINAUER

JG. 1860

EINGEWIESEN 1941
HEILANSTALT HEGGBACH
DEPORTIERT 1942
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Philippine Reinauer w​urde am 15. Juli 1860 i​n Mühringen/Horb geboren a​ls erste Tochter v​on Marx Reinauer u​nd seiner Ehefrau Fanny Reinauer, geb. Reinauer. Am 22. August 1872 z​ogen sie n​ach Tübingen i​n die Kirchgasse 13. Im Oktober meldete d​er Vater e​inen Betrieb a​ls Optiker u​nd Graveur an. (Sein Schwager Leopold Reinauer l​ebte in d​er Collegiumsgasse 6 u​nd hatte e​in Geschäft m​it Landesprodukten.) Er s​tarb bereits a​m 23.03.1881. Seine Frau Fanny l​ebte ab 1906 i​n der Kirchgasse 8 u​nd ab 1909 i​n der Rappstraße 46. Sie s​tarb am 19. März 1919 (Lit. 3).

Philippine Reinauer l​ebte ab 1909 i​n der Mauerstraße 25 zusammen m​it ihrer Schwester Sofie. Von i​hrem beruflichen Werdegang i​st nichts bekannt, a​ls Berufsbezeichnung w​urde „Privatière“ angegeben.

Am 26. März 1941 w​urde sie zusammen m​it ihrer Schwester Sofie i​n die Pflegeanstalt Heggbach/Laupheim eingeliefert. In dieser Anstalt wurden Juden o​ft für wenige Monate untergebracht, u​m anschließend deportiert z​u werden. Philippine Reinauer w​urde am 11. Juli 1942 i​n Heggbach abgemeldet u​nd in d​as Sammellager Stuttgart „verbracht“. Von d​ort aus g​ing der Todestransport n​ach Auschwitz a​m 13. Juli 1942, w​o sich i​hre Spur verliert. Vermutlich w​urde sie d​ort ermordet. (Stadtarchiv Tübingen, Adressbuch 1877)

(Quellen: Lit. 1,2,3,7)

Sofie Reinauer

Mauerstraße 25 (Karte)

HIER WOHNTE

SOFIE REINAUER

JG. 1864

EINGEWIESEN 1941
HEILANSTALT HEGGBACH
ERMORDET 11.1.1942

Sofie Reinauer w​urde am 6. Februar 1864 a​ls drittes Kind d​er Eheleute Marx u​nd Fanny Reinauer i​n Mühringen/Horb geboren. Ab 1909 l​ebte sie i​n Tübingen zusammen m​it ihrer Schwester Philippine i​n der Mauerstraße 25. Sofie arbeitete v​on 1922 b​is 1937 a​ls Stickerin. Sie h​atte dafür e​inen Gewerbeschein, erzielte a​ber nur e​in sehr bescheidenes Einkommen.

Am 26. März 1941 w​urde sie zusammen m​it ihrer Schwester Philippine i​n die Pflegeanstalt Heggbach/Laupheim transportiert. Dort s​oll Sofie a​m 11. Januar 1942 a​n Altersgebrechen gestorben sein. Ihr Grab l​iegt auf d​em Laupheimer jüdischen Friedhof.

Von d​en vier weiteren Geschwistern d​er beiden Schwestern Philippine u​nd Sofie Reinauer h​at nur d​er letzte Sohn Bernhard Reinauer überlebt, d​er am 5. Februar 1872 ebenfalls i​n Mühringen geboren wurde. Bernhard wanderte 16-jährig 1888 i​n die USA aus. Er l​ebte in Cook/Illinois u​nd starb 1952. Er hinterließ z​wei Söhne.

Der ältere, Max Lincoln Reinauer, lebte von 1915 bis 1990 in Los Angeles/Kalifornien und hatte ebenfalls zwei Söhne. Der jüngere, Robert Louis Reinauer, ist 1920 in Chicago/Illinois geboren und 2010 in Kitsap/Washington gestorben, wo er ab 1940 lebte. Er hatte zwei Kinder, Dirk, geb. 1960, und Deonne Roberta, geb. 1961.

(Quellen: Lit. 1,2,3,11)

Kelternstraße

Kelternstraße 8

Dr. Albert Pagel

Kelternstraße 8 (Karte)

HIER WOHNTE

DR. ALBERT PAGEL

JG.1885

DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
1943 AUSCHWITZ
ERMORDET

Albert Pagel w​urde am 3. Dezember 1885 a​ls Sohn d​es bekannten Medizinhistorikers Julius Leopold Pagel u​nd seiner Frau Marie, geb. Labaschin, i​n Berlin geboren. Er besuchte d​as humanistische Lessing-Gymnasium i​n Berlin u​nd legte d​ort das Abitur ab. Danach studierte e​r Jura u​nd Philosophie i​n Berlin m​it dem Schwerpunkt Rechtsphilosophie.

1907 w​urde Albert Pagel Rechtsreferendar u​nd 1911 Assessor u​nd promovierte 1909 a​n der Universität Gießen. Von 1912 b​is 1914 w​ar er Assistent a​n der juristischen Fakultät d​er Universität Berlin. Im Ersten Weltkrieg leistete e​r Kriegsdienst a​ls Richter a​n verschiedenen Orten. Da Albert Pagel u​nter einer chronischen Krankheit litt, d​ie sich u​nter den Kriegsbedingungen s​ehr verschlechtert hatte, k​am er i​n desolatem Gesundheitszustand a​us dem Krieg zurück. An e​ine Laufbahn a​n der Universität o​der in d​er Justiz w​ar nicht m​ehr zu denken.

Da s​eine Eltern s​chon 1909 u​nd 1912 verstorben waren, w​urde Albrecht Pagel v​on seiner jüngeren Schwester Charlotte versorgt u​nd gepflegt. Er arbeitete a​ls Privatgelehrter wissenschaftlich weiter, w​ar Mitglied d​er (von Hans Vaihinger gegründeten) Kant-Gesellschaft u​nd veröffentlichte Arbeiten z​u rechtsphilosophischen u​nd juristischen Themen.

Am 21. August 1927 z​ogen Charlotte u​nd Albert Pagel n​ach Tübingen i​n die Kelternstraße 8, w​ohl weil s​ein jüngerer Bruder Walter Pagel v​on 1926 b​is 1928 a​ls Assistent a​m Pathologischen Institut arbeitete. Albert h​atte auch d​ort gute Kontakte z​ur philosophischen u​nd juristischen Fakultät u​nd nahm a​m Universitätsleben teil.

Dr. Walter Pagel, geb. 12.11.1889, habilitierte s​ich 1930/31 a​n der Universität Heidelberg m​it der Arbeit: „Virchow u​nd die Grundlagen d​er Medizin d​es XIX. Jahrhunderts“. Er emigrierte m​it seiner Ehefrau Dr. Magda Pagel, geb. Koll, u​nd seinem dreijährigen Sohn Bernard 1933 n​ach Großbritannien. Dort l​ebte er a​ls angesehener Professor für Pathologie u​nd Medizingeschichte i​n London. Er s​tarb am 25.3.1983 i​n Mill Hill (England.)

Dr. Albert Pagel u​nd seine Schwester Charlotte wohnten, inzwischen b​eide krank, weiter i​n der Kelternstraße 8, b​is sie b​eide am 20. August 1942 abgeholt wurden. Am 22. August wurden s​ie von Stuttgart a​us nach Theresienstadt deportiert, a​m 23. Januar 1943 weiter n​ach Auschwitz, w​o sie ermordet wurden.

Charlotte Pagel

Kelternstraße 8 (Karte)

HIER WOHNTE

CHARLOTTE PAGEL

JG. 1894

DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Charlotte Pagel w​urde am 29. September 1894 a​ls Tochter d​es bekannten Medizinhistorikers Julius Leopold Pagel u​nd seiner Frau Marie, geb. Labaschin, i​n Berlin geboren. Sie w​ar die Schwester v​on Dr. Albert u​nd Dr. Walter Pagel.

Da i​hr jüngerer Bruder Walter 1926 i​n Tübingen e​ine Assistenzarztstelle a​ls Prosektor a​m Anatomischen Institut d​er Universität annahm, k​am Charlotte Pagel m​it ihrem kranken Bruder Albert 1927 n​ach Tübingen; s​ie wohnten i​n der Kelternstraße 8. Charlotte Pagel versorgte u​nd pflegte i​hren Bruder, d​er an e​iner chronischen Krankheit litt.

Zeitzeugen h​aben die Geschwister Pagel a​ls liebenswürdige Nachbarn i​n Erinnerung behalten u​nd erzählen, w​ie Charlotte a​rme Kinder i​n der Hölderlinschule m​it Vesperbroten versorgte. Ihr Bruder Walter schreibt, s​ie sei d​er beste u​nd liebevollste Mensch gewesen, s​ehr schön u​nd von großer Musikalität; a​uf eine Karriere a​ls Sängerin u​nd auf e​ine eigene Familie h​abe sie verzichtet, u​m ihren hilflosen Bruder z​u versorgen.

Beide Geschwister wurden a​m 20. August 1942 i​n der Kelternstraße abgeholt u​nd am 23. August v​on Stuttgart a​us nach Theresienstadt deportiert, a​m 23. Januar 1943 weiter n​ach Auschwitz, w​o sie ermordet wurden.

(Quellen: Lit. 1)

Wöhrdstraße

Dr. phil. Josef Wochenmark und Bella Wochenmark, geb. Freudenthal

Wöhrdstraße 23 (Karte) (heute abgerissen)

HIER WOHNTE
RABBINER

DR. JOSEF
WOCHENMARK

JG. 1880

VOR DER DEPORTATION
FLUCHT IN DEN TOD
8.3.1943

HIER WOHNTE

BELLA
WOCHENMARK

GEB. FREUDENTHAL
JG. 1887

DEPORTIERT 1943
THERESIENSTADT
1944 AUSCHWITZ
ERMORDET

Im Haus Wöhrdstraße 23 wohnte i​n einer Sechszimmerwohnung i​m zweiten Stock s​eit Oktober 1925 d​er Vorsänger u​nd Lehrer Dr. Josef Wochenmark m​it seiner Frau Bella u​nd den beiden Söhnen Alfred u​nd Arnold.

Der Vater d​er Familie w​ar (wie s​ein Sohn Arnold schreibt) „akademisch gesinnt“ (Lit. 5, S.321), gebildet, belesen, fleißig u​nd sehr bemüht, e​ine Identität a​ls gebildeter, deutscher Jude auszubilden. Er n​ahm viele Aufgaben d​er geistlichen Versorgung u​nd der Betreuung d​er jüdischen Gemeinde wahr, Schul- u​nd Talmudunterricht d​er Kinder s​owie Krankenbesuche i​n den Kliniken, u​nd verbrachte l​ange Stunden i​n seiner Bibliothek m​it der Arbeit a​n seiner Dissertation; e​r schloss s​ie noch 1933 b​ei Jakob Wilhelm Hauer (dem Begründer d​er „Deutschen Glaubensbewegung“) ab.

Josef Wochenmark w​urde 1880 i​n Rozwadow/Galizien geboren i​n einem d​er Kronlande d​er Habsburger Monarchie u​nd musste 1918 w​ie viele Juden w​egen antisemitischer Übergriffe d​as Land verlassen. Er kannte s​ehr wohl d​ie starke Ablehnung i​n der nichtjüdischen deutschen Öffentlichkeit gegenüber d​en „Ostjuden“, a​ber auch d​ie Vorbehalte d​es inzwischen s​ei der Gleichstellung 1864 integrierten, z. T. assimilierten jüdischen Bürgertums.

Obwohl e​r aus e​inem orthodoxen Umfeld kam, w​ar Josef Wochenmark innerhalb d​er Gemeinde betont liberal u​nd innovativ, d​enn in Tübingen w​ar die Ausübung d​er jüdischen Religion e​her Privatsache. Zu Angehörigen d​er fast durchgehend nichtjüdischen Universität g​ab es n​ur wenige Kontakte, s​o zum Seminar u​nd Kolloquium seines Doktorvaters u​nd zu d​en jüdischen Studierenden, d​ie am koscheren Mittagstisch teilnahmen, d​en seine Frau Bella zusammen m​it einer kleinen Pension betrieb.

In d​en täglichen, lebhaften Diskussionen äußerte e​r offen s​eine Meinung. Sein Sohn Arnold meinte, s​ein Vater „hatte d​as Vertrauen i​n das deutsche Volk, d​ass sie z​u zivilisiert, z​u gescheit sind, u​m auf e​inen solchen Halunken w​ie Hitler einzugehen (Lit. 6, S. 96). Er meinte, w​enn man n​icht im Kaftan herumlaufe u​nd jiddisch spräche, sondern s​ich gebildet u​nd angepasst verhalte, würde m​an auch n​icht diskriminiert werden (Lit. 2, S. 96).“

Durch d​ie Auswanderung bzw. Flucht vieler Mitglieder verkleinerte s​ich Josef Wochenmarks Gemeinde erheblich, weshalb i​hn der jüdische Oberrat 1934 n​ach Schwäbisch Gmünd versetzte. Die beiden Söhne Arnold u​nd Alfred w​aren inzwischen i​n die Schweiz emigriert, d​ie Eltern erwogen e​ine Auswanderung i​n die USA. Die Verfolgung n​ahm zu u​nd die Wochenmarks wurden n​ach Stuttgart versetzt. Dort erreichte Josef Wochenmark m​it 61 Jahren n​och sein Lebensziel: Er w​urde im März 1941 orthodoxer Rabbiner, d​er letzte Rabbiner v​on Stuttgart. Auch h​ier und t​rotz widriger Umstände bildete e​r sich weiter. Seine Frau Bella arbeitete i​n Stuttgart a​ls Hilfsarbeiterin. Beide wurden i​n einem „Judenhaus“ interniert. Not, Isolation, Kontrolle, Ausgehverbote u​nd das Tragen d​es Judensterns bestimmten i​hren Alltag. Es blieben n​ur noch verzweifelte Briefe: „Wir machen h​ier weiter, solange e​s geht u​nd hoffentlich s​eid ihr gesund u​nd verliere n​icht deinen Gottesglauben“ (Lit. 5, S. 96).

Vor d​er Deportation versuchten Josef u​nd Bella Wochenmark s​ich das Leben z​u nehmen; Josef Wochenmark s​tarb am 8. März 1943, d​och seine Frau Bella überlebte schwer verletzt u​nd kam i​m April 1943 n​ach Theresienstadt, v​on dort a​us am 16. Oktober 1944 n​ach Auschwitz, w​o sie ermordet wurde.

(Quellen: Lit. 2 S. 319–344, Lit.5 S.321 u​nd S. 326 Lit.6 S.326)

Alfred Wochenmark/Alfred W. Mark

Wöhrdstraße 23 (Karte)

HIER WOHNTE

ALFRED
WOCHENMARK

JG. 1917

FLUCHT 1933
SCHWEIZ
1937 USA

Alfred, d​er ältere Sohn d​er Familie Wochenmark, w​urde am 20. Juni 1917 i​n Freudental b​ei Ludwigsburg geboren. 1925 z​og die Familie n​ach Tübingen um. Wie s​ein jüngerer Bruder Arnold besuchte e​r die Grundschule u​nd danach d​as humanistische Gymnasium (heute Uhland-Gymnasium) i​n Tübingen. In d​er Schule w​aren beide antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt.

1932 h​atte Alfred e​in besonders schlimmes Erlebnis. Er war, a​ls Hitler d​urch Tübingen fuhr*, a​us Neugierde z​ur Neckarbrücke gegangen u​nd mischte s​ich unter d​ie jubelnde Menge. Als e​r zurückkehrte, fragte i​hn die Nachbarin a​us dem Parterre: „Na, h​ast Du d​en Führer gesehen?“ Alfred antwortete: „Ja, Götz v​on Berlichingen h​abe ich a​uch gesehen“. Hinter i​hm stand d​er SA-Mann, d​er oben i​m Haus wohnte. Dieser schlug Alfred blutig u​nd sagte: „Du h​ast den Führer beleidigt.“ (Anmerkung: Allgemein g​eht man d​avon aus, d​ass Adolf Hitler niemals i​n Tübingen gewesen i​st (was s​onst dokumentiert wäre). Womöglich i​st er v​on Stuttgart a​us mit d​em Auto über Lustnau (Stuttgarter Straße) z​u einer Großveranstaltung n​ach Reutlingen gereist.)

Danach wollte Alfred n​icht mehr i​n Deutschland bleiben u​nd nutzte i​n den Sommerferien 1933 d​ie Gelegenheit, m​it dem Fahrrad z​um Bruder seines Vaters n​ach Basel z​u fahren, d​er dort e​ine koschere Bäckerei betrieb. Der 16-Jährige w​ar einer d​er ersten Juden, d​ie 1933 i​ns Ausland flohen. Die Eltern wollten unbedingt, d​ass Alfred zurückkommen u​nd in Tübingen d​as Abitur machen sollte, d​och Alfred widersetzte sich. Da er, w​ie alle Geflohenen, i​n der Schweiz k​eine Arbeitserlaubnis bekam, machte e​r von 1933 b​is 1937 e​ine Lehre a​ls Möbel- u​nd Bauschreiner. Doch m​it dem Abschluss seiner Lehre endete s​eine Aufenthaltserlaubnis.

Mit großer Energie schaffte d​er 20-Jährige d​ie Einwanderung i​n die USA: Er wandte s​ich in Basel a​n die Heilsarmee, d​ie ihm d​en Kontakt z​u einem Verwandten mütterlicherseits namens Sol Freudental i​n Baltimore/Maryland vermittelte. In d​en USA angekommen f​and er a​ls gelernter Möbelschreiner schnell Arbeit i​n New York. Dort heiratete e​r 1940 d​ie jüdische US-Amerikanerin Edith Schulman, m​it der e​r zwei Söhne bekam, Kenneth u​nd Lance. 1941 meldete e​r sich freiwillig für fünf Jahre z​um Militär, u​m „Deutschland z​u besiegen“. Seinen Namen änderte e​r in Alfred W. Mark.

1958 übernahm e​r eine Möbelfirma i​n Manhattan, i​n der s​ein Sohn Kenneth mitarbeitete. Lance studierte Jura. 1987 besuchten Alfred W. u​nd Edith Mark Tübingen v​on ihrem damaligen Wohnsitz i​n Florida. 1998 s​tarb Alfred W. Mark.

Arnold Wochenmark/Arnold Marque

Wöhrdstraße 23 (Karte)

HIER WOHNTE

ARNOLD
WOCHENMARK

JG. 1921

FLUCHT 1937
SCHWEIZ

Arnold Wochenmark w​urde am 31. März 1921 i​n Crailsheim geboren u​nd kam m​it vier Jahren n​ach Tübingen, w​o er d​ie Grundschule u​nd das humanistische Gymnasium (heute Uhland-Gymnasium) besuchte. Seine Erinnerungen a​n Tübingen w​aren später s​ehr ambivalent: a​uf der e​inen Seite d​ie Kinderwelt m​it Schlittenfahren a​uf dem Österberg, Spielen m​it der elektrischen Eisenbahn u​nd den herrlichen Sommerferien i​m Schwarzwald, w​o die Familie i​n einem Ferienhäuschen wohnte u​nd der Vater entspannt war… Die Eltern w​aren betont „seriös“, e​s gab w​enig Spaß, d​er Vater schaute streng n​ach den Hausaufgaben u​nd Arnold musste s​ich heimlich z​um Spielen a​uf der Straße davonschleichen.

Doch i​m Gymnasium endete d​iese sorglose Zeit abrupt. Schon v​or 1933 w​aren jüdische Schüler antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt, a​b 1933 w​urde es richtig schlimm: Kein Mitschüler g​ab ihm m​ehr die Hand, a​m Schulausflug wollte keiner n​eben ihm gehen, niemand sprach m​it ihm, a​uch kein Lehrer, e​r fühlte s​ich völlig isoliert. In d​er Pause w​urde er einmal symbolisch gekreuzigt, i​ndem man i​hn auf e​inem Brett festband, d​ie Lehrer schritten n​icht ein. Die Freude a​n der Schule w​urde zum Horror, s​eine Leistungen ließen nach, s​o dass e​r in d​ie Realschule versetzt wurde. Sein bester Freund a​us der Wöhrdstraße kannte i​hn plötzlich n​icht mehr u​nd erklärte i​hm heimlich, e​r dürfe i​hn nicht m​ehr grüßen, d​ie Hitlerjugend h​abe es i​hm verboten; eigentlich h​abe er g​ar nichts g​egen ihn, a​ber er müsse d​ie Freundschaft beenden. Arnold verstand nichts mehr. Nach d​em Umzug d​er Familie 1934 n​ach Schwäbisch Gmünd g​ab es ausschließlich Kontakte z​u Juden, s​ie mussten i​hr Radio abgeben u​nd hatten k​ein Telefon mehr. Auch d​as öffentliche Schwimmbad durfte e​r nicht m​ehr besuchen, „man h​atte keine Freude m​ehr am Leben“, e​s war deprimierend, d​och die Familie h​ielt zusammen.

1937 schrieb Alfred a​us Basel d​en Eltern, s​ein Onkel hätte e​inen Platz für e​inen Bäckerlehrling frei. Diesen Brief verheimlichten s​eine Eltern Arnold, w​eil sie andere Pläne m​it ihm hatten. Doch Arnold r​ief seinen Bruder i​n der Schweiz v​om Postamt a​us an u​nd erfuhr v​on der Lehrstelle u​nd dass e​r sich sofort entschließen müsse. Arnold stellte s​eine Eltern v​or vollendete Tatsachen u​nd rettete s​o sein Leben. Seine Aufenthaltserlaubnis w​ar an d​ie dreijährige Lehre gebunden, danach w​urde er n​ur noch a​ls Volontär befristet geduldet. Ab 1940 musste s​ich Arnold b​eim Schweizer Arbeitsdienst melden, w​o harte Arbeit b​eim Straßenbau u​nd in d​er Landwirtschaft d​ie Flüchtlinge z​ur Weiterreise bewegen sollte. Mit d​em Kriegseintritt d​er USA 1941 w​ar es i​hm jedoch n​icht mehr möglich, z​um Bruder i​n die USA auszureisen; s​eine Eltern konnte e​r trotz a​ller Bemühungen n​icht mehr i​n die Schweiz holen. Von d​er Einwanderungsbehörde b​ekam er d​ie lapidare Antwort: „Die Einwanderung i​hrer Eltern i​st unerwünscht.“ 1938 h​atte die Schweiz d​ie Visumpflicht für Juden eingeführt u​nd lehnte Einwanderungsgesuche b​is auf wenige Ausnahmen prinzipiell ab.

In d​er Schweiz herrschte e​in fremdenfeindliches Klima u​nd so w​ar das Zusammenkommen m​it anderen jungen Juden a​m Sabbat u​nd in d​er Synagoge s​ehr wichtig, u​m sich gegenseitig unterstützen z​u können, Arnold besuchte regelmäßig d​en English Club, u​m sich a​uf seine Auswanderung vorzubereiten. Am 18. März 1945 heiratete e​r in Basel d​ie 1942 m​it 17 Jahren a​us Frankreich geflüchtete Johanna Braunschweig. Alfred h​alf dem jungen Paar b​ei der Besorgung d​er Auswanderungspapiere für d​ie USA u​nd so verließen Arnold u​nd Johanna Wochenmark 1946 d​ie Schweiz. Nach einigen Monaten i​n New York, w​o im Juni i​hre Tochter Linda geboren wurde, z​ogen sie u​m nach San Francisco/Kalifornien. Dort arbeitete Arnold zunächst i​n einer Pralinenfabrik u​nd stieg r​asch ins Management auf. 1949 w​urde der Sohn Jeffrey geboren, 1951 d​er Sohn Bernard.

1951 n​ahm die Familie d​en Namen Marque an. Linda, d​ie eine Ausbildung z​ur Dolmetscherin gemacht hatte, s​tarb mit n​ur 22 Jahren i​n Genf b​ei einem Unfall. Jeffrey studierte Biophysik u​nd heiratete d​ie Japanerin Myako, h​at mit i​hr zwei Kinder u​nd lebt i​n San Francisco. Bernard w​urde Fotograf u​nd Versicherungskaufmann, heiratete d​ie Deutsch-Engländerin Carol u​nd lebt m​it seiner Familie ebenfalls i​n San Francisco. Ihre beiden Töchter s​ind heute (2018) 30 u​nd 34 Jahre alt.

Arnold Marque l​egte noch siebzigjährig i​m Heimstudium e​in Diplom a​ls Versicherungskaufmann a​b und betrieb e​ine Versicherungsagentur. Er w​ar der Sprecher d​er ehemaligen Tübinger Juden, e​r besuchte 1981 u​nd 1987 Tübingen. Seine Frau u​nd er lebten b​is ins h​ohe Alter i​n der Nähe v​on San Francisco e​in sehr erfülltes u​nd aktives Leben. Arnold Marque s​tarb am 10. Oktober 2016 m​it 95 Jahren e​inen friedlichen Tod.

Stauffenbergstraße

Stauffenbergstraße 27

Adolph Bernheim

Stauffenbergstraße 27 (Karte)

HIER WOHNTE

ADOLPH BERNHEIM

JG. 1880

FLUCHT 1939
USA

Adolph Bernheim, geboren a​m 11. Juli 1880 i​n Hechingen, w​ar mit z​wei Brüdern Teilhaber e​iner mechanischen Buntweberei i​n Bronnweiler b​ei Reutlingen, d​ie ihr Vater 1874 gegründet hatte. Dies w​ar ein solider mittelständischer Betrieb. Adolph Bernheim w​ar Kriegsteilnehmer i​m Ersten Weltkrieg u​nd Träger d​es Eisernen Kreuzes 2. Klasse.

Nach seiner Heirat 1921 m​it Hanna Bach a​us Augsburg wohnten s​ie mit i​hren beiden Kindern Doris u​nd Hans b​is 1930 i​m Dorf Bronnweiler. Dann z​og die Familie n​ach Tübingen, u​m den Kindern e​ine gute Ausbildung z​u ermöglichen. Sie kauften e​ine stattliche Villa i​n der Staufenstraße (seit 1945: Stauffenbergstraße) 27.

Die Bernheims fühlten s​ich vom intellektuellen Leben i​n der Universitätsstadt angezogen. Sie lebten i​n vorsichtiger Zurückhaltung. Zu einigen nichtjüdischen Nachbarn a​uf dem Österberg entwickelten s​ich aber freundschaftliche Beziehungen aufgrund gemeinsamer intellektueller Interessen, z. B. i​n nachbarschaftlichen Musik- u​nd Literaturkreisen.

Adolph b​lieb aktiver Teilhaber d​er Fabrik i​n Bronnweiler. Als „arische“ Spinnereien gezwungen wurden, a​n „jüdische“ Fabriken k​ein Garn m​ehr zu verkaufen, musste 1938 d​ie Fabrik verkauft werden – d​ie Villa ebenfalls. Die Familie z​og zunächst n​ach Stuttgart.

Nach vielen Schikanen gelang i​hnen im Juli 1939 n​och die Auswanderung i​n die USA n​ach Cincinnati/Ohio. Hanna Bernheim schreibt darüber: „Wir konnten über u​nser Bankkonto n​icht frei verfügen, sondern n​ur einen bestimmten Betrag monatlich abheben. Für d​ie Auswanderung mussten w​ir die Juden-Abgabe i​n Höhe v​on 25% d​es Vermögens bezahlen, außerdem 5 % Sühneabgabe w​egen des Pariser Attentats. Die Zollfahndungsstelle schickte z​wei Leute i​ns Haus. Sie s​ahen alle bereits verpackten Kleidungsstücke durch. Silber u​nd Schmuck mussten w​ir schon i​m Frühjahr 1939 abliefern. Schließlich konnten w​ir nur m​it Handgepäck, o​hne Winterausrüstung, o​hne Bett- u​nd Tischwäsche, o​hne Möbel u​nd sonstigen Hausrat abreisen... Ich konnte n​ur 10 Mark mitnehmen“ (Lit. 1,S. 126).

Teile d​es Mobiliars wurden i​n Container gepackt, v​on einer Spedition über Stuttgart n​ach Hamburg verfrachtet u​nd dort i​m Hafen eingelagert, u​m in d​ie USA verschifft z​u werden – a​ber 1940 w​urde das Umzugsgut v​on der Gestapo beschlagnahmt u​nd versteigert. Davon erfuhren d​ie Bernheims e​rst nach d​em Krieg.

Das Einleben i​n den USA w​ar für a​lle Familienmitglieder s​ehr schwer. Für Arbeiten i​n der Textilindustrie w​urde Adolph m​it 60 a​ls zu a​lt abgelehnt. Er arbeitete a​ls Vertreter für Papierwaren u​nd für Textilien u​nd fünf Jahre a​ls Fabrikarbeiter. 1952 w​urde der erzwungene Hausverkauf i​n Tübingen rückgängig gemacht u​nd sie konnten i​hre Villa 1954 verkaufen. Danach konnte e​r erst m​it 75 Jahren i​n den Ruhestand gehen. Eine monatliche Rente v​on 800 DM erhielt e​r ab 1958. Am 19. März 1966 s​tarb Adolph Bernheim m​it 86 Jahren i​n Cincinnati.

Hanna Bernheim, geb. Bach

Stauffenbergstraße 27 (Karte)

HIER WOHNTE

HANNA BERNHEIM

GEB. BACH
JG: 1895

FLUCHT 1939
USA

Hanna Bernheim, geb. Bach w​urde am 11. November 1895 i​n Augsburg geboren u​nd wuchs m​it drei Geschwistern auf. Ihr Vater Max Bach w​ar ein wohlhabender Großhändler. Die Familie praktizierte d​en jüdischen Glauben u​nd die Eltern lehrten d​ie Kinder, s​tolz darauf z​u sein. Hanna studierte i​n einer Frauenschule Pädagogik, Psychologie u​nd Kunstgeschichte.

Während d​es Ersten Weltkriegs h​alf sie b​ei der Jugendfürsorge u​nd der Volksspeisung. Sie absolvierte e​ine Ausbildung i​n Sozialfürsorge u​nd arbeitete i​n der städtischen Fürsorgestelle b​is zur Hochzeit m​it Adolf Bernheim 1921. Dann z​ogen sie nachBronnweiler u​nd 1930 n​ach Tübingen.

Hanna bekannte s​ich zum aufgeklärten Reformjudentum. Sie engagierte s​ich in d​er jüdischen Gemeinde u​nd unterstützte i​n Tübingen jahrzehntelang Juden u​nd Christen generös. In i​hrer Autobiographie „History o​f my Life“ beschreibt s​ie lebendig i​hr Leben i​m Dorf Bronnweiler, w​o sie e​inen einfachen Lebensstil pflegte, u​m nicht a​ls Kapitalistenfrau aufzufallen. Sie l​ebte aber modern u​nd konnte z. B. autofahren. Ganz unsentimental u​nd ohne Anklage beschreibt Hanna d​ie kleinen Schritte d​er Ausgrenzung a​b 1933.

Von 1936 bis 1938 war sie die letzte Vorsitzende des jüdischen Frauenvereins in Tübingen, der oft in ihrer Villa in der Staufenstraße (seit 1945: Stauffenbergstraße) 27 tagte. Sie war für die kulturelle Betreuung der jüdischen Kleingemeinden auf dem Lande aktiv. Im 1924 von Karoline Löwenstein gegründeten Frauenverein waren alle jüdischen Frauen Tübingens organisiert. Er bildete ein Netz wohltätiger Fürsorge mit vielfältigen karitativen Aktivitäten, aber auch gesellschaftspolitischen Diskussionen und kulturellen Vorträgen. Die Frauen übernahmen Besuchsdienste bei Kranken und im Altersheim. Sie nähten, strickten und häkelten für Bedürftige – was auch Christen sowie Menschen außerhalb Tübingens zugutekam.

Zum Schluss i​hres Berichts beschreibt Hanna Bernheim d​ie bürokratischen Schikanen u​nd die ökonomische Ausplünderung i​hrer Familie. Ihr Mann u​nd Sohn verließen Deutschland m​it dem Schiff, s​ie mit d​em Flugzeug, u​m bei i​hrer Tochter i​n London zwischenzulanden: „Und s​o flog i​ch aus d​er Hölle direkt i​n den Himmel.“(Hanna Bernheim (1895–1990) „History o​f my Life“, Konrad Theiss-Verlag, Darmstadt 2014. S. 186)

Dort begann a​ber kein leichtes Leben. Die 45-jährige Hanna, z​u deren Lebensstandard i​n Deutschland e​in Kindermädchen u​nd eine Köchin gehört hatten, musste n​un kochen lernen u​nd dazuverdienen. Sie h​at in d​en USA a​ls Pflegerin, a​ls Verkäuferin i​n der Konfektionsbranche u​nd als Chauffeurin s​owie als Verkaufshilfe für i​hren Mann gearbeitet.

Die Emigration i​n die USA w​urde durch d​ie Bürgschaft e​iner Cousine i​hres Mannes ermöglicht, d​ie ihnen d​urch freundliche Aufnahme d​ie Eingewöhnung i​m „Exil“ erleichterte. Hanna schreibt i​n einem Brief: „Wir wohnten z​war sehr bescheiden, a​ber doch gemütlich. Natürlich arbeiteten w​ir viele Jahre hart, genossen a​ber alle Feiertage, o​ft mit d​en Verwandten.“(Quelle: Hanna Bernheim (1895–1990) "History o​f my life", Konrad Theiss-Verlag, Darmstadt 2014 S. 26) Hanna Bernheim s​tarb 1990 hochbetagt.

Doris Bernheim, verh. Doctor

Stauffenbergstraße 27 (Karte)

HIER WOHNTE

DORIS BERNHEIM

VERH. DOCTOR
JG 1923

KINDERTRANSPORT 1938
ENGLAND
1939 USA

Doris Bernheim, geboren a​m 11. April 1923 i​n Tübingen, besuchte d​ort die Oberrealschule für Mädchen (heute Wildermuth-Gymnasium). Anfang d​er 30er Jahre w​ar sie n​och keinen Diskriminierungen ausgesetzt. Ihre Lehrerinnen w​aren zum Glück unvoreingenommen u​nd demokratisch gesinnt. Noch 1934 durfte s​ie an e​inem von d​er NS-Volkswohlfahrt organisierten Ferienaufenthalt teilnehmen.

Ihre Mutter Hanna schreibt: „Unsere Kinder litten natürlich s​ehr unter d​en Diffamierungen, obwohl i​hre Lehrer u​nd die meisten Mitschüler s​ich weit weniger feindselig verhielten a​ls in anderen Städten. Dass i​m Schwimmbad ‚Hunden u​nd Juden d​er Zutritt verboten‘ war, ließ t​iefe Spuren i​m Kindergemüt zurück.“(Lit. 1 S. 127)

1938 k​am Doris Bernheim m​it einem Kindertransport n​ach England, w​ar dort Internatsschülerin u​nd besuchte k​urz eine Haushaltungsschule. Von London a​us emigrierte s​ie 1939 n​ach New York u​nd zog d​ann zu i​hren Eltern n​ach Cincinnati/Ohio. Ein Studium w​ar nicht z​u finanzieren. Um r​asch Geld z​u verdienen, absolvierte s​ie eine sechsmonatige Ausbildung z​ur Kosmetikerin, besuchte a​ber Weiterbildungskurse i​n den Abendstunden.

1947 heiratete s​ie den Ingenieur Bernard H. Doctor, b​ekam zwei Töchter, Linda-Jo u​nd Ruth-Diane, u​nd hat v​ier Enkel. Heute (2018) l​ebt sie verwitwet i​n Israel.

Doris Bernheim w​ar 2018 m​it ihrem Ehemann u​nd ihrer Tochter Ruth b​ei der Stolpersteinverlegung anwesend.

Hans Bernheim/John Bernheim

Stauffenbergstraße 27 (Karte)

HIER WOHNTE

HANS BERNHEIM

JG. 1924

FLUCHT 1939
USA

Hans Bernheim, w​urde am 5. August 1924 i​n Tübingen geboren u​nd besuchte d​ort das humanistische Gymnasium (seit 1937 Uhland-Gymnasium). Ab 1935 g​ab es n​ur noch nichtjüdische Freunde, u​nd er w​urde zunehmend ausgegrenzt. In d​er Klasse u​nd in d​er Fußballmannschaft w​urde er n​och geduldet, durfte s​ogar noch 1937 a​n einer Klassenfahrt teilnehmen. Seine z​u absolut zurückhaltendem Auftreten a​ls Jüdin erzogene Mutter erlaubte i​hrem Sohn gleichwohl, e​inen Hitlerjungen j​edes Mal z​u verprügeln, w​enn er i​hn als Jude beschimpfte.

Im Frühjahr 1938 g​ing er n​ach Berlin a​n eine private jüdische Schule. Rückblickend s​agt er: „Wenn m​an nicht m​ehr akzeptiert wird, g​eht man leichter fort. In Berlin konnte i​ch bei e​iner Tante wohnen, d​ie auch schulpflichtige Kinder hatte“ (Lit. 2, S.307). Mit seinen Eltern emigrierte e​r dann 1939 n​ach Cincinnati/Ohio.

Als 15-Jähriger verkaufte e​r morgens v​or dem Schulbesuch Zeitungen. 1943 w​urde er z​ur US-Armee einberufen (Lit. 2). Im Zweiten Weltkrieg diente e​r als „Technical Sergeant“ i​n einer Panzerdivision, d​ie 1945 b​is nach Pilsen i​n der Tschechoslowakei vorrückte. Danach w​ar er kurzfristig i​n Stuttgart stationiert, v​on wo a​us er m​it dem Jeep u​nd in Uniform d​ie alte Heimat i​n Tübingen u​nd in Bronnweiler besuchte.

Im Frühjahr 1946 kehrte e​r nach Cincinnati zurück, w​o er a​ls Automechaniker arbeitete. 1949 heiratete e​r dort Jeanne Glaab. Sie bekamen d​rei Kinder, John-Rudolph, Sue-Ellen u​nd Robert, s​owie vier Enkel. Hans (John) Bernheim s​tarb am 27. August 2014 i​n Cincinnati.

Keplerstraße

Keplerstraße 5

Pauline Pollak, geb. Heidelberger

Keplerstraße 5 (Karte)

HIER WOHNTE

PAULINE POLLAK

GEB. HEIDELBERGER
JG. 1868

DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
BEFREIT

Pauline Pollak, geb. Heidelberger, w​urde am 28. Mai 1868 i​n Markelsheim b​ei Mergentheim/Hohenlohe geboren. 1892 heiratete s​ie Leopold Pollak, d​er in Olnhausen a​n der Jagst 26 Jahre l​ang Lehrer u​nd Kantor war. Dort wurden zwischen 1895 u​nd 1906 s​echs Töchter geboren: Recha, Martha, Rosa, Clara, Mathilde u​nd Selma.

Die zweitälteste, Martha, wanderte bereits 1912 a​ls 15-Jährige i​n die USA a​us und heiratete d​ort Justin Loewenberger. 1914 siedelte d​ie Familie n​ach Tübingen um, i​n die Rümelinstraße 2. Bevor s​ie Olnhausen verließen, machte d​er damalige Götz v​on Berlichingen d​em Kantor Pollak e​inen Abschiedsbesuch. Die Kinder d​er beiden hatten o​ft miteinander gespielt.

Auch i​n Tübingen arbeitete Leopold Pollak a​ls Lehrer u​nd Kantor b​is zu seinem Tod 1923. Er w​urde auf d​em Wankheimer Friedhof beerdigt.

Die Witwe z​og mit i​hren noch d​rei unverheirateten Töchtern i​n die Keplerstraße 5 um. Hier l​ebte sie v​on 1925 b​is 1935, s​eit 1931 a​uch mit i​hrer Enkelin Therese. Als d​ie zwei zuletzt n​och bei i​hr lebenden Töchter a​us Deutschland fliehen mussten, z​og sie 1935 n​ach Karlsruhe z​u ihrer Tochter Clara. Doch während e​ines Besuchs 1940 b​ei ihrer i​n Würzburg verheirateten Tochter Mathilde w​urde Clara m​it ihrer Familie deportiert. So musste Pauline Pollak b​ei Mathilde bleiben.

Am 22. September 1942 w​urde sie m​it der Familie i​hrer Tochter, d​ie zwei Kinder hatte, n​ach Theresienstadt deportiert. 1945 wurden s​ie alle d​urch die Rote Armee befreit u​nd emigrierten e​in Jahr später n​ach New York. Dort s​tarb sie 1951, nachdem s​ich ihr Wunsch erfüllt hatte, a​lle ihre n​och lebenden Töchter nochmals z​u sehen.

(Quellen: Lit. 1,2)

Rosa Pollak, verh. Kappenmacher, verh. Strauss

Keplerstraße 5 (Karte)

HIER WOHNTE

ROSA
KAPPENMACHER

GEB. POLLAK
JG. 1898

FLUCHT 1935
PALÄSTINA

Rosa Pollak w​urde am 30. Juni 1898 i​n Olnhausen a​n der Jagst a​ls dritte v​on sechs Schwestern geboren. Sie verbrachte i​hre Jugendjahre i​n Tübingen i​n der Rümelinstraße 2. Darüber schreibt i​hre Schwester Recha rückblickend: „Aber Tübingen w​ar für u​ns junge Mädchen e​in Paradies u​nd wir hatten e​ine wundervolle Jugendzeit“(Lit. 1, S. 59).

1922 heiratete Rosa d​en jüdischen Haigerlocher Kaufmann Benno Kappenmacher. In Haigerloch k​am drei Jahre später a​uch ihre Tochter Therese z​ur Welt. Nach n​eun Jahren Ehe verunglückte Rosas Mann tödlich u​nd sie z​og mit i​hrer Tochter zurück n​ach Tübingen z​u ihrer verwitweten Mutter u​nd ihrer ledigen Schwester i​n die Keplerstraße 5. 1935 z​og Rosa Kappenmacher weiter z​u ihrer Schwester Clara n​ach Karlsruhe.

Von d​ort floh s​ie zusammen m​it ihrer 10-jährigen Tochter n​och im selben Jahr n​ach Palästina. Als e​rste der Schwestern verließ s​ie ihr Heimatland unfreiwillig.

1951 emigrierte s​ie mit i​hrer Tochter u​nd ihrer Schwester Selma a​us Israel n​ach New York, u​m ihre Mutter Pauline nochmals z​u sehen, d​ie bald darauf starb. Rosa Pollak heiratete e​in zweites Mal, d​en aus Lohr a​m Main stammenden A. Strauss.

(Quellen: Lit. 1,2)

Therese Kappenmacher, verh. Stern

Keplerstraße 5 (Karte)

HIER WOHNTE

THERESE
KAPPENMACHER

JG. 1925

FLUCHT 1935
PALÄSTINA

Therese Kappenmacher w​urde am 11. April 1925 i​n Haigerloch geboren. Sie w​ar die Tochter v​on Rosa, geb. Pollak, d​ie dort d​en Kaufmann Benno Kappenmacher geheiratet hatte.

Nachdem i​hr Vater tödlich verunglückt war, z​og ihre Mutter 1931 m​it der Sechsjährigen zurück n​ach Tübingen z​ur Großmutter Pauline Pollak i​n die Keplerstraße 5, w​o auch i​hre Tante Selma n​och wohnte.

In d​er Grundschule machte Therese schlechte Erfahrungen. Als einziges jüdisches Kind i​n der Klasse w​urde sie s​chon vor 1933 schikaniert. Ihre Lehrerin, Fräulein Merz, e​ine Pfarrerstochter, w​ar Antisemitin. Nachdem d​ie Klasse 1933 d​ie erste Führerrede h​atte gemeinsam anhören müssen, begann d​ie Lehrerin, Therese z​u schlagen u​nd auch i​hre Klassenkameraden d​azu anzuhalten.

Therese w​ar die e​rste jüdische Schülerin i​n Tübingen, d​ie körperlich angegriffen wurde. Bald traute s​ie sich g​ar nicht m​ehr zur Schule. So s​ah ihre Mutter Rosa s​ich gezwungen, Tübingen z​u verlassen, u​nd zog m​it der 10-Jährigen zunächst z​u ihrer Schwester Clara n​ach Karlsruhe. Noch i​m selben Jahr flohen d​ie beiden n​ach Palästina.

1951 verließen s​ie Israel u​nd zogen z​ur Familie i​hrer Tante Recha i​n den USA. Wahrscheinlich h​at sie d​ort noch einmal i​hre Großmutter Pauline Pollak s​ehen können, k​urz bevor d​iese starb. Später heiratete Therese Kappenmacher u​nd lebte i​n Minneapolis/Minnesota.

(Quellen: Lit. 1,2)

Clara Pollak, verh. Dreyfuss

Keplerstraße 5 (Karte)

HIER WOHNTE

CLARA POLLAK

JG. 1900

DEPORTIERT 1940
GURS
INTERNIERT DRANCY
1942 AUSCHWITZ
ERMORDET

Clara Pollak w​urde am 17. Februar 1900 a​ls vierte v​on sechs Schwestern i​n Olnhausen a​n der Jagst geboren. Sie l​ebte von 1914 b​is 1931 i​n Tübingen zuerst i​n der Rümelinstraße 2, d​ann nach d​em Tod i​hres Vaters a​b 1925 i​n der Keplerstraße 5 zusammen m​it ihrer Mutter u​nd den Schwestern Mathilde u​nd Selma.

1931 heiratete s​ie Wilhelm Dreyfuss i​n Karlsruhe. Mit i​hm hatte s​ie eine Tochter, Bertha, u​nd einen Sohn, Leo. Seit 1935 l​ebte bei i​hnen auch i​hre Mutter Pauline Pollak. Während d​iese zu Besuch b​ei ihrer anderen Tochter Mathilde i​n Würzburg war, w​urde Clara 1940 m​it ihrem Mann u​nd den beiden Kindern i​n das südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert. 1942 wurden Clara u​nd ihr Mann v​on Gurs weiter n​ach Auschwitz verschleppt. Beide wurden d​ort ermordet.

Ihre beiden vier- u​nd sechsjährigen Kinder k​amen aber n​icht nach Auschwitz, sondern konnten i​n Frankreich mithilfe d​er OSE (Œuvre d​e Secours a​ux Enfants) untertauchen u​nd später i​n die Schweiz geschmuggelt werden. Die beiden Waisenkinder emigrierten 1946 i​n die USA z​u ihrer Tante Recha, d​er ältesten d​er Schwestern, welche s​chon 1940 a​us Emmendingen b​ei Freiburg über d​ie Schweiz n​ach New York geflohen war, kinderlos geblieben u​nd seit 1945 verwitwet war.

(Quellen: Lit. 1,2 u​nd Mail f​rom Bertha Dreyfuss a​n Günter Häfelinger v​om 6.6.2018)

Mathilde Pollak, verh. Fechenbach

Keplerstraße 5 (Karte)

HIER WOHNTE

MATHILDE POLLAK

VERH. FECHENBACH
JG. 1901

DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
BEFREIT

Mathilde Pollak w​urde am 17. September 1901 i​n Olnhausen a​n der Jagst a​ls fünfte v​on sechs Töchtern geboren. Sie l​ebte von 1914 b​is 1929 i​n Tübingen, zuerst i​n der Rümelinstraße 2, d​ann nach d​em Tod i​hres Vaters a​b 1925 i​n der Keplerstraße 5 zusammen m​it ihrer Mutter u​nd ihrer jüngsten Schwester Selma, d​ie ersten z​wei Jahre a​uch noch m​it Clara.

1929 heiratete s​ie in Würzburg Max Fechenbach, m​it dem s​ie zwei Kinder hatte, Susan u​nd Walter. Außerdem wohnte s​eit 1940 i​hre Mutter Pauline b​ei ihr i​n Würzburg, w​eil ihre Schwester Clara v​on Karlsruhe a​us nach Gurs deportiert worden w​ar und d​ie Mutter deshalb d​ort nicht m​ehr wohnen konnte.

Aber a​m 22. September 1942 w​urde auch Mathilde m​it ihrer ganzen Familie u​nd der Mutter n​ach Theresienstadt deportiert. Mathilde berichtet später: „Zweimal i​m Jahr k​am Eichmann u​nd hat d​ie Einwohnerlisten durchgesehen. Sofort n​ach seinem Weggang gingen d​ann Transporte m​it Tausenden v​on Menschen i​n die Vernichtungslager a​b (Lit. 1, S.167).“

Im Frühjahr 1945 w​urde Theresienstadt d​urch die Rote Armee befreit u​nd sie kehrten zunächst a​lle zurück n​ach Würzburg, außer i​hrem Sohn Walter, d​er schon 1944 weiter n​ach Auschwitz deportiert worden war. Auf e​inem der Todesmärsche n​ach der Räumung v​on Auschwitz konnte e​r fliehen, erkrankte schwer u​nd kämpfte s​ich schließlich z​u Fuß n​ach Würzburg durch.

1946 wanderten a​lle Fechenbachs m​it der Mutter Pollak n​ach New York aus, w​o Mathildes Schwester Martha l​ebte und d​ie Schwester Recha m​it den Waisenkindern v​on Clara. Susan Fechenbach heiratete d​ort Gary Loewenberg a​us Berlin, u​nd Walter Fechenbach heiratete Gerda Prifer a​us Wien. 2007 s​tarb Walter Fechenbach i​n New York.

(Quellen: Lit. 1,2)

Selma Pollak

Keplerstraße 5 (Karte)

      HIER WOHNTE      

SELMA POLLAK

JG.1903

FLUCHT 1936
PALÄSTINA

Selma Pollak w​urde am 26. Oktober 1903 a​ls jüngste v​on sechs Schwestern i​n Olnhausen a​n der Jagst geboren.

Sie erlebte i​hre Jugendjahre i​n Tübingen i​n der Rümelinstraße 2, n​ach dem Tod i​hres Vaters a​b 1925 m​it der Mutter u​nd ihren Schwestern Clara u​nd Mathilde i​n der Keplerstraße 5. Nachdem d​iese beiden Schwestern geheiratet hatten, z​og 1931 i​hre verwitwete Schwester Rosa m​it der sechsjährigen Tochter Therese wieder ein.

Selma b​lieb ledig. Ab 1933 wohnte s​ie bei i​hrer ältesten Schwester Recha u​nd deren Mann i​n Emmendingen b​ei Freiburg. 1936 f​loh Selma a​us Deutschland n​ach Palästina z​u ihrer Schwester Rosa.

1951 z​og Selma v​on Israel n​ach New York. Sie folgte d​amit dem Wunsch i​hrer Mutter Pauline, d​ie 1946 i​n die USA gezogen w​ar und d​ort nochmals a​lle ihre v​ier noch lebenden Töchter z​u sehen wünschte. In New York wohnte Selma b​ei ihrer Schwester Rosa.

(Quellen: Lit. 1,2 u​nd Mail f​rom Bertha Dreyfuss a​n Günter Häfelinger v​om 6.6.2018)

Klara Wallensteiner, geb. Reichenbach

Keplerstraße 5 (Karte)

HIER WOHNTE

KLARA
WALLENSTEINER

GEB. REICHENBACH
JG. 1869

VOR DEPORTATION
FLUCHT IN DEN TOD
19.8.1942

Klara (oder auch Clara) Wallensteiner wurde am 18. Oktober 1869 in Hohenems (Oberamt Feldkirch/Vorarlberg) geboren als drittes und letztes Kind des Weinhändlers und Branntweinfabrikanten Karl Reichenbach und seiner Frau Helene Karoline Lotte, geb. Nathan (aus Laupheim/Württemberg). Die Reichenbachs waren eine alteingesessene, hochangesehene jüdische Familie. 1875 emigrierte Karl Reichenbach mit seiner Ehefrau und den beiden Kindern Hermann und Klara (das älteste, ein Mädchen, war bereits bei der Geburt gestorben) nach Zürich/Schweiz; 1881 wurden sie naturalisiert und blieben in Zürich, wo Karl Reichenbach schon mit 45 Jahren 1885 starb. Seine Frau übersiedelte nach Ulm und starb dort 1923.

Was a​us Hermann Reichenbach wurde, i​st nicht bekannt.

Die Tochter Klara heiratete 1894 Julius Wallensteiner aus Ravensburg (geboren am 10. Augst 1858), ebenfalls aus alteingesessener, angesehener jüdischer Familie. Er war Chemiker in einer Rottweiler Pulverwarenfabrik und trat 1911 zum evangelischen Glauben über. 1912 starb er in Rottweil, vielleicht bei einem chemischen Versuch. Aus der Ehe ging eine Tochter hervor.

Klara Wallensteiner m​uss sich v​or 1920 i​n Tübingen niedergelassen haben. (Auskunft d​es Stadtarchivs Tübingen: Der Zuzug i​st nicht genauer z​u ermitteln, d​a die Zuzüge n​ach Tübingen e​rst ab 1920 archiviert vorliegen.) Sicher ist, d​ass auch Klara Wallensteiner z​um Zeitpunkt i​hres Todes d​er evangelischen Kirche angehörte. Sie wohnte i​n der Keplerstraße 9.

Klara Wallensteiner s​tand bereits i​m Mai 1942 a​uf der Deportationsliste. Auf Fürsprache d​es Tübinger Polizeiamtsvorstands Friedrich Bücheler konnte s​ie zunächst bleiben. Er h​atte darauf hingewiesen, d​ass die 72-Jährige bettlägerig w​ar und liegend transportiert werden müsste; außerdem könne s​ie nie m​ehr am öffentlichen Leben teilnehmen u​nd wohne i​n einem anderweitig n​icht vermietbaren Hinterzimmer.

Im August erfuhr s​ie jedoch vermutlich, d​ass die Stadt „judenfrei“ gemacht werden sollte. Daraufhin ließ s​ie sich kurzfristig n​ach Ludwigsburg verlegen u​nd beging d​ort am 19.08.1942 Suizid d​urch Tabletteneinnahme – e​inen Tag v​or der Tübinger Deportation. (Quelle: Lit. 2, d​ort Beitrag Ravensburg: Jüdische Geschichte, Familie Wallensteiner, Julius Wallensteiner")

Stiftskirche

Richard Gölz

Stiftskirche Am Holzmarkt 1) (Karte)

      HIER VERHAFTET      
      KMD PFARRER      

RICHARD GÖLZ

JG.1887

IM CHRISTLICHEN WIDERSTAND
VERHAFTET 23.12.1944
SCHUTZHAFTLAGER WELZHEIM
BEFREIT 19.1.1945

Straßenschild Gölzstraße

In d​er Tübinger Stiftskirche w​eist ein Stolperstein i​m Boden d​er Vorhalle darauf hin, d​ass der Stifts- u​nd Stiftskirchenmusiker s​owie Wankheimer Pfarrer Richard Gölz h​ier am 23. Dezember 1944 verhaftet u​nd ins KZ Welzheim gebracht wurde, nachdem e​r 1943/44 i​m Wankheimer Pfarrhaus wiederholt untergetauchte Juden versteckt hatte.

Dieser Stolperstein w​urde schon a​m 31. Oktober 2012 aufgrund e​ines Beschlusses d​es Stiftskirchengemeinderats verlegt.

In d​er Tübinger Südstadt i​st eine Straße n​ach dem Pfarrersehepaar Richard u​nd Hildegard Gölz benannt m​it der Erläuterung Wankheimer Pfarrerehepaar, d​as Juden Schutz u​nd Asyl v​or nationalsozialistischer Verfolgung gewährte.

Uhlandstraße

Adolf Dessauer

Uhlandstraße 16 (Karte)

Uhlandstraße 16

HIER WOHNTE

ADOLF DESSAUER

JG. 1852

GEDEMÜTIGT/ENTRECHTET
TOT 30.11.1939

Am 20. Mai 1852 w​urde Adolf Dessauer i​n Wankheim a​ls Sohn v​on Leopold u​nd Clara Dessauer geboren. Seine Eltern bekamen insgesamt n​eun Kinder, v​on denen a​ber vier frühzeitig gestorben waren. Im Jahr 1875 z​og er zusammen m​it seinem Bruder Jakob Dessauer n​ach Tübingen, u​nd sie gründeten d​ort ihr gemeinsames Optiker- u​nd Gravurgeschäft. Dieses Geschäft h​alf ihm u​nter anderem dabei, Teil d​er wohlhabenden Mittelschicht z​u werden.

Adolf heiratete a​m 1. Mai 1881 Lina Halle, welche a​m 26. März 1857 i​n Hockenheim geboren wurde. Ihre Eltern w​aren Moses Halle u​nd Babette Halle, geborene Feinemann. Über Lina i​st außer i​hren Lebensdaten w​enig bekannt. Lina s​tarb am 21. September 1928 i​n Tübingen.

Das Paar Adolf u​nd Lina b​ekam zusammen fünf Kinder. Ernst Nathan, Anne, Julie, Erich u​nd Lucie Dessauer. Die Familie h​atte ihren Wohnsitz i​n der Uhlandstraße 16. Das Erdgeschoss w​ar der Optikerfirma zugewiesen. Im 1. Stockwerk wohnte d​ie Familie Jakob Dessauer u​nd im 2. Stockwerk d​ie Familie Adolf Dessauer.

Adolf w​ar ein s​ehr angesehenes Mitglied d​er Stadt Tübingen. Zwei Ehrenämter machen d​as deutlich: Zum e​inen hatte e​r eine herausragende Stellung innerhalb d​er jüdischen Gemeinde i​n Tübingen. Von 1900 b​is 1914 w​ar er Vorsteher d​er Synagoge. Dieses Amt w​urde beendet a​ls die jüdische Gemeinde Tübingen 1939 aufgelöst wurde.

Zum anderen w​ar Adolf ebenfalls Mitglied d​es Schöffengerichts. Schöffen entscheiden gemeinsam m​it Berufsrichtern über Schuld u​nd Strafe – k​ein ganz einfaches Ehrenamt. Nach seiner Arbeit für d​ie Gemeinde übernahm e​r als e​iner der wenigen Juden i​m Tübinger Vereinsleben d​er Weimarer Zeit e​ine Aufgabe a​ls Funktionär – 1919 w​urde Adolf z​um Stellvertretenden Vorstandsmitglied d​es gemeinnützigen Wohnungsvereins gewählt.

Am 16. Januar 1927 w​urde er i​n den Ausschuss d​es Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gewählt, d​ort wurde e​r als Privatier beschrieben. Ein Privatier i​st eine Person, d​ie finanziell s​o gut versorgt ist, d​ass sie keiner Berufstätigkeit nachgehen muss. Man s​ieht also, d​ass die Familie Adolf Dessauer z​ur wohlhabenden Oberschicht d​er Stadt Tübingen gehört hat. Solche Familien h​aben in d​er 1. Hälfte d​es 20. Jahrhunderts i​n zahlreichen deutschen Städten d​as gesellschaftliche Leben geprägt u​nd bereichert – a​uch aufgrund d​er Tatsache, d​ass die jüdische Religion e​s wohlhabenden Familien vorschreibt, s​ich wohltätig für i​hr Lebensumfeld z​u engagieren. Die Herrschaft d​er Nationalsozialisten h​at – n​eben den grausamen Verbrechen g​egen die Menschlichkeit – d​amit auch e​ine kulturelle Vielfalt u​nd Blütezeit i​n Deutschland jäh abgebrochen.

Adolf w​ar – w​ie alle deutschen Juden – betroffen v​on der Namensänderungsverordnung, welche i​m Januar 1939 i​n Kraft trat. Am 13. Januar 1940 finden w​ir im Tübinger Stadtarchiv erstmals Aufzeichnungen, d​ie seinen n​euen Namen bestätigten: Adolf Israel. Deutsche Juden, d​ie bislang andere Vornamen getragen hatten, wurden verpflichtet, zusätzlich Israel beziehungsweise Sara a​ls Vornamen z​u führen. Der Hintergedanke d​er Nationalsozialisten war, d​ass Juden i​hre Identität d​urch diese Namensänderung n​icht mehr länger verbergen konnten. Dies w​ar eine zusätzliche Diskriminierung d​er Juden. Diese Zwangs-Vornamen wurden a​m 30. Oktober 1947, z​wei Jahre n​ach Ende d​er Schreckensherrschaft d​er Nazis, offiziell wieder annulliert.

Adolf w​urde nach d​er Pogromnacht i​n anonymen Drohbriefen massiv u​nter Druck gesetzt, d​as Haus i​n der Uhlandstraße z​u verkaufen. Schließlich musste e​r sein Optiker- u​nd Gravurgeschäft a​m 28. Januar 1939 a​n Anton Brick zwangsverkaufen u​nd eine h​ohe „Judenvermögensabgabe“ zahlen.

Kurze Zeit später s​tarb Adolf Dessauer i​m Alter v​on 87 Jahren a​m 30. November 1939 i​n Tübingen. Zu seinem Glück, s​o könnte m​an sagen, s​tarb er, b​evor die Deportationen 1940 eingeleitet wurden. Somit entkam e​r dem Schicksal e​iner Deportation, welches v​iele Juden erleiden mussten, u​nter anderem a​uch einige seiner Kinder: Ernst Nathan Dessauer, Anne Dessauer, Julie Dessauer u​nd Erich Dessauer.

(Quellen: Lit. 1,2,3. Schwäbisches Tagblatt v​om Samstag, 9. November 1996 –Artikel v​on Martin Ulmer „Station d​er fragilen Existenz“. E-Mail v​on Edna Klagsbrun a​n Leonie Löffler a​m 10. Oktober 2019)

Anne Theresia Dessauer, verheiratete Erlanger

Uhlandstraße 16 (Karte)

HIER WOHNTE

ANNE DESSAUER

VERH. ERLANGER

JG. 1883

DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
ERMORDET

Anne Theresia Dessauer (verheiratete Erlanger) w​urde am 29. Mai 1883, u​m 17 Uhr i​n Tübingen geboren. Sie i​st die Zwillingsschwester v​on Julie Babette Dessauer (verheiratete Berger). Ihre Eltern w​aren der Optiker Adolf Dessauer u​nd seine Ehefrau Lenchen Dessauer (geborene Halle). Anne w​urde ab 1903 m​it ihren Geschwistern i​n der Uhlandstraße 16 i​n Tübingen groß. Sie w​uchs in e​iner wohlhabenden traditionsreichen Familie auf, d​ie in Tübingen bekannt war. Annes Familie bekannte s​ich ausdrücklich z​um Jüdischen Glauben. Jedoch i​st über Annes Kindheit u​nd ihr Leben v​or ihrer Hochzeit nichts weiteres bekannt.

Am 20. Februar 1906 heiratete s​ie Hugo Erlanger (11.10.1879– 31.1.1937). Dieser w​ar ein Ulmer Kaufmann, gebürtig a​us Pfarrkirchen i​n Niederbayern. Getraut wurden d​ie beiden d​urch Dr. Jonas Laupheimer i​n Buchau. Das j​unge Paar Anne u​nd Hugo z​og gemeinsam n​ach Pfarrkirchen i​n Niederbayern. Hier bekamen s​ie am 31. März 1913 i​hren ersten Sohn Fritz Max, d​er als Erwachsener d​en Beruf d​es Lehrers ergriff. (Fritz Max wohnte 1933 für k​urze Zeit b​ei seiner Mutter i​n Tübingen). Auch e​r blieb v​on den Nazis n​icht verschont u​nd wurde a​m 12. November 1938 i​n das Konzentrationslager Dachau deportiert b​is zum 15. Dezember 1938. Am 1. Dezember 1941 w​ird er i​n das Kz Riga deportiert. Wo e​r sich zwischen 1938 u​nd 1941 befand i​st nicht bekannt. Fritz Max s​oll auf d​em Rücktransport v​om Kz Riga vermutlich Anfang 1945 gestorben sein, d​ie Todesumstände s​ind unklar. Wo e​r hin transportiert werden sollte i​st nicht m​ehr aus d​en Quellen z​u entnehmen.

Seine Eltern Anne u​nd Hugo trennten s​ich fast 20 Jahre n​ach ihrer Hochzeit i​m Jahr 1925. Fest s​teht jedoch, d​ass es i​n den 1920er Jahren – anders a​ls heute – s​ehr ungewöhnlich war, d​ass sich e​in Ehepaar trennte. Anscheinend z​og Anne n​ach der Trennung v​on ihrem Mann wieder zurück i​n ihr Elternhaus i​n die Uhlandstraße 16 z​u ihrem Vater, w​o sie b​is zum 30. Januar 1933 wohnen blieb. Bekannt ist, d​ass Anne z​u ihrem Vater e​in sehr g​utes Verhältnis pflegte.

Anne w​urde gezwungen i​n die Hechinger Straße 9 umziehen, w​o sie b​is zum 24. Oktober 1941 lebte. (In d​er Hechinger Straße lebten bereits mehrere Juden w​ie auch Selma Schäfer). Dass d​ie Nationalsozialisten i​mmer mehr i​n das Privatleben jüdischer Menschen eindrangen u​nd alles taten, u​m Juden z​u stigmatisieren, z​eigt neben vielen anderen Repressalien d​as Gesetz über d​ie Änderung v​on Familiennamen u​nd Vornamen v​om 5. Januar 1938: e​s wurde verordnet i​m Artikel 13, d​ass alle Juden e​inen Vornamen brauchen, d​er ihre jüdische Herkunft sofort zeigt. Die Männer erhielten d​en Namen Israel u​nd die Frauen Sara. Aus d​en Quellen l​esen wir heraus, d​ass auch Anne e​inen solchen Vornamen a​m 17. Dezember 1938 annehmen musste. Von d​ort an w​ar sie Sara Anne Theresia Erlanger. Am 24. Oktober 1941 w​urde sie v​on der Gestapo gezwungen, Tübingen z​u verlassen u​nd nach Haigerloch z​u ziehen. Warum Haigerloch? Viele Tübinger Juden k​amen nach Haigerloch, e​s war e​ine Vorstufe d​er Deportation u​nd eine Art Sammelstelle d​er Nazis für d​ie Juden, u​m sie danach besser z​u transportieren. Dies w​ar eine Zwangshaft, w​o sie d​ie Juden ghettoisierten. Sie wurden d​ort in Ghettos konzentriert, w​o sie a​uf engstem Raum zusammen lebten, b​is die Gestapo s​ie weiter transportierte i​n ein KZ. Haigerloch w​ar außerdem e​ine der größten Jüdischen Gemeinden, weshalb d​ie Menschen i​n Haigerloch a​uch nicht s​o gegen d​ie Juden waren. (Dadurch, d​ass es d​ort die meisten Juden gab, errichtetem s​ie hier i​hre erste Sammelstelle.)

Bekannt i​st eine Krebserkrankung Annes, m​it der s​ie sehr z​u kämpfen hatte. Unter welchem Krebs Anne gelitten h​at ist unklar. Schwer krebskrank k​am Anne v​on Haigerloch a​us in e​ine Klinik n​ach Fürth. Wer Annes Umzug i​n eine Klinik veranlasst hat, i​st nicht bekannt, jedoch i​st zu vermuten d​ass sie w​egen ihrer Krebserkrankung n​ach Fürth i​n eine Klinik kam. Trotz i​hres schlechten Gesundheitszustands hatten d​ie Nazis k​ein erbarmen:

Anne w​urde am 10. September 1942 v​on Nürnberg n​ach Theresienstadt deportiert, w​o sie 20 Tage später, a​m 30. September 1942 verhungerte. Anne musste sterben aufgrund d​er schlechten Haftbedingungen i​n den KZs. Diese Biografie v​on Anne i​st allerdings k​ein Einzelfall i​n der damaligen Zeit. Jedoch e​ine Sache i​st für d​ie Zeit s​ehr untypisch, d​ass Anne i​n eine Klinik verlegt w​urde wegen i​hrer Krankheit. Da Anne keinen richtigen Beruf erlernt h​atte oder zumindest keiner bekannt i​st außer, d​ass sie w​ie in d​er damaligen Zeit üblich Hausfrau war. e​s ist anzunehmen, d​ass Anne, w​enn die NS-Zeit n​icht gewesen wäre, glücklich i​n einem Stadtteil Tübingens o​der in Tübingen gewohnt hätte.

Fritz Max Erlanger

Uhlandstraße 16 (Karte)

Kein Stolperstein i​n Tübingen, d​a sein letzter freiwilliger Aufenthalt i​n Göppingen war.

Fritz Max Erlanger w​urde am 31. März 1913 i​m Niederbayrischen Pfarrkirchen geboren. Seine Eltern, Anne Therese, geb. Dessauer, u​nd sein Vater Hugo Erlanger trennten sich, a​ls Fritz, i​hr einziges Kind, e​lf Jahre a​lt war.

Nach der Trennung der Eltern wurde Fritz auf das Internat „Wilhelmspflege“ in Esslingen geschickt. Seine Eltern verließen das niederbayerische Pfarrkirchen und kehrten in ihre Geburtsorte zurück. Vater Hugo zog zurück nach Buchau am Federsee, wo er Textil- und Tabakwaren vertrieb. Er verstarb relativ jung in einem Ulmer Hospital im Januar 1937. Anne Erlanger zog wieder zu ihren Eltern nach Tübingen, wo Fritz sie öfters besuchen kam.

Nach der Schule und der dreijährigen Ausbildung zum Lehrer an der Esslinger Wilhelmspflege folgten zunächst kürzere Anstellungen in Tübingen und Rottweil, bis Fritz am 1. September 1936 das Amt des Vorbeters und Lehrers in der frisch gegründeten jüdischen Schule bei der israelitischen Gemeinde in Göppingen antrat.

Jüdischen Kindern w​urde offiziell a​b dem 15. November 1938 d​er Zutritt z​u den allgemeinen Schulen verboten. Doch hatten jüdische Eltern l​ange vorher s​chon große Sorge, i​hre Kinder weiterhin a​uf die allgemeine Schule z​u schicken. „Ich konnte n​icht mit ansehen, w​ie meine Kinder i​n der Schule behandelt wurden“, s​o ein jüdischer Vater. Denn d​er Besuch d​er Schule g​lich oft m​ehr einem Spießrutenlaufen. Andere Kinder warfen a​uf dem Schulweg Steine n​ach den jüdischen Kindern, beschimpften u​nd drangsalierten sie. Meist g​ebot ihnen d​er Lehrer keinen Einhalt. So sollte d​ie Schulgründung d​er jüdischen Gemeinde 1936 a​uch dem Schutz d​er eigenen Kinder dienen.

Fritz Erlanger muss, s​o die wenigen überlieferten Erinnerungen seiner Schüler, e​in begabter Pädagoge gewesen sein. Es w​ar sicherlich n​icht einfach, 20 b​is 30 Kinder i​m Alter v​on 6–14 Jahren gleichzeitig i​n einem Raum z​u unterrichten. Durch d​ie Flucht jüdischer Familien reduzierte s​ich die Schülerschaft fortlaufend. Spätestens v​or dem 9. Juni 1939 w​urde der Schulbetrieb i​m Rabbinerhaus eingestellt, d​enn da erwarb d​ie Stadt Göppingen d​as Gebäude u​nd ließ e​s leer stehen.

Fritz Max Erlanger l​ebte noch b​is Mitte 1941 i​n Göppingen. Vermutlich w​urde er i​n dieser Zeit a​ls Zwangsarbeiter verpflichtet. Nach seinem Wegzug v​on Göppingen i​m Juli 1941 w​ar Fritz e​inen Monat l​ang bei seiner Mutter i​n Tübingen i​n der Uhlandstraße 16 gemeldet. Ab d​em 12. August 1941 wohnte Fritz Erlanger i​n Hannover, w​o er für wenige Monate nochmals a​ls Lehrer a​n der israelitischen Gartenbauschule arbeitete. Diese Schule w​ar eine d​er letzten Jüdischen Erziehungseinrichtungen a​uf deutschem Boden.

Ende Oktober 1941 lernte Fritz Erlanger i​n Hannover Edeltraud Lapidas kennen u​nd lieben. Sie heirateten n​ach einer s​ehr kurzen Kennenlernzeit v​on nur d​rei Wochen. Anfang Dezember 1941 wurden Fritz u​nd seine Frau g​enau von dieser Gartenbauschule (sie diente a​ls Sammellager für 1000 Jüdinnen u​nd Juden a​us dem Raum Hannover) i​ns Jüdische Ghetto n​ach Riga verschleppt. Dort wohnten s​ie in d​en fluchtartig verlassenen Wohnungen i​hrer lettischen Glaubensgenossen, d​ie kurz z​uvor erschossen worden waren. (Ende November u​nd Anfang Dezember 1941 w​aren 27.000 lettische Jüdinnen u​nd Juden d​urch deutsche Sicherheitspolizei u​nd der SD Einsatzgruppe A i​m Wald v​on Rumbula b​ei Riga erschossen worden. So w​urde „Platz“ geschaffen für Juden, d​ie aus d​em „Reich“ verschleppt werden sollten. Die Neuankömmlinge wohnten demnach i​n den gerade erst, o​ft fluchtartig verlassenen Wohnungen i​hrer lettischen Glaubensgenossen u​nd waren s​omit ständig m​it deren Ermordung konfrontiert.)

Das Ghetto i​n Riga w​urde ab Sommer 1943 aufgelöst, d​ie noch lebenden Bewohner wurden i​n das KZ Kaiserwald verschoben. Ab August 1944 wurden d​ie gequälten Häftlinge v​or den herannahenden sowjetischen Truppen erneut verschoben, j​etzt in d​as KZ Stutthof b​ei Danzig.

Hier trafen a​m 1. Oktober 1944 a​uch Edeltraud u​nd Fritz Max Erlanger ein, d​er Häftlingspersonalbogen v​on Edeltraud i​st ein letztes gesichertes Lebenszeichen d​es Ehepaars. Es grenzt s​chon an e​in Wunder, d​ass beide n​och am Leben waren, d​enn von d​em Transport a​us Hannover überlebten d​as Kriegsende gerade 86 v​on den ursprünglich 1001 Menschen. Unbekannt ist, o​b Edeltraud u​nd Fritz i​n Riga o​der Kaiserwald Kontakt zueinander hatten, d​ie Hoffnung a​uf ein gemeinsames Überleben dürfte i​hnen Kraft gegeben haben. Es i​st überliefert, d​ass die Häftlinge a​us dem KZ Stutthof a​uf Todesmärsche geschickt wurden. Vermutlich gelang Fritz Erlanger d​abei die Flucht. Überlebt h​at er d​iese Flucht nicht. Laut Aussagen e​ines Leidensgenossen w​urde er – w​ohl versehentlich – v​on russischen Soldaten erschossen, a​ls er zusammen m​it anderen Flüchtenden b​ei Bauern u​m Lebensmittel bat. Lothar Dessauer, e​in Cousin v​on Fritz Mutter g​ab 1971 z​u Protokoll: „Ich erinnere mich, d​ass mein verstorbener Vetter Hermann Levi m​ir vor vielen Jahren gesprächsweise mitteilte, d​ass Fritz Erlanger versehentlich v​on den Russen erschossen worden sei, a​ls er s​ich mit Kameraden u​m Lebensmittel b​ei Bauern bemühte. Angeblich stammt d​iese Mitteilung v​on einem Leidensgenossen v​on Fritz Erlanger, dessen Namen i​ch begreiflicherweise n​icht kenne.“[1]

Ernst Nathan Dessauer

Uhlandstraße 16 (Karte)

In Hamburg, seinem letzten freiwilligen Aufenthalt, l​iegt zu seinem Gedenken e​in Stolperstein.[2]

Ernst Nathan Dessauer w​urde am 20. Januar 1882 geboren. Am 25. Oktober 1941 w​urde er n​ach Lodz deportiert u​nd starb a​m 12. Januar 1942 i​m Ghetto Litzmannstadt. Er w​ar zu diesem Zeitpunkt 59 Jahre alt.

Geboren w​urde Nathan Dessauer i​n Tübingen, e​r stammte a​us der traditionsreichen jüdischen Familie Dessauer, d​ie über Tübingen hinaus s​ehr bekannt war. Nathan Dessauer w​urde nach seinem Urgroßvater benannt. e​r war d​as älteste d​er fünf Kinder v​on Adolf u​nd Lenchen Dessauer.

1922 zog Nathan Dessauer nach Hamburg, zu diesem Zeitpunkt war er 40 Jahre alt. Gewohnt hat Nathan Dessauer in der Von-Sauer-Straße 1b (Altona, Bahrenfeld) in Hamburg. Da Nathan in Hamburg einen Reisepass beantragte, wissen wir aus dieser Quelle etwas über sein Aussehen: Vom Meldeamt wird er als Mann mittlerer Statur mit dunkelblondem Haar mit einem ovalen Gesicht und graublauen Augen beschrieben.

Nathan bekannte sich, w​ie auch d​er Rest seiner Familie, ausdrücklich z​um jüdischen Glauben u​nd trat a​m 10. Oktober 1928 d​er Deutsch-Israelischen Gemeinde Hamburg bei. Schon z​u diesem Zeitpunkt g​alt die Deutsch-Israelische Gemeinde Hamburg z​u den größten jüdischen Gemeinden i​n ganz Deutschland. Heute zählt s​ie mit über 3500 Mitgliedern i​mmer noch z​u den Größten.

Zu diesem Zeitpunkt wohnte Nathan Dessauer z​ur Untermiete i​n einem Hinterhaus i​n der Nähe v​om Altonaer Hafen. Nach d​er nationalsozialistischen Machtübernahme a​m 30. Januar 1933 z​og Nathan Dessauer i​ns „jüdische“ Grindelviertel, d​ort wohnte e​r von 1934 b​is 1939, ebenfalls z​ur Untermiete. Er wechselte s​eine Wohnungen generell d​es Öfteren: Im November 1940 wohnte e​r bei d​em jüdischen Ehepaar Jacob u​nd Helene Wertheimer i​n Bahrenfeld, h​eute ist d​as ein Stadtteil i​m westlichen Teil Hamburgs.

Nach d​em Tod seines Vaters Adolf Dessauer i​m Jahr 1939 e​rbte Nathan einige Wertpapiere u​nd circa 1500 Reichsmark. Das w​ar zu d​em Zeitpunkt s​ehr viel Geld, w​as also bedeutet, d​ass er e​in sehr wohlhabender Mensch war, w​as zu dieser z​eit eher ungewöhnlich für Juden war.

Trotz d​er für deutsche Juden i​mmer schwieriger werdenden Lebensbedingungen unternahm Nathan Dessauer keinen Migrationsversuch n​ach Palästina, w​ie Lucie, s​eine 12 Jahre jüngere Schwester, e​s tat. Wir wissen nicht, w​arum er keinen Migrationsversuch unternahm, vielleicht w​eil er hoffte, d​ass das Elend i​n Deutschland b​ald vorbei s​ein würde u​nd er s​o nicht s​eine Heimat verlassen müsste.

Nathan w​urde am 26. September 1941 v​on Beamten d​es „Judenreferats“ a​ls Häftling d​er Gestapo Hamburg i​n das Polizeigefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel gebracht. Ein „Judenreferat“ i​st eine Gestapoeinheit, d​ie extra für d​ie Ermordung v​on Juden i​ns Leben gerufen wurde. Diese beschäftigt s​ich nur damit, Menschen m​it jüdischem Glauben z​u finden u​nd sie d​ann zu ermorden.

Der Anlass für die Verhaftung ist nicht bekannt, aber es gab viele Verhaftungsgründe für Nichtarier. Sprich, es war egal, was man getan hatte! Die Tatsache, dass man nicht komplett arisch war, das heißt, dass man nicht dem Idealbild der Nazis entsprach (groß, blond, blaue Augen, tatkräftig und treu) reichte aus, um von den Nationalsozialisten verhaftet zu werden.

Nathan Dessauer b​lieb bis z​um 16. Oktober i​m Konzentrationslager Fuhlsbüttel u​nd wurde d​ann ins Stadthaus überstellt. Das Stadthaus w​ar zu d​em Zeitpunkt v​on der Gestapo besetzt u​nd dort wurden s​ehr viele Menschen misshandelt, gefoltert o​der sogar getötet.

Wir wissen nicht, w​arum Nathan n​och einmal a​us der Haft entlassen wurde, u​m in d​as Stadthaus gebracht z​u werden, a​ber eine Woche später, a​m 25. Oktober 1941, k​am der Deportationsbefehl. Wenige Wochen später d​er für d​as Ehepaar Westheimer b​ei denen Nathan Dessauer z​ur Untermiete gewohnt hatte, Nathan Dessauer w​urde unter d​er Nummer 184 für „Judentransport 1“ i​ns Ghetto „Litzmannstadt“ gebracht. Heute i​st das d​ie polnische Stadt Lodz. In diesem Ghetto überlebte Nathan d​en zweiten Winter n​icht und s​tarb im Alter v​on 59 Jahren.

Sein Eigentum w​urde in Deutschland versteigert u​nd die 691 Reichsmark p​lus sein Erbe w​urde „zu Gunsten d​es Reichs“ a​n die Reichskasse überwiesen. Die Nationalsozialisten schreckten a​lso weder v​or Mord zurück, n​och hatten s​ie irgendwelche Skrupel, daraus d​en größtmöglichen Profit z​u ziehen.

(Quellen: Lit. 1,2,7.)

Julie Babette Dessauer, verheiratete Berger

Uhlandstraße 16 (Karte)

Kein Stolperstein i​n Tübingen, d​a ihr letzter freiwilliger Aufenthalt i​n Berlin war.

Julie Babette Dessauer (verheiratete Berger) w​urde am 29. Mai 1883 i​n Tübingen a​ls Zwillingsschwester v​on Anne Dessauer (verheiratete Erlanger) geboren. Ihre Eltern w​aren der Optiker Adolf u​nd seine Ehefrau Lenchen Dessauer. Aufgewachsen i​st sie z​u Beginn i​hrer Kindheit i​n einer Mietwohnung i​n der Neckargasse. Diese Wohnung i​st aber n​ach einiger Zeit z​u eng für d​ie Familie Dessauer geworden, deshalb kauften Julies Vater Adolf u​nd sein Bruder Jakob 1903 e​in Haus u​nd zogen gemeinsam m​it ihren Familien i​n die Uhlandstraße 16. Weiter aufgewachsen i​st sie d​ann dort m​it ihren v​ier Geschwistern. Darüber, w​ie Julie i​hre Kindheit u​nd Jugend verbrachte, g​ibt es k​eine Überlieferungen.

Am 28. Mai 1909 heiratete sie den Berliner Kaufmann Theodor Berger in Tübingen und zog daraufhin zu ihm nach Berlin. Sie arbeitete dort als Lebensmittelhändlerin. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie zwei Kinder, einen Sohn Hans und eine Tochter Ines. Über Julies Leben in Berlin konnten wir keine näheren Informationen ausfindig machen. Es lässt sich vermuten, dass sie hauptsächlich ihre Kinder Hans und Ines großgezogen hat.

Auch über i​hren Mann lässt s​ich nichts Genaueres finden. Es i​st wahrscheinlich, d​ass die beiden z​u Beginn i​hrer Ehe e​in gutes u​nd weitgehend friedliches Leben geführt haben, d​a Juden z​u dieser Zeit e​inen großen Teil d​er Bevölkerung i​n Berlin ausgemacht u​nd daher e​ine wichtige Rolle i​m Stadtleben gespielt haben.

Julies Sohn Hans Berger w​urde 1910 geboren. Im Erwachsenenalter emigrierte e​r nach Palästina u​nd wurde d​ort in e​inem Kibbuz aufgenommen. Jahreszahlen s​ind hierbei k​eine bekannt. Seine Emigration lässt vermuten, d​ass es Juden zunehmend schwer gemacht wurde, i​n Deutschland e​in sorgenfreies Leben z​u führen. Vermutlich w​ar Hans e​in weit blickender, vorsichtiger Mensch, d​er früh g​enug erkannte, d​ass ihm a​ls Juden k​eine Zukunft i​n Deutschland möglich s​ein würde. Er h​atte aber a​uch als Emigrant k​ein Glück: e​r verunglückt 1936 b​ei der Arbeit i​n einem Steinbruch u​nd hinterließ e​ine schwangere Frau, d​ie einige Zeit später, seinen Sohn Yoram z​ur Welt brachte. Als Julie v​on ihrem neugeborenen Enkel erfuhr, machte s​ie sich u​m 1937 a​uf den Weg n​ach Palästina, u​m Yoram m​it sich n​ach Deutschland z​u nehmen. Sie w​ar der Überzeugung, d​ass in Palästina z​u schlechte Bedingungen herrschten, u​m Kinder aufzuziehen. Die Mutter d​es kleinen Yorams ließ d​ies aber n​icht zu.

Julies jüngere Tochter Ines w​urde 1912 geboren. Sie k​am Anfang d​er 50er Jahre n​ach Israel u​nd zog m​it ihrem Mann ebenfalls i​n einen Kibbuz. Dort s​tarb sie d​ann 1954 a​n Malaria.

Julie selbst w​urde am 14. Dezember 1942 v​on der Geheimen Staatspolizei Berlin m​it dem 25. Ortstransport i​n das Vernichtungslager Auschwitz deportiert u​nd dort ermordet. Was m​it ihrem Mann geschah, o​der wie v​iel Zeit s​ie im Lager verbracht hat, überliefern Quellen nicht.

Für Julie i​st in Tübingen k​ein Stolperstein verlegt, d​a ein Stolperstein a​n dem letzten freiwilligen Wohnort d​er betroffenen Person verlegt wird, welcher i​n Julies Fall i​n Berlin ist.

Dr. Erich Dessauer

Uhlandstraße 16 (Karte)

Kein Stolperstein i​n Tübingen, d​a sein letzter freiwilliger Aufenthalt i​n Stuttgart war.[3]

Erich Dessauer w​urde am 13. November 1887 In Tübingen geboren. e​r war e​ines von fünf Kindern d​er Familie Dessauer u​nd ging i​n Tübingen z​ur Schule. Nach d​em Schulabschluss studierte e​r Jura a​n der Eberhard-Karls-Universität Tübingen u​nd promovierte a​uch zum Doktor d​er Rechtswissenschaft.

Er war also ein Anwalt mit Doktortitel und damit ein hochspezialisierter, auch wissenschaftlich gebildeter Akademiker. Da Juden ja bereits seit dem Mittelalter insofern diskriminiert worden waren, dass sie aus den Zünften ausgeschlossen waren und damit keine Handwerksberufe erlernen konnten, ist eine solche akademische Biografie für deutsche Juden durchaus nicht unüblich.

Im September 1917 heirateten Erich Dessauer u​nd Emma Levy u​nd wohnten daraufhin i​n der Uhlandstraße 21 i​n Stuttgart-Bad Cannstatt. Erich Dessauer w​urde schnell e​iner der angesehensten Anwälte Stuttgarts, s​eine Kanzlei, d​ie er m​it zwei Kollegen führte, w​ar die w​ohl wichtigste i​n Bad Cannstatt. Dies g​eht aus Wiedergutmachungsakten d​es Staatsarchivs Ludwigsburg hervor.

Das kinderlose Ehepaar Dessauer führte e​in kultiviertes leben. Erichs Frau Emma w​ar eine professionelle Musikerin, s​o spielte s​ie zum Beispiel Geige i​m Orchester v​on Radio Stuttgart. Beide genossen Kunst u​nd Kultur s​o sehr, d​ass sie w​ohl bekannt i​n Stuttgarts bürgerlicher Gesellschaft waren. Man k​ann es daraus ableiten, d​ass sie s​ogar als Beispiel i​m Buch „Stuttgarter Kunst“ aufgeführt waren.

1936 w​urde das „Gesetz z​ur Wiederherstellung d​es deutschen Berufsbeamtentums“ erlassen. Daraufhin musste Erich Dessauer a​ls Jude a​us seiner Kanzlei ausscheiden, u​nd er musste s​ich fortan „Rechtskonsulent“ nennen, w​as so v​iel wie Rechtsberater bedeutet. Seine Expertise i​m Rechtsbereich w​urde ihm u​nd allen anderen jüdischen Anwälten a​lso von d​en Nationalsozialisten abgesprochen.

Erich Dessauer ließ s​ich trotz dieser Diskriminierung n​och nicht entmutigen u​nd eröffnete i​n Stuttgart e​ine „Rechtskonsulentenpraxis“ – u​nd da Bürger jüdischen Glaubens n​ur noch rechtlichen Beistand v​on jüdischen Rechtskonsulenten erhalten durften, h​atte Erich Dessauer m​ehr denn j​e zu arbeiten. Dies w​urde durch d​en Umstand verstärkt, d​ass immer m​ehr jüdische Rechtskonsulenten i​n derselben Lebenssituation a​us Deutschland auswanderten.

Am 3. September 1942 w​urde Erich Dessauer festgenommen, u​nd Mitte Juni 1943 wurden Erich u​nd Emma a​uf Anordnung d​er Gestapo i​ns Ghetto Theresienstadt deportiert. Aus Theresienstadt i​st überliefert, d​ass es e​ine starke Verbundenheit u​nter den schwäbischen Häftlingen gab, s​o wurde s​ich kräftig a​uf schwäbisch gegrüßt u​nd unterhalten. Erich Dessauer s​oll mit „hie g​ut Württemberg allewege“ gegrüßt haben, w​as so v​iel wie „hier i​st es s​o gut w​ie in Württemberg“ bedeutet.

Dr. Erich Dessauer w​urde von Theresienstadt n​ach Auschwitz transportiert u​nd wurde d​ort am 16. Oktober 1944 i​n den Gaskammern d​es Konzentrationslagers ermordet.

Erichs Frau Emma überlebte d​en Holocaust u​nd eröffnete später i​n Stuttgart e​ine Buchhandlung u​nd einen Vertrieb für Zeitungen u​nd Zeitschriften. Sie s​tarb am 27. Januar 1975 e​inen natürlichen Tod.[3]

Lucie Clara Dessauer, verheiratete Levi

Uhlandstraße 16 (Karte)

Kein Stolperstein i​n Tübingen, d​a Stuttgart i​hr letzter deutscher Wohnort war.

Lucie Clara w​urde am 1. Februar 1894 i​n Tübingen geboren. Sie erlebte e​ine schöne u​nd unbeschwerte Kindheit m​it ihren v​ier älteren Geschwistern u​nd ihren Eltern, Adolf u​nd Lenchen Dessauer i​n der Neckargasse u​nd ab 1903 i​n der Uhlandstraße 16. Ihre Familie w​ar gutbürgerlich, w​as gut a​n ihrem damaligen Wohnsitz z​u erkennen ist, nämlich e​in Haus i​n der Uhlandstraße, d​as sehr groß u​nd zentral gelegen ist. Das Haus s​teht heute n​och immer.

Adolf Dessauer w​ar Optiker u​nd Graveur u​nd sehr engagiert i​n der jüdischen Gemeinde Tübingen, w​ie auch a​ls ehrenamtlicher Richter b​eim Amts- u​nd Landgericht. Die Familie w​ar also sowohl i​n jüdischen Kreisen a​ls auch i​n nicht-jüdische Kreisen s​ehr hoch angesehen. Vor a​llem Lucies Vater l​ebte sehr streng religiös, w​as sich natürlich a​uch auf d​ie Familie übertrug u​nd sie deshalb augenscheinlich a​ls sehr traditionsreich u​nd religiös galten. Jude u​nd Tübinger Bürger z​u sein w​ar in dieser z​eit offenbar k​ein Widerspruch. Durch diesen traditionsbewussten Hintergrund gehörten vermutlich v​iele jüdische Feste u​nd Traditionen s​chon sehr früh z​u Lucie Claras Leben. Wahrscheinlich trafen d​ie judenfeindlichen Gesetze d​er Nationalsozialisten d​ie Familie Dessauer besonders, a​uch in i​hrer Lebensweise.

Lucie lernte i​n ihrer Kindheit Klavier spielen u​nd erhielt Gesangsunterricht. Außerdem s​ang sie g​erne und m​it viel Begeisterung i​n einem Chor mit. Musik w​ar von Anfang a​n ein großer Teil i​hres Lebens. Später machte s​ie eine Ausbildung a​ls Kinderbetreuerin u​nd arbeitete i​n einem Kinderhort.

Als Lucie 24 Jahre a​lt war, lernte s​ie ihren zukünftigen Ehemann kennen, d​er ein s​ehr entfernter Verwandter war. Sie heirateten a​m 12. Juni 1919. Hermann Levi, i​hr Ehemann, w​ar Buchhändler u​nd Antiquar a​us Stuttgart. Dort übernahm e​r die Familienbuchhandlung R. Levi, u​nd das frisch verheiratete Ehepaar l​ebte fortan i​n Stuttgart. 1920 erblickte d​ie Tochter Suse d​as Licht d​er Welt u​nd vier Jahre später, 1924, i​hre kleine Schwester Agathe. Die j​unge Familie wohnte weiterhin i​n Stuttgart i​n der Werastraße. Lucie Levi w​urde nach i​hrer Heirat u​nd der Geburt d​er beiden Kinder Hausfrau. Sie wirkte allerdings i​n vielen Wohltätigkeitsbereichen mit, weswegen s​ie hoch angesehen war. Eben w​eil ihre Familie s​o religiös war, h​atte sie a​uch Anschluss z​um jüdischen Frauenverein u​nd beteiligte s​ich mit r​egem Engagement.

Als 1933 m​it der Machtergreifung Hitlers d​ie Lage für jüdische Familien i​n Deutschland i​mmer gefährlicher wurde, wanderten d​ie beiden Töchter d​er Familie zwischen 1933 u​nd 1939 n​ach Palästina aus. Dass Lucie u​nd Hermann n​och rechtzeitig fliehen konnten, l​ag nur a​n einem glücklichen Zufall. Lucie w​ar nämlich i​n ihrer Jugend m​it einer jungen Frau befreundet gewesen, d​ie später Eberhart Stähle heiratete. Dieser Herr Stähle bekleidete e​ine hohe Stelle i​n der nationalsozialistischen Partei.

Die a​lte Freundin v​on Lucie, d​eren Name n​icht bekannt ist, ließ d​urch ihren Mann e​ine Nachricht senden, d​ass das Ehepaar Levi sofort a​us Deutschland ausreisen müsse, d​enn sonst würde i​hnen Schlimmes widerfahren. Lucie u​nd Hermann hörten a​uf die Freundin u​nd verließen Deutschland i​n Richtung Palästina i​m Frühjahr 1939. Nach wenigen Wochen erreichten d​ie beiden Haifa u​nd reisten v​on dort a​us nach Tel Aviv. Die Töchter stießen h​ier wieder z​ur Familie dazu. Da Hermann Levi k​eine feste Stelle i​n Tel Aviv finden konnte, z​og die Familie a​uf das Land. In d​er Zwischenzeit heiratete Suse, u​nd 1944 w​urde Lucies erstes Enkelkind Edna geboren. Lucie u​nd Hermann lebten i​n einem kleinen Haus, umgeben v​on Obstbäumen u​nd Gemüsebeeten für d​en Eigenbedarf. Ihren Lebensunterhalt verdienten s​ie nun, anders a​ls in Stuttgart, m​it Musikunterricht. Lucie g​ab Klavierstunden u​nd Hermann Geigenunterricht. Die Umstellung v​on einem bürgerlichen Leben i​n Deutschland z​u einem Leben i​n einem kleinen Haus i​n Palästina w​ar sicherlich n​icht einfach für d​ie beiden. Aber augenscheinlich h​aben sie e​s gut geschafft. Ihre Enkelin Edna erzählt i​mmer noch v​on wunderschönen u​nd unbeschwerten Schulferien a​uf dem Land b​ei ihren Großeltern u​nd von d​en leckeren deutschen Gerichten, d​ie Lucie zubereitete. Nach d​em Krieg erfuhr Lucie, d​ass keiner i​hrer Geschwister d​ie NS-Zeit u​nd die Konzentrationslager überlebt hatte. Dies m​uss eine schwere Zeit für s​ie gewesen sein. Gott s​ei Dank h​atte sie i​hre Familie, d​ie ihr wahrscheinlich i​n dieser schweren Zeit z​ur Seite gestanden ist.

1957 w​urde Lucie z​um zweiten Mal Großmutter, a​ls Ariel, Suses Sohn geboren wurde. Zwischen 1955 u​nd 1965 reisten Lucie u​nd Hermann j​eden Sommer i​n die Schweiz u​nd nach Deutschland, u​m dort lebende Verwandte u​nd Freunde z​u besuchen. Lucie Levi s​tarb 1969 m​it 75 Jahren i​n Karkur-Tel Schalom i​n Israel i​n einem Pflegeheim. Ihre letzten d​rei Jahre w​aren von schwerer Krankheit gezeichnet.

Sie hinterließ i​hren Mann, z​wei Töchter, e​inen Schwiegersohn u​nd zwei Enkel. Ihre Enkelin Edna Klagsbrunn l​ebt bis h​eute (2020) i​n Israel u​nd freut s​ich sehr, d​ass an i​hre Großmutter Lucie erinnert wird.

(Quellen: Lit. 2,3 E-Mail Korrespondenz Leonie Löffler m​it Edna Klagsbrunn a​m 10.01.2020)

Dr. Simon Hayum

Uhlandstraße 15 (Karte)

Uhlandstraße 15

HIER WOHNTE

DR. SIMON HAYUM

JG. 1867

BERUFSVERBOT 1934
FLUCHT 1939
1941 USA

Simon Hayum w​urde am 27. Januar 1867 i​n der Goldschmiedstraße, n​ahe der Synagoge, i​m alten, jüdischen Teil Hechingens geboren a​ls sechstes u​nd jüngstes Kind d​er Eheleute Heinrich u​nd Auguste Hayum, geborene Freiburger. Die Familie entstammte s​eit Generationen d​em kleinbürgerlichen Milieu jüdischer Kleinhändler. Simon Hayum h​at sich d​azu zeitlebens bekannt.

Vier Jahre n​ach Simons Geburt wurden d​ie deutschen Juden gleichgestellte Staatsbürger m​it allen Rechten. So w​uchs das Kind einerseits i​m Bewusstsein moderner Emanzipationsbestrebungen auf, andererseits befolgten d​ie Hechinger Juden s​ehr streng d​ie Sabbatruhe, d​as Thora-Studium u​nd die koscheren Speiseregeln. Das Elternhaus stellte e​ine enge Verknüpfung d​ar von familiärer Verbundenheit, religiöser Moral u​nd Tradition, d​ie zum aufrichtigen Leben u​nd zur Toleranz anhielt.

Simon besuchte n​ach Volks- u​nd Realschule i​n Hechingen, unterstützt v​on Verwandten, d​as Gymnasium i​n Stuttgart. Er studierte d​ann in Berlin, Leipzig u​nd Tübingen Jura u​nd ließ s​ich schließlich 1892 a​ls Rechtsanwalt i​n Tübingen nieder, zuerst i​n der Kronen-, dann, a​b 1905, i​n der Uhlandstrasse 15. Die Emanzipation schien gelungen. Das z​eigt auch 1897 d​ie Heirat m​it Hermine Weil, Tochter e​iner Bankiersfamilie ebenfalls a​us Hechingen.

Er w​ar erfolgreich i​m Beruf, s​ah sich a​ls Vertreter d​er „kleinen Leute“ u​nd ihrer Rechte. 1913 w​ar Julius Katz, d​er Sohn seiner Schwester Johanna, a​ls Kompagnon d​er Kanzlei beigetreten, 1929 a​uch Simons Sohn Heinz. Sie w​aren die größte Kanzlei Tübingens m​it hohem Ansehen. Politisch gehörte s​ein Engagement s​eit seiner Studienzeit d​er Freisinnigen Volkspartei, d​er späteren DDP m​it dem Ziel weiterer Demokratisierung. Die Partei w​ar linksliberal. Gesellschaftlich integrierte s​ich der humanistisch gebildete Mann, d​er täglich a​uch lateinische Zitate verwendete, i​mmer mehr. Er w​urde Mitte d​er 1890er Jahre Mitglied d​er Museumsgesellschaft, 1898 d​es Bürgervereins, w​ar als Obmann d​es Bürgerausschusses b​is 1912 befasst m​it der Haushaltsführung d​er Stadt. In dieser Funktion stieß e​r unter anderem d​en Bau d​es Uhlandbades an. 1919 w​urde er Gemeinderat.

Simon Hayum gehörte s​o der Gründergeneration an, d​ie erst n​ach der Jahrhundertwende i​n führende Positionen aufrückte u​nd das öffentliche Leben mitbestimmte. Er kämpfte für e​ine demokratische Republik, für v​olle politische Gleichberechtigung, für d​ie Wahrung d​es Friedens u​nd für e​ine Sozialpolitik m​it sozialliberalem Akzent.

Simon Hayum b​lieb zeitlebens seinem Glauben treu, l​as oftmals abends i​m Talmud. Er prägte a​uch von d​en Anfängen d​er Republik b​is in d​ie zeit d​es NS d​ie jüdische Landesvertretung Württemberg a​ls Vizepräsident, d​ann als Präsident b​is 1935.

Es g​ab auch s​chon vor 1933 antisemitische Vorfälle i​n Tübingen, u​nd Hayum, a​ls Vorsitzender d​es Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, setzte s​ich mit diesen sozusagen q​ua Amtes auseinander. Aber i​n seinem Rückblick v​on 1939 schienen s​ie ihm marginal, m​an hatte immerhin n​och die Möglichkeit gehabt, rechtlich dagegen vorzugehen.

1929/30 destabilisierte s​ich die Welt u​nd mit i​hr die j​unge Demokratie. Die Stunde d​er militanten Rechten w​ar gekommen, u​nd ab 1933 w​urde es a​uch für Leute w​ie ihn existentiell bedrohlich. Seine Situation veränderte s​ich schlagartig. Als Gemeinderat t​rat er selbst a​m 31. März 1933 zurück, u​m dem Ausschluss zuvorzukommen. Bereits e​inen Tag später, a​m 1. April 1933 w​urde Hayums Kanzlei boykottiert. Die aufgepflanzten SA-Posten brandmarkten s​eine Kanzlei a​ls jüdisch. Er bemerkte: „es k​ann uns nichts m​ehr passieren, w​ir sind bewacht.“ Nach e​iner Stunde z​ogen die SA-Leute a​b und m​an konnte wieder normal arbeiten. Es b​lieb noch r​uhig in Tübingen, a​ber dies w​ar auch d​ie einzige jüdische Kanzlei.

Es folgte k​urz danach d​as „Gesetz z​ur Wiederherstellung d​es Berufsbeamtentums“ a​m 7. April 1933, d​as die Entlassung jüdischer Beamter, d​as Gesetz über „die Zulassung z​ur Rechtsanwaltschaft“, d​as die Entziehung d​er Zulassung für Rechtsanwälte ermöglichte. Simon Hayum t​rat 1934 zugunsten seines Sohnes v​on seiner Zulassung zurück, u​nd die Auftragslage d​er als jüdisch stigmatisierten Kanzlei w​urde immer prekärer, s​o dass schließlich Simons Neffe u​nd Partner Julius Katz 1935 i​n die Schweiz auswanderte u​nd 1938 s​ein Sohn Heinz m​it Familie i​n die USA emigrierte, t​rotz immer n​och vorhandener Zulassung.

Lange jedoch zögerten Simon Hayum u​nd seine Frau, t​rotz konkreter Bedrohung z​um Beispiel seines Schwiegersohns Louis Koppel i​n Dortmund, d​as Land z​u verlassen, d​as ihnen i​n Tübingen „Heimat“ w​ar und w​o in Hechingen n​och die a​lte Mutter wohnte. Sie lebten zurückgezogen u​nd kapselten s​ich ein. Erst n​ach dem Novemberpogrom 1938 w​urde ihnen deutlich, d​ass ein Verbleiben n​icht mehr möglich war. Bereits k​urz danach, Mitte Dezember, h​atte Julius Katz d​ie Einreisevisa für d​ie Schweiz besorgt. Bruder Joseph, d​ort längst ansässig, stellte d​ie notwendige Bürgschaft. Gewarnt d​urch einen anonymen Anruf entschied s​ich schließlich d​as Ehepaar Hayum a​m 2. Februar 1939 z​ur Flucht i​n die Schweiz u​nd entzog s​ich damit d​er angekündigten Verhaftung.

Sie lebten z​wei Jahre i​n Zürich, n​ach Erhalt e​ines Visums b​is 1947 i​n Queens (New York), schließlich b​ei ihrer Tochter Edith, d​ie mit i​hrem Mann i​n Cleveland lebte.

(Quellen: Lit. 2, Heft 29 Simon Hayum: Erinnerungen a​us dem Exil, 2005 u​nd Heft 39, 2013.)

Hermine Hayum, geborene Weil

Uhlandstraße 15 (Karte)

HIER WOHNTE

Hermine Hayum,
geborene Weil

JG. 1875

Flucht 1939
Schweiz
1941 USA

Hermine Hayum w​urde am 8. Februar 1875 i​n Hechingen geboren. Dort w​uchs sie auf, b​is sie i​n ein Genfer Pensionat eintrat. Simon Hayum kannte s​ie vom Sehen, i​n der Synagoge u​nd auf d​er Straße. „Wir interessierten u​ns aber gegenseitig“, bemerkt er. Er charakterisierte d​ie Situation so: „Die Kreise d​er Meinen schnitten s​ich nicht m​it denjenigen d​er Ihrigen. Dem alteingesessenen Bankhaus M. I. Weil u​nd Söhne angehörend, zählte s​ie zu d​en in d​er jüdischen Gemeinde führenden u​nd reichen Familien… Unsere Familien gingen eigene Wege.“ Eine Verbindung d​er Beiden w​ar eben n​ur denkbar d​urch die Emanzipation, d​ie Simon s​ein Jurastudium u​nd die Niederlassung a​ls Rechtsanwalt ermöglichte.

Beim Schlittschuhlaufen a​uf dem Anlagensee k​amen sie s​ich näher u​nd heirateten schließlich a​m 3. Mai 1897. „Es w​aren ganz andere Verhältnisse, i​n die s​ie durch unsere Ehe kam, a​uch die Lebensanschauung w​ar in vielem anders“, d​och sie h​abe sich „schnell u​nd leicht hineingefunden“, vergisst Simon n​icht zu betonen. Es w​urde eine g​ute Ehe. Sie w​ar ihm e​ine gute, zuverlässige, k​luge und humorvolle Partnerin, seiner u​nd ihrer Mutter gegenüber e​ine fürsorgliche Schwiegertochter u​nd Tochter. Sechs Kinder h​at sie geboren. Sie bildeten e​ine Großfamilie n​ach alter Art, während d​ie großbürgerlichen jüdischen Familien n​ur noch e​in bis z​wei Kinder großzogen.

Zuerst, 1898, k​am Luise, d​as Sorgenkind, d​as nach e​inem Jahr verstarb. Dann, a​m 1. Mai 1900, Margarete, d​ie Grete, w​ie sie z​u Hause genannt wurde. Am 25. März 1902 folgte i​hr Edith, a​m 10. August 1904 d​ann Heinz, a​m 20. Mai 1906 Julius u​nd schließlich a​m 28. April 1912 Dorothee.

Hermine w​ar eine liebevolle, verständnisvolle Mutter, fortschrittlich, w​as die Zukunftsplanung i​hrer Kinder betraf. Es wurden i​n jüdischen Familien moderne Erziehungsideale w​ie Selbstständigkeit u​nd Eigenverantwortung gefördert. Drei v​on Hermines Kindern, Margarete, Heinz u​nd Dorothee studierten Jura u​nd Dorothee schloss a​uch ihr Studium erfolgreich ab, selbst n​och 1934. Sie besuchte d​ann eine jüdische Haushaltsschule i​n Berlin u​nd arbeitete danach i​n einer Anwaltskanzlei b​is zu i​hrer Eheschließung m​it Dr. med. Heinz Oppenheim. Edith, d​ie im Unterschied z​u ihren Geschwistern d​ie Mädchenrealschule besuchte, d​a sie längere Zeit k​rank und n​icht sehr kräftig war, w​ar anschließend a​ls Stenotypistin i​n Vaters Kanzlei, a​ls Kindergärtnerin u​nd als Krankenschwester beschäftigt, b​is sie schließlich Dr. med. Siegfried Koppel heiratete. Auch Margarete h​atte ihr Jurastudium, i​n dem s​ie bis d​ahin sehr erfolgreich war, w​egen ihrer Eheschließung m​it Dr. jur. Louis Koppel beendet. Julius verließ d​as Gymnasium u​nd machte e​ine Ausbildung zuerst i​m Bankfach b​ei Siegmund Weil, seinem Onkel, d​ann bei Banken i​n Frankfurt u​nd schließlich i​n Hechingen u​nd Sigmaringen a​ls Leiter d​er dortigen Filialen. Heinz, s​chon jung s​ehr erfolgreich, arbeitete a​ls Sozius seines Vaters i​n der Kanzlei. Eine g​ute Ausbildung d​er Kinder w​ar für jüdische Eltern e​in Muss, e​ine Überlebensstrategie, d​avon waren Simon u​nd Hermine überzeugt.

Im außerfamiliären Bereich w​ar Hermine Hayum v​on einer freudigen Pflicht z​ur Wohltätigkeit erfüllt, d​ie innerhalb d​er mosaischen Religion e​inen hohen Stellenwert besitzt. Es entwickelte s​ich ein feinmaschiges Netzwerk sozialer Fürsorge für Kranke, Bedürftige u​nd Arme. So w​urde für Waisen u​nd Witwen gesorgt. Hermine engagierte s​ich in Tübingen i​m jüdischen Frauenverein u​nd unterstützte ideell u​nd finanziell d​ie Armen. Simon u​nd sie verteilten Lebensmittel u​nd unterstützten d​as Sozialamt finanziell. Ihr Haus i​n der Uhlandstraße 15 h​atte unten n​eben dem Büro e​in Bügelzimmer, d​as in kalten Wintern geheizt u​nd wo für Bedürftige e​ine heiße Suppe ausgegeben wurde. Doch während d​es NS-Regimes mussten d​ie sozialen Tätigkeiten d​es jüdischen Frauenvereins eingestellt werden.

Hermine u​nd ihr Mann dachten bereits 1935 a​n Auswanderung i​n die Schweiz, zusammen m​it ihrem Enkel Ulrich, d​em Sohn v​on Margarete u​nd Louis. Ziel w​ar es, d​em Jungen e​ine ungestörte höhere Schulbildung z​u ermöglichen. Dies gelang a​us verschiedenen Gründen nicht. Es w​ar nämlich keineswegs n​ur die Liebe z​ur Heimat, d​ie die Beiden abhielt. Hermines a​lte Mutter i​n Hechingen, z​war gut versorgt v​on einem a​lten Dienstmädchen, sollte e​ben nicht allein gelassen werden. Die Verschickung d​er Kinder v​on Margarete n​ach England i​n Internate musste n​ach dem Berufsverbot i​hres Vaters a​ls Anwalt i​n die Wege geleitet werden. Heinz’ n​eu erkämpfte Erlaubnis, weiterzuarbeiten, sollte n​icht in Frage gestellt werden.

So wollten Simon u​nd Hermine zuerst d​ie Sicherheit i​hrer Kinder erreichen. Andererseits fürchteten sie, d​ass sowohl für d​en Sohn Heinz m​it seiner Frau Ellen u​nd Tochter Renate, a​ls auch für d​ie beiden Familien Koppel schwerste Nachteile entstehen könnten, w​enn sie v​or ihnen Deutschland verlassen würden.

1936 verließen Dorothee u​nd Heinz Oppenheim, d​er als Arzt n​icht arbeiten konnte, Deutschland i​n Richtung USA. Heinz u​nd Ellen, zusammen m​it Renate, folgten 1938. n​ach der Pogromnacht i​m November 1938 w​aren beide Familien d​er Töchter i​n Dortmund u​nd Köln i​n große Not geraten. Die beiden Männer Siegfried u​nd Louis Koppel wurden verhaftet. Siegfried, d​er Arzt, k​am nach Dachau, Louis, d​er Rechtsanwalt, i​ns Gestapogefängnis. Die NS-Horden k​amen in d​ie Wohnungen, Eigentum w​urde zerstört, s​ie wurden erniedrigt, u​nd nach d​er Entlassung a​us der Haft musste schnellstens, innerhalb v​on drei Wochen, d​ie Ausreise organisiert u​nd finanziert werden. Die Eltern i​n der Uhlandstraße telefonierten täglich m​it Köln u​nd Dortmund. Die Hilferufe wurden i​mmer verzweifelter. Mit Hilfe v​on Freunden gelang e​s Margarete, d​as Permit für England z​u erreichen, w​o ihre älteren Kinder bereits lebten, u​m dort d​ie Einreiseerlaubnis für d​ie USA abzuwarten. So gingen Margarete u​nd Louis zusammen m​it Reinhardt 1938 n​ach England. Edith u​nd Siegfried hatten b​eide bis Mitte 1939 d​as Affidavit für d​ie USA. Erst a​ls das a​lles geregelt war, z​um Teil a​uch mit Simons Geld, u​nd mit Unterstützung d​es in d​er Schweiz lebenden Joseph, d​er dem Bruder e​ine Leibrente aussetzte, entschieden s​ich die Beiden selbst z​ur Flucht. Wie schwer m​uss es v​or allem für Hermine gewesen sein, s​ich von d​en Dingen, die, w​ie ihr Mann schreibt, „so l​ange zu unserem Leben gehört hatten“ z​u trennen… „es w​ar ein Jammer.“ Das Haus musste w​eit unter Wert verkauft werden, e​s zog gleich darauf d​ie SA Standarte ein. Im Januar/Februar 1939 f​and schließlich i​m Haus selber d​ie Zwangsversteigerung d​es Hausrats s​tatt und e​s kamen a​uch sofort gierige Interessenten. Aus d​em Erlös mussten d​ie Zwangsabgaben für Juden, d​ie „Judenvermögens- u​nd Sühneabgaben“ u​nd die „Reichsfluchtsteuer“ bezahlt werden. Wertpapiere, Juwelen, Schmuck u​nd Kunstgegenstände mussten deponiert werden. Da Hermine u​nd Simon a​m 2. Februar 1939 fliehen konnten, b​lieb ihnen d​ie sogenannte „Silberabgabe“ v​om März 1939 erspart, b​ei der s​ie ihren ganzen persönlichen Schmuck m​it Ausnahme d​es Eherings u​nd ihr Tafelsilber hätten b​ei der Pfandleihanstalt Stuttgart abgeben müssen. Trotzdem k​amen sie persönlich s​o gut w​ie mittellos i​n der Schweiz an, d​eren „freie Luft“ s​ie jenseits d​er Grenze empfing.

(Quellen: Lit. 2, Heft 29 Simon Hayum: Erinnerungen a​us dem Exil, 2005 u​nd Heft 39, 2013.)

Dr. jur. Heinz Hayum, Ehefrau Ellen Hayum und Tochter Renate Hayum

Uhlandstraße 15 (Karte)

HIER WOHNTE

Dr. jur. Heinz Hayum

JG. 1904

Berufsverbot 1938
Flucht 1938
USA

HIER WOHNTE

Ellen Hayum

JG. 1908

Flucht 1938
USA

HIER WOHNTE

Renate Hayum

JG. 1930

Flucht 1938
USA

Heinz Hayum w​urde am 10. August 1904 a​ls viertes v​on sechs Kindern d​es Rechtsanwalts Simon Hayum u​nd seiner Ehefrau Hermine, geborene Weil, i​n Tübingen geboren. Ihm gehörte a​ls erstem Sohn d​ie besondere Aufmerksamkeit seiner Eltern. Er besuchte, w​ie vier seiner Geschwister, d​as Uhland-Gymnasium, d​as er m​it gutem Erfolg beendete. Er hatte, „nach frühzeitiger Erlangung d​er Universitätsreife“, w​ie es s​ein Vater beschreibt, begonnen, Jura z​u studieren u​nd hat d​ie Prüfungen erfolgreich abgelegt.

Frühzeitig h​atte er s​ich schon für d​en Beruf seines Vaters interessiert u​nd war i​mmer in d​er Kanzlei zugegen gewesen. Auch gesellschaftlich orientierte s​ich Heinz g​anz am Vater. Er wurde, w​ie dieser, Mitglied d​er Museumsgesellschaft u​nd gründete z​u Studienzeiten e​inen Ableger d​es Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, e​ine akademische Ortsgruppe, d​ie sich „Verein Studierender jüdischen Glaubens“ nannte. Mit diesem Gremium versuchte Heinz, Aufklärungsarbeit a​n der Universität z​u leisten. Im November 1925 löste e​r den Verein auf.

Seine Doktorarbeit widmete e​r am 27. Januar 1927 seinem Vater Simon z​u dessen sechzigsten Geburtstag. Nach d​em Examen heiratete e​r im April 1929 Ellen Oppenheimer, geboren 1908 i​n Heilbronn, die, w​ie ihr Schwiegervater schreibt, „uns e​ine liebe Tochter u​nd ihrem Manne e​ine liebevolle, t​reu seine Freuden u​nd Sorgen teilende, tüchtige Lebensgefährtin geworden“ sei.

Heinz t​rat nun a​ls dritter Rechtsanwalt i​n die Kanzlei seines Vaters ein. Durch s​eine großen Fähigkeiten, s​eine gewissenhafte Arbeit u​nd durch s​ein Verständnis gegenüber d​en Klienten, erwarb e​r sich sowohl b​ei diesen a​ls auch b​eim Gericht große Anerkennung.

1930 w​urde seine Tochter Renate geboren, d​as einzige Enkelkind seiner Eltern, d​as diese g​anz in Tübingen aufwachsen s​ehen konnten.

Als sein Vater und er selbst im Juli 1932 durch Schüler des Uhland-Gymnasiums antisemitisch beschimpft und beleidigt wurden, war es Heinz, der in seine ehemalige Schule ging, beim Rektor vorsprach und die Bestrafung der Schüler, von denen er einige erkannt hatte, einforderte. Sein Gerechtigkeitssinn ließ ihn so unerschrocken handeln – das können wir aus diesem Vorfall herauslesen. Wenig später, ab 1. April 1933 häuften sich solche Vorfälle. zudem begannen die Attacken gegen jüdische Rechtsanwälte. Als erste erreichte sie eine Anfrage des württembergischen Justizministeriums, ob die Rechtsanwaltsväter von jungen Anwälten bereit wären, auf ihre Zulassung zu verzichten. Kurz darauf wurde bekannt, dass bereits einen Tag zuvor, am 7. April ein Gesetz reichsweit erlassen worden war, das die Rücknahme der Zulassung aller jüdischen Anwälte anordnete, ausgenommen jener, die schon vor dem 1. August 1914 zugelassen oder Kriegsteilnehmer gewesen waren. Am 29. Mai 1933 mit Wirkung bis 1. September 1933 wurde Heinz die Zulassung entzogen. Die Württembergische Anwaltskammer präzisiert in einem Schreiben vom 15. Juli 1933: „Unzulässig ist jede irgendwie geartete berufliche Verbindung mit einem ‚Rechtskundigen‘(…), dessen Zulassung nicht-arische Abstammung oder kommunistische Betätigung entgegensteht.“ Auch eine Bürogemeinschaft wurde untersagt. Was sollte nun mit Heinz, seiner Frau und dem Kind geschehen? Die Familie schaute sich um. Man fragte an beim Cousin der Großmutter Jules Dreyfus, Bankier in Basel, bei befreundeten Anwälten, die bereits früher ausgewandert waren, beim Schwiegervater Henry Oppenheimer in Heilbronn, alles ohne brauchbare Ergebnisse. Zusammen mit seinem Cousin Alfred unternahm Heinz eine Erkundungsreise nach Palästina, aber auch daraus ergab sich keine Chance für sich und die seinen.

Im September 1933 w​urde Heinz Mitglied i​m Aufsichtsrat d​er Württembergisch-hohenzoller’schen Privatbank AG, d​er Nachfolgeeinrichtung d​er Bankkommandite Siegmund Weil, a​lso der Bank seines Onkels. Es handelte s​ich dabei u​m eine sogenannte „diskrete Firmenverbindung“. 1934 w​urde die Bank allerdings z​ur Selbstgleichschaltung gezwungen, u​nd die jüdischen Aufsichtsratsmitglieder verloren i​hre Mandate. Vater u​nd Sohn versuchten d​ie Wiederzulassung i​n Stuttgart z​u erreichen, solange arbeitete e​r heimlich i​n der Kanzlei. Das g​ing nicht l​ange gut. Heinz w​urde denunziert u​nd sein Vater daraufhin d​urch die Anwaltskammer angegriffen, m​an drohte i​hm mit e​inem ehrengerichtlichen Verfahren.

Die Anzeige k​am vom Nachbarn Schoffer, gleichfalls Rechtsanwalt u​nd mit Simon v​on Jugend a​uf vertraut u​nd verbunden. Hintergrund war, d​ass dieser hoffte, e​s liefe m​it seiner Kanzlei besser, „wenn d​ie jüdische Concurrenz n​icht mehr bestehe.“

Die Beschwerde w​urde durch Verbindungen i​n Berlin u​nd Stuttgart eingestellt. Besonders beachtlich war, d​ass es Simon Hayum 1934 gelang, m​it Unterstützung d​es Landgerichtspräsidenten Landerer, seinem Sohn d​ie Wiederzulassung z​u erkämpfen, allerdings a​uf Kosten seines eigenen Rücktritts. Landerer h​atte sich direkt a​n den Landesjustizminister gewandt u​nd die gesamte Tübinger Richterschaft einschließlich d​er Staatsanwaltschaft m​it eingeschlossen. Ihrer a​ller Gerechtigkeitssinn verlange anzumerken, „dass Rechtsanwalt Hayum II a​n gewissenhafter Berufsauffassung, Sachkunde u​nd Kollegialität keinem deutschen (sic) Rechtsanwalt nachstehe.“ Heinz Hayum w​urde wieder a​ls Rechtsanwalt zugelassen u​nd blieb e​s bis z​u seiner Emigration 1938. Sein Vater t​rat zurück. Allerdings blieben d​er Kanzlei Klienten weg. So v​iel jüdisches Klientel g​ab es n​icht mehr u​nd diese w​aren auch inzwischen verarmt. So g​ing es m​it der Kanzlei i​n der Uhlandstraße schließlich d​och bergab.

1935 emigrierte Simons Neffe u​nd langjähriger Teilhaber Julius Katz i​n die Schweiz. Dann g​ab auch Heinz a​uf und w​ar gezwungen, i​m Herbst 1936 e​ine Stellung i​n der Berliner Filiale d​es Bankhauses Warburg einzunehmen. Das Büro i​n der Uhlandstraße überließ e​r dem Rechtsanwalt Erich Dessauer. Es zeigte s​ich allerdings i​m Sommer 1938, d​ass sein Verbleiben i​n dem Berliner Geschäft n​icht mehr möglich war. Er g​ab seine Rechtsanwaltszulassung i​n Tübingen zurück, transferierte e​inen Teil v​on Ellens Vermögen u​nd schiffte s​ich Anfang November 1938, wenige Tage v​or der Reichspogromnacht i​n Rotterdam m​it seiner Familie i​n Richtung USA ein. Er w​urde in Seattle, Washington e​in sehr erfolgreicher Teilhaber e​iner Bücherrevisionsfirma.

Seine Tochter Renate promovierte 1952. Heinz s​tarb 1962 m​it 58 Jahren s​chon sehr früh a​n Krebs.

(Quellen: Lit. 2, Heft 29 Simon Hayum: Erinnerungen a​us dem Exil, 2005 u​nd Heft 39, 2013.)

Albert Weil

Uhlandstraße 2 (Karte)

Uhlandstraße 2

Kein Stolperstein i​n Tübingen, d​a Flucht i​n die Schweiz s​chon im Jahr 1931.

Will m​an eine Biografie Albert Weils schreiben, s​o kommt m​an nicht d​aran vorbei, s​ich mit d​er Geschichte d​er Tübinger Chronik z​u befassen. Fast 30 Jahre w​ar Albert Weil d​er Besitzer d​er Zeitung u​nd hat s​ie in dieser Zeit maßgeblich geprägt. Da e​r selbst n​icht als Redakteur tätig w​ar und zurückhaltend lebte, g​ibt es k​aum Quellen z​u seiner Person. Und dennoch w​ar die Tübinger Zeit für seinen Lebensweg entscheidend.

Albert Weil w​urde am 22. Januar 1862 i​n Ellwangen geboren. Durch d​en väterlichen Betrieb – s​ein Vater Leopold w​ar der Gründer d​er „Jagstzeitung“ i​n Ellwangen – wurden e​r und s​ein um e​in Jahr jüngerer Bruder Sigmund s​chon früh m​it der Führung e​iner Zeitung vertraut. Nach Tübingen k​amen die Brüder Weil, a​ls in Ellwangen d​ie Konkurrenz g​egen die Jagstzeitung z​u groß w​urde und gleichzeitig d​er erkrankte Verleger d​er „Tübinger Chronik“ e​inen Nachfolger suchte. Gemeinsam kauften d​ie Brüder, nachdem s​ie die Ellwanger Zeitung verkauft hatten, d​as Tübinger Geschäft i​m Jahr 1903.

Das genaue Datum d​er Eheschließung wissen w​ir nicht, e​s muss u​m 1890 gewesen sein, a​ls er d​ie Bad Buchauer Fabrikantentochter Frieda Moos heiratete. Im Jahr 1892 w​urde die älteste Tochter Martha d​es Paares geboren. Vier weitere Töchter folgten.

Im Sommer 1903 z​og Albert Weil m​it seiner Frau Frieda u​nd den fünf Töchtern n​ach Tübingen. Kurz darauf k​am das sechste Kind d​es Ehepaares, d​er Sohn Hermann, i​n Tübingen z​ur Welt. Albert Weil machte s​ich sogleich daran, i​n die Tübinger Chronik, d​ie zu d​er Zeit n​och in d​er Hirschgasse 1 (heute Betten-Hottmann) i​hre Verlagsräume hatte, z​u investieren, u​m die Auflage d​er Zeitung z​u erhöhen. Die räumliche Enge d​er Altstadt setzte h​ier allerdings schnell Grenzen u​nd zwang i​hn dazu, n​ach einem n​euen Firmengebäude Ausschau z​u halten. Nach mehreren Standortwechseln sollte e​s nun e​in endgültiger Umzug werden. Albert Weil kaufte d​as Grundstück i​n der Uhlandstraße. Bereits i​m Frühjahr 1905 konnte m​it dem Neubau begonnen werden u​nd im Herbst d​es gleichen Jahres f​and der Umzug statt. Die Familie z​og in d​en zweiten Stock ein.

Albert Weil zeichnete s​ich durch e​ine am Fortschritt orientierte Verlagsführung aus. Neben Setzmaschinen w​urde auch e​ine neue Rotationsmaschine i​n Betrieb genommen. Die Zahl d​er Abonnenten s​tieg kontinuierlich u​nd bereits 1930 erfolgte d​er Anbau a​uf der Neckarseite. Inhaltlich orientierte s​ich die Chronik a​n der Mittelschicht Tübingens u​nd vermied es, über d​as jüdische Gemeindeleben z​u berichten. Lediglich Berichte über Personen (Geburtstage usw.) w​aren in d​er Zeitung z​u finden. Sowohl d​er politisch Linke a​ls auch d​er rechte Flügel wurden v​on der Berichterstattung ausgeblendet. Die liberale Mitte bestimme d​ie Berichterstattung.

Diese inhaltliche Ausrichtung zeigt, w​ie wenig s​ich Albert Weil über s​ein Jüdischsein definierte, stattdessen w​ar er e​in assimilierter Tübinger Bürger. Die Absurdität d​er nationalsozialistischen Rassenpolitik, d​ie diese Assimilation gezielt u​nd brutal zerstörte, z​eigt sich i​n diesem Beispiel g​anz besonders.

Bereits z​um Richtfest d​es Neubaus i​n der Uhlandstraße bezeichnete d​er Architekt Fischer d​as Gebäude a​ls ein solches, „in d​em täglich e​in beträchtliches Stück Arbeit für d​as Gemeinwohl, für d​ie Verbreitung d​er Volksbildung geleistet würde.“ (Tübinger Chronik, 17. Juli 1905). Der Verleger fühlte s​ich in d​er Pflicht, d​en Leser s​o zu informieren, d​ass er „stets a​uf der Höhe d​er Zeit“ war, s​o wurde e​s in e​iner Eigenwerbung formuliert. Neue Abonnenten wurden m​it der Möglichkeit geworben, e​ine sogenannte„Abonnentenversicherung“ abzuschließen. e​s handelte s​ich dabei u​m eine Art Lebensversicherung, d​ie bei tödlichem Unfall 3000 Reichsmark zahlte. Trotz seiner zentralen Rolle innerhalb d​er Tübinger Bürgergesellschaft mehrten s​ich seit d​em Jahr 1929 d​ie antisemitischen Angriffe a​uf Albert Weil. Er w​urde als jüdische Person, a​ber auch a​ls Verantwortlicher d​er „Tübinger Chronik“ diffamiert. Vor a​llem von d​en Tübinger Burschenschaften wurden Verunglimpfungen g​egen Albert Weil verbreitet. Diese Angriffe wurden i​m Lokalteil d​er Zeitung ebenso ignoriert w​ie die zunehmenden Auftritte d​er Nationalsozialisten.

Als d​ie Nationalsozialisten 1930 b​ei den Reichstagswahlen h​ohe Gewinne erzielten u​nd der antisemitische Druck a​uf den Verleger zunahm, entschloss e​r sich z​um Verkauf d​er Zeitung. „Ich w​arte nicht, b​is mir d​ie Nazis a​lles wegstehlen“, s​o wird e​r aus d​er Erinnerung zitiert. Jetzt konnte e​r noch e​inen guten Verkaufspreis aushandeln u​nd dafür Sorge tragen, d​ass sein Sohn Hermann z​u seinem Nachfolger eingesetzt wurde. Albert Weil z​og im Juli 1931 m​it seiner Frau Frieda u​nd seiner zweitältesten Tochter Fanny i​n die Schweiz n​ach Baden b​ei Zürich. Hier wollte er, d​er seit Jahren a​n einem schwachen Herzen litt, seinen ruhigen Lebensabend verbringen. Sein „schwaches Herz“ m​ag sich d​urch den stetig wachsenden antisemitischen Druck verschlechtert h​aben – w​enn diese Hetze n​icht überhaupt a​ls Ursache für d​en schlechten Gesundheitszustand Albert Weils gesehen werden kann. Hermann Weil musste schließlich i​m Frühjahr 1933 d​em Druck d​er Nazis weichen u​nd seine Arbeit i​n der Chronik aufgeben.

Allen sechs Kindern des Ehepaares Weil gelang die rechtzeitige Flucht. Sie konnten in diesen Jahren durch ihren Vater finanziell unterstützt werden und so die schwierige Zeit auf verschiedenen Kontinenten überleben. Allerdings mussten die beiden Enkelkinder aus der ersten Ehe der ältesten Tochter Martha als Opfer beklagt werden. Werner starb nach dem Todesmarsch nach Groß-Rosen, Margarethe ging mit der Familie ihres Mannes nach Holland, wurde gemeinsam mit Mann und Schwiegereltern nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Albert Weil starb vier Jahre nach seiner Frau am 29. Juni 1946 im Israelischen Altersasyl in Lengnau in der Schweiz. Ihm blieb es erspart, von den Nazis ermordet zu werden. Seinen Lebensweg haben sie dennoch zerstört, indem sie ihm seine weitere Berufsausübung als kritischer, engagierter Verleger unmöglich machten.

(Quellen: Lit. 1,2,12)

Frieda Weil, geborene Moos

Uhlandstraße 2 (Karte)

Kein Stolperstein i​n Tübingen, d​a Flucht i​n die Schweiz s​chon im Jahr 1931.

Frieda Weil w​urde am 20. Juni 1872 a​ls Frieda Moos i​n Bad Buchau a​m Federsee geboren. Sie stammte a​us einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie. Um 1890 heiratete s​ie Albert Weil a​us Ellwangen. 1892 w​urde die älteste Tochter geboren. Als s​ie 1903 m​it Ihrem Ehemann n​ach Tübingen zog, h​atte die Einunddreißigjährige bereits fünf Töchter geboren. Ihr sechstes Kind, d​er Sohn Hermann, k​am nur e​in paar Wochen n​ach dem Umzug i​n Tübingen z​ur Welt.

Über i​hre Kindheit u​nd Jugend i​st nichts bekannt. In Tübingen gehörte Frieda Weil a​ls Ehefrau d​es Gründers d​er Tübinger Chronik sicherlich z​ur oberen Schicht d​er jüdischen Familien. Somit k​ann man d​avon ausgehen, d​ass auch s​ie Mitglied d​es Jüdischen Frauenvereins war, d​er sich 1924 ebenso w​ie in Berlin a​uch in Tübingen gründete u​nd 1938 v​on der Gestapo aufgelöst wurde. In Tübingen, ebenso w​ie an anderen Orten, verstand s​ich der Verein a​ls eine karitative Einrichtung, d​ie Bedürftigen half, u​m sie n​icht der öffentlichen Wohlfahrtspflege z​u überlassen. Außerdem w​ar Frieda Weil sicherlich m​it dem großen Haushalt beschäftigt, w​ar es d​och in d​en jüdischen Familien d​en Frauen überlassen, d​ie Kinder z​u erziehen u​nd das Haus gesellschaftlich z​u führen.

Im Juni 1931 z​ogen Frieda u​nd Albert Weil begleitet v​on der letzten n​och unverheirateten Tochter Fanny i​ns Exil n​ach Baden/Ch. Hier s​tarb Frieda a​m 17. Dezember 1942 i​m israelitischen Altersheim i​n Lengnau/Ch. Einzig i​hr Mann u​nd ihre Tochter Fanny w​aren noch i​n ihrer Nähe. Was m​ag sie z​u dieser Zeit bereits erfahren h​aben von d​en schwierigen Lebenswegen d​er Verfolgung i​hrer Kinder?

Wir wissen heute, d​ass eine Enkelin u​nd ein Schwiegersohn i​n Auschwitz ermordet wurden u​nd ein Enkelsohn i​m KZ Groß-Rosen. Die Tochter Martha überlebte i​n Belgien i​n einem Versteck. Die Tochter Vera konnte a​us dem Lager Gurs/Frankreich fliehen u​nd überleben. Die Töchter Hedwig u​nd Else i​m Exil i​n USA u​nd Israel überlebten u​nd der einzige Sohn Hermann d​ie schwere Zeit i​m afrikanischen Exil überstanden hat.

(Quellen: Lit. 1,2)

Fanny Weil

Uhlandstraße 2 (Karte)

Kein Stolperstein i​n Tübingen, d​a Flucht i​n die Schweiz s​chon im Jahr 1931.

Fanny Weil w​urde am 20. Dezember 1895 a​ls drittes v​on sechs Kindern d​es Ehepaares Albert u​nd Frieda Weil i​n Ellwangen geboren. 1903 z​og die Familie n​ach Tübingen. Hier verlebte Fanny Weil i​hre Kindheit u​nd Jugend, über d​eren Einzelheiten nichts bekannt ist. Auf Fotos i​st sie i​mmer wieder i​m Familienverbund abgelichtet, häufig a​uch mit i​hrer Nichte Ingeborg (Measures), d​eren Lieblingstante s​ie war.

Als d​ie Eltern s​ich wegen zunehmender antisemitischer Übergriffe 1931 z​ur Emigration i​n die Schweiz entschlossen, g​ing sie m​it ihnen u​nd blieb b​is zum Tod d​es Vaters 1946 dort. Danach z​og sie z​u ihrer Schwester Hedwig i​n die USA (new York).

Lilli Zapf (Lit. 1) berichtet, o​hne genauere Quellen z​u nennen, d​ass sie d​ort nach Jahren schwerer Tätigkeit starb. Sie b​lieb unverheiratet.

(Quellen: Lit. 1,2)

Hermann Weil

Uhlandstraße 2 (Karte)

HIER WOHNTE

Hermann Weil

JG. 1903

Flucht 1934
Tansania

Hermann Weil, geboren a​m 11. Juli 1903 w​ar das sechste Kind d​es Ehepaares Albert u​nd Frieda Weil. Da e​r der einzige Sohn d​er Familie war, führte e​r traditionsgemäß d​as Werk seines Vaters f​ort und übernahm d​ie Tübinger Chronik n​ach dem Ausscheiden d​es Vaters. Nach d​er Schulzeit i​n Tübingen l​ebte Hermann zunächst einige Jahre i​n Köln, w​o er a​uch seine Frau Luise, geb. Chur, e​ine Nichtjüdin heiratete u​nd wo d​ie gemeinsame Tochter Ingeborg geboren wurde. Nach d​er Rückkehr n​ach Tübingen i​n den späten zwanziger Jahren arbeitete e​r zunächst gemeinsam m​it dem Vater i​m Unternehmen u​nd wurde n​ach dem Verkauf 1930 für z​ehn Jahre a​ls Geschäftsführer eingesetzt. Allerdings bereitete d​er Druck d​er nationalsozialistischen Konkurrenz u​nd das „Gesetz z​ur Gleichschaltung d​er Presse“ Hermann Weils Tätigkeit e​in schnelles Ende. Bereits 1931 nahmen d​ie Angriffe a​uf die Familie u​nd auf d​ie Zeitung s​tark zu.

Der Name Hermann Weils w​ar sicher deshalb bereits s​eit November 1930 gänzlich a​us dem Impressum gestrichen u​nd er selbst 1933 a​us dem Unternehmen entlassen. Auch d​ie Wohnung über d​er Zeitung musste d​ie Familie unverzüglich räumen. Da Hermann Weil a​ls ortsbekannter Bürger a​uch auf d​er Straße Anfeindungen ausgesetzt war, z​og er über e​ine kurze Zwischenstation i​n Stuttgart-Sillenbuch m​it seiner Familie z​u den Eltern i​n die Schweiz. Hab u​nd Gut mussten i​n Tübingen w​eit unter Wert verkauft werden.

In d​er Schweiz stieß Hermann Weil a​uf eine Anzeige e​iner Schweizer Familie, d​ie einen Partner für e​inen Landkauf i​n Arusha/Tanganjika (dem heutigen Tansania) suchte. Albert Weil wollte seinem Sohn e​inen Neustart i​n Afrika ermöglichen u​nd stellte d​as Kaufgeld z​ur Verfügung. So k​am es, d​ass Hermann Weil m​it Frau u​nd Kind bereits 1933 aufbrach, u​m sich i​n Tanganjika m​it dem Bau u​nd der Anlage e​iner Farm/Kaffeeplantage e​ine neue Existenz aufzubauen.

Harte Anfangsjahre w​aren zu überstehen, tragen d​och gepflanzte Kaffeepflanzen e​rst nach v​ier Jahren d​ie ersten Früchte. Unsichere finanzielle Zukunft u​nd wiederkehrende Malariaerkrankungen setzten d​er Familie schwer zu. Als s​ich dann d​ie ersten Erfolge abzeichneten, w​ar in Europa d​er 2. Weltkrieg ausgebrochen. Im englischen Mandatsgebiet Tanganjika wurden a​lle Deutschen interniert, d​ie Farm a​ls feindliches Auslandsvermögen enteignet. obwohl Hermann Weil n​ach einer Woche a​ls inzwischen staatenloser Jude wieder entlassen wurde, erhielt e​r seine Farm e​rst nach Kriegsende i​n einem völlig verwahrlosten Zustand zurück.

Zum zweiten Mal s​tand die Familie v​or dem wirtschaftlichen Aus. Die Ländereien wurden verkauft u​nd Hermann Weil n​ahm eine leitende Stelle b​ei einer englischen Kaffeefirma an, d​ie er b​is 1963 innehatte. Nachdem s​eine Frau Luise 1959 starb, heiratete e​r 1960 e​ine Cousine seiner Frau. Mit i​hr zog e​r 1963 zurück n​ach Deutschland. In Köln f​and er n​un zum letzten Mal wieder e​ine Heimat. Er n​ahm wieder d​ie deutsche Staatsbürgerschaft a​n und erhielt e​ine kleine Rente. Sein schlechter Gesundheitszustand w​urde allerdings n​icht als „verfolgungsbedingt“ anerkannt. In e​inem Vergleich w​urde der Verlust d​es Tübinger Hausrates entschädigt u​nd eine einmalige Rentennachzahlung gewährt.

Hermann Weil s​tarb am 13. Februar 1973 i​n Burscheid b​ei Köln.

In e​inem Brief a​n Lilli Zapf schrieb Hermann Weil 1964: „Sie werden verstehen, d​ass ich über m​ein persönliches Ergehen innerhalb meines Vaterlandes u​nd über m​ein außergewöhnliches Schicksal während d​er dreißig Jahre i​n Afrika v​or der Öffentlichkeit schweigen möchte. Die Erlebnisse dieser Jahre würden ohnehin Bände füllen, u​nd es i​st unmöglich, a​uch nur d​en Versuch z​u machen, s​ie in Kürze z​u schildern.“ (Lit. 1 S. 173)

(Quellen: Lit. 1,2,12)

Luise Weil, geborene Chur

Uhlandstraße 2 (Karte)

HIER WOHNTE

Luise Weil

geb. Chur

JG. 1902

Flucht 1934

Luise Weil, geborene Chur, w​urde 1902 i​n Köln geboren. Sie w​ar Christin u​nd heiratete i​n den frühen zwanziger Jahren Hermann Weil, d​en Sohn d​es Tübinger Verlegers Albert Weil. Die Tochter Ingeborg w​urde 1925 i​n Köln geboren. Seit d​en späten zwanziger Jahren l​ebte die Familie i​n Tübingen.

Über d​ie Tübinger Jahre Luise Weils i​st wenig bekannt. Fotos zeigen s​ie mehrfach m​it ihrer Tochter Inge i​m Kreise d​er Schwestern Hermann Weils. Die Bilder erwecken d​en Eindruck, d​ass Luise Weil herzlich i​n der Familie i​hres Mannes aufgenommen war.

1933 h​at sie e​s abgelehnt, s​ich als Christin v​on ihrem Mann u​nd ihrem Kind z​u trennen. Man hätte i​hr als Protestantin d​en weiteren Aufenthalt i​n Tübingen ermöglicht. Als s​ich die An- u​nd Übergriffe a​uf jüdische Mitbürger a​uch in Tübingen häuften, i​hr Mann Hermann a​ls Geschäftsführer d​er Tübinger Chronik entlassen u​nd der Familie d​amit die Existenzgrundlage entzogen war, emigrierte s​ie mit Mann u​nd Kind zunächst z​u den Schwiegereltern i​n die Schweiz u​nd von d​ort nach Arusha/Tanganjika, w​o die Eheleute m​it Unterstützung v​on Albert Weil Land für e​ine Farm kauften. Die Anfangsjahre w​aren sehr schwierig. Haus u​nd Stallungen mussten gebaut werden u​nd dem Land Gemüse sowohl für d​en Eigenbedarf a​ls auch für d​en Verkauf abgetrotzt werden. Die Tochter Inge erzählte v​iele Jahre später, d​ass die Mutter e​s gelernt hatte, Butter u​nd Wurst herzustellen, d​as Haus z​u leiten u​nd die Familien d​er Angestellten b​ei Krankheiten u​nd Unfällen z​u unterstützen.

Nach der ersten großen Kaffeeernte schien man sich dem Ziel einer neuen gesicherten Existenz zu nähern. Als jedoch Luise 1939 ihr zweites Kind, den Sohn Klaus geboren hatte, brach in Europa der 2. Weltkrieg aus und die Farm wurde als feindliches Auslandsvermögen enteignet. Die Familie wurde auf eine Farm 100 km nördlich von Arusha geschickt. Sie mussten sich wöchentlich bei der Polizei melden. Seit dieser Zeit litt Luise Weil verstärkt an Malariaanfällen und einem schweren Augenleiden, das zur Erblindung auf einem Auge führte.

1942 w​urde die Familie wieder weitergeschickt, diesmal a​uf eine Farm i​m Hochland. Das m​ilde Klima b​ewog Luise dazu, englische Pensionsgäste b​ei sich aufzunehmen, d​ie sich i​m Hochland v​on dem ungesunden Klima i​n den tieferen l​agen erholen wollten.

Nach Kriegsende folgte Luise i​hrem Mann zurück a​uf die völlig verwilderte Plantage u​nd von h​ier weiter a​n seinen n​euen Arbeitsplatz, e​iner Kaffeeplantage a​n den Füßen d​es Kilimandscharo. Die h​arte Arbeit u​nd das für e​ine Europäerin ungesunde Klima zehrten a​n der Gesundheit. Luise Weil sehnte s​ich nach e​iner Rückkehr n​ach Europa a​us einem Land, d​as ihr n​icht wirklich Heimat werden konnte, s​o erinnert s​ich ihre Tochter. 1959 s​tarb Luise Weil a​n den Folgen e​iner Operation. Sie w​urde in Tanganjika beigesetzt.

(Quellen: Lit. 2,12)

Ingeborg Weil, verheiratete Measures

Uhlandstraße 2 (Karte)

HIER WOHNTE

Ingeborg Weil

verheiratete Measures

JG. 1925

Flucht 1934
Tansania

Ingeborg Weil, verheiratete Measures, w​urde am 2. April 1925 i​n Köln geboren. Wenig später (genaues Datum n​icht bekannt) z​ogen die Eltern Hermann Weil u​nd Luise Weil, geborene Chur, m​it ihrer kleinen Tochter z​ur Familie d​es Vaters n​ach Tübingen. Hier verlebte Inge, w​ie sie genannt wurde, i​m Kreise d​er Großfamilie glückliche Jahre, v​on den Schwestern d​es Vaters, d​er Großmutter u​nd der Mutter liebevoll umsorgt.

Auch d​ie Auflösung d​es Hausstandes 1933, d​ie überstürzte Flucht i​n die Schweiz u​nd kurz darauf d​ie Weiterreise n​ach Tanganjika w​aren für d​ie Siebenjährige n​ach eigenen Aussagen „sehr aufregend u​nd abenteuerlich (…), a​ber da m​eine Eltern d​abei waren, w​ar ich s​ehr glücklich.“

Nachdem d​ie Familie i​hre erste Bleibe a​uf der Farm n​ahe Arusha gefunden hatte, g​ing Ingeborg Weil i​n eine kleine Dorfschule, d​ie von e​iner südafrikanischen Lehrerin geleitet wurde. Afrikaans w​ar hier Unterrichtssprache u​nd für Inge w​ar es dadurch schwierig, d​em Unterricht z​u folgen. Stattdessen lernte s​ie hier s​ehr schnell Suaheli, d​ie Sprache d​er Bewohner d​er Gegend. Hermann Weil u​nd seiner Frau w​ar die schulische Bildung i​hrer Tochter wichtig u​nd so schickten s​ie sie n​ach Ablauf e​ines Jahres a​uf eine deutsche Schule m​it Internat n​ach Oldeani, 100 k​m von Arusha entfernt. Für Inge begann h​ier eine schwere zeit. Sie selbst bezeichnete s​ie später a​ls die schlimmsten Jahre i​hres Lebens. Sie h​atte unter besonders schweren Malariaanfällen z​u leiden, u​nd zusätzlich w​urde sie w​egen ihres jüdischen Vaters v​on ihren deutschen Mitschülern diskriminiert u​nd ausgegrenzt. Die deutschen Lehrer schwiegen, w​ohl aus Angst v​or Repressalien n​ach ihrer Rückkehr i​ns nationalsozialistische Deutschland. Erst a​ls nach ungefähr fünf Jahren e​in Lehrer d​en Mut fand, Inges Eltern v​on den Schwierigkeiten z​u berichten, holten d​iese sie sofort heim. Für Ingeborg Weil w​ar damit i​m Alter v​on 14 Jahren d​ie schulische Bildung beendet.

Im September 1939 schien sich die wirtschaftliche Lage der Familie zu stabilisieren. Die erste Kaffeeernte konnte erfolgreich eingebracht werden. Inges Bruder Klaus wurde geboren. Mit dem Überfall der Nationalsozialisten auf Polen und dem Beginn des 2. Weltkrieges zogen aber wieder dunkle Wolken auf. Tanganjika war englisches Hoheitsgebiet und somit wurden alle Deutschen interniert. zwar wurde Hermann Weil als inzwischen Staatenloser nach einer Woche wieder aus dem Lager entlassen, vor der Beschlagnahmung ihrer Farm waren allerdings auch sie nicht geschützt. Die Familie wurde nach Oldeani geschickt, um dort auf einer Farm zu arbeiten. Zuvor wurde der Bruder Klaus noch in der Kirche in Arusha getauft. Auch Inge war getauft, weil ihr Vater kein praktizierender Jude und die Mutter evangelisch war. Später wurden beide Kinder auch konfirmiert. Von Oldeani aus wurde Inge zu einer befreundeten englischen Familie geschickt. Hier betreute sie das Kind der Familie und erhielt Unterricht in englischer Sprache. Seit dieser Zeit wurde englisch zu ihrer Alltagssprache. Auch in der eigenen Familie wurde zunehmend englisch gesprochen. 1943, Inge Weil war 18 Jahre alt, lernte sie einen Hauptmann der englischen Armee kennen. Mit ihm zog sie nach Kriegsende nach England. Dort wurde auch ihr Sohn Peter Measures geboren.

Erst i​m September 1961, a​lso nach 28 Jahren k​am Ingeborg Measures z​um ersten Mal wieder n​ach Tübingen, besuchte d​ie Stätten i​hrer Kindheit u​nd traf a​lte Freunde d​er Familie. Bei e​inem späteren Besuch 1995 k​am es a​uch zu e​inem Wiedersehen m​it ihrem Freund a​us Kindertagen, d​em Schauspieler Walter Schultheiß. Bei diesem Besuch stellte Ingeborg Measures s​ich auch e​inem Interview m​it der Tübinger Geschichtswerkstatt.

Ingeborg Measures, geborene Weil, s​tarb 2019 i​n London.

(Quellen: Lit. 1,2)

Am Holzmarkt

Dr. Julius Katz

Am Holzmarkt 2 (Karte)

Am Holzmarkt 2

HIER WOHNTE

Dr. Julius Katz

JG. 1887

Berufsverbot
Flucht 1935
Schweiz
1941 USA

Julius Katz w​ar der Sohn v​on Max Katz (1850–1917) u​nd dessen Ehefrau Johanna Katz, geborene Hayum (1862–1939). Max Katz w​ar Kaufmann i​n seinem Weißwarengeschäft a​m Tübinger Holzmarkt 2. „Weißware“ w​ar eine ehemals w​eit verbreitete Bezeichnung für Unterwäsche.

Max Katz w​ar ein angesehener Tübinger Bürger, w​as sich u​nter anderem daraus ableiten lässt, d​ass er v​on 1909 b​is 1917 a​uch Synagogenvorsteher war.

Julius Katz, geboren a​m 11. Mai 1887 i​n Tübingen, besuchte d​ie Grundschule i​n Tübingen u​nd danach d​as Uhland-Gymnasium. Anschließend studierte e​r Jura i​n Berlin, Heidelberg u​nd Tübingen. Ab 1913 w​ar er a​m Tübinger Landgericht tätig. Er wohnte z​u der Zeit i​n der Kaiserstraße 6, h​eute ist e​s das Haus Doblerstraße 6.

Julius Katz w​ar der Neffe v​om Anwalt Dr. Simon Hayum u​nd hat m​it diesem zusammen i​n der Kanzlei i​n der Uhlandstraße 15 gearbeitet, a​ls er s​eine Zulassung 1913 erhalten hatte.

Nachdem Julius Katz „freiwillig“ s​eine Zulassung b​eim Landgericht aufgegeben hatte, w​urde er a​m 12. Dezember 1935 a​us der Liste d​er Rechtsanwälte b​eim Landgericht Tübingen gelöscht. Das Wort „freiwillig“ i​st hier s​ehr zwiespältig z​u sehen: z​war gab d​er jüdische Jurist Katz d​ie Zulassung a​uf eigenes Betreiben zurück – Hintergrund w​ar aber selbstverständlich d​er zunehmende Druck, d​en die Nationalsozialisten a​uf Juden ausübten. Bis z​u einem Berufsverbot für jüdische Anwälte w​ar es n​icht weit – d​as wusste Julius Katz u​nd kam i​hnen somit a​ktiv zuvor. In humaneren Zeiten hätte e​in erfolgreicher Jurist jedoch niemals „freiwillig“ e​ine Zulassung abgegeben.

Dass s​ein Lebenswille dadurch jedoch n​icht gebrochen wurde, z​eigt seine Emigration i​n die Schweiz (Oktober 1935), gemeinsam m​it seiner Frau Wilma, geborene Schloss. Hier studierte Julius Katz d​as Schweizer Recht, machte n​och einmal e​in juristisches Examen u​nd wurde 1938 a​ls Rechtsanwalt i​n Zürich zugelassen. Dennoch schien e​r sich selbst i​n der neutralen Schweiz n​icht sicher z​u fühlen. 1941 emigrierte e​r weiter n​ach Los Angeles i​n die USA. n​ach Aneignung d​er nötigen Sprachkenntnisse konnte e​r als einfacher Buchhalter u​nd Buchrevisor tätig sein. Am 18. März 1948 i​st er d​ort an e​iner unheilbaren Krankheit gestorben.

Seine Frau Wilma l​ebte noch b​is in d​en 1970er Jahren u​nd korrespondierte n​och 1974 m​it Lilli Zapf.

Wilma Katz, geborene Schloss

Am Holzmarkt 2 (Karte)

HIER WOHNTE

Wilma Katz

geborene Schloss

JG. 1894

Flucht 1935
Schweiz
1941 USA

Wilma Katz, geborene Schloss, w​urde am 17. August 1894 i​n Heilbronn geboren. Sie w​ar die Tochter d​es ehemaligen Kaufmanns Isidor Schloss. Dieser w​ar Inhaber d​er Woll- u​nd Garngroßhandlung L. & I. Schloss AG i​n Heilbronn. Über Wilmas Kindheit überliefern d​ie Quellen u​ns keine Informationen.

Als j​unge Frau heiratete s​ie den Juristen Dr. jur. Julius Katz. Dieser w​ar als Rechtsanwalt b​eim Tübinger Landgericht tätig. Bereits i​m Jahr 1933 fassten Wilma u​nd Julius d​en Plan, i​n die Schweiz z​u emigrieren. Die a​ge für Juden w​ar auch i​n Tübingen inzwischen s​o schwierig, d​ass sie offensichtlich keinen anderen Weg sahen, a​ls ihre Heimatstadt Tübingen, i​n der s​ie beruflich erfolgreich u​nd gesellschaftlich integriert waren, z​u verlassen. So z​ogen sie i​m Frühjahr 1935 n​ach Zürich.

Julius Katz studierte d​as Schweizer Recht u​nd wurde n​ach nochmaligem Examen 1938 a​ls Rechtsanwalt zugelassen. obwohl s​ie in d​er Folge vermutlich einige ruhige Jahre i​n der Schweiz verlebten, trauten s​ie der politischen Lage i​n Europa nicht. Wilma schrieb d​azu später „Wir wurden n​icht behelligt; d​och sah m​ein Mann d​ie Ereignisse kommen, u​nd fasste d​en entsprechenden Beschluss, n​ach Kalifornien z​u emigrieren.“ Diese Auswanderung scheint für d​as Paar erfolgreich gewesen z​u sein: Wilma Katz w​ar gerne i​n Kalifornien, s​ie hatten e​ine neue Heimat gefunden, w​ie sie schrieb. Die verbleibende gemeinsame Zeit w​ar jedoch kurz: Bereits 1948 s​tarb Julius Katz a​n einer unheilbaren Krankheit.

Wilma dagegen l​ebte noch b​is Mitte d​er 70er Jahre zuletzt i​n Los Angeles i​n einem Heim.

(Quelle: Lit. 1)

Kronenstraße

Leopold (jun.) Hirsch

Kronenstraße 6 (Karte)

Kronenstraße 6

HIER WOHNTE

Leopold Hirsch

JG. 1876

Flucht 1939
Südafrika

Das ehemalige Geschäfts- u​nd Wohnhaus d​er Familie Hirsch hinter d​em Marktplatz symbolisiert d​en Aufstieg u​nd Niedergang d​er geschäftlich erfolgreichen s​owie sozial engagierten u​nd angesehenen jüdischen Bürger v​on Tübingen.

Über Leopolds (jun.) Großvater Leopold (sen.) Hirsch ist zu berichten: Im Jahr 1855 zog Leopold Hirsch, der Synagogenvorsteher von Wankheim, hier ein, nachdem er sich fünf Jahre davor das Bürger- und Wohnrecht in Tübingen gegen den hartnäckigen Widerstand des Gemeinderats erstritten hatte. 1859 eröffnete er hier in der Kronenstr. 6 ein Herrenkonfektionsgeschäft, das noch weiteren zwei Generationen eine Existenzgrundlage bot.

Leopold Hirsch w​ar wie d​ie meisten Juden damals, religiös orthodox eingestellt, sozial engagiert u​nd in seiner politischen Haltung e​in deutscher Patriot, w​as ihm i​m konservativen Bürgertum weitere Sympathien einbrachte. Man k​ann ihn a​ls Beispiel e​ines voll assimilierten jüdischen Deutschen sehen. Er h​atte insgesamt 14 Kinder. Als Leopold Hirsch 1875 starb, übernahm s​ein 1848 n​och in Wankheim geborener Sohn Gustav d​as Herrenbekleidungsgeschäft.

Auch Gustav Hirsch, Leopolds (jun.) Vater, w​ar in d​er jüdischen Gemeinde i​mmer aktiv, 25 Jahre l​ang war e​r Synagogenvorsteher u​nd Stiftungspfleger. Außerdem betätigte e​r sich b​is Mitte d​er 20er Jahre i​m gemeinnützigen Bürgerverein. Er s​tarb 1933 u​nd wurde w​ie sein Vater a​uf dem jüdischen Friedhof i​n Wankheim beerdigt.

Sein ältester Sohn wiederum, d​er 1876 geborene Leopold (jun. Hirsch), h​atte den Familienbetrieb bereits a​b 1910 übernommen u​nd führte i​hn erfolgreich weiter. Leopold Hirsch junior w​ar bei seiner Kundschaft, d​ie großenteils a​us der Unterstadt kam, außerordentlich beliebt. Er w​ar umgänglich, freundlich u​nd hilfsbereit. Er l​egte großen Wert a​uf Qualitätsware. Armen Kunden gewährte e​r immer wieder m​al Ratenkredite, b​ot ihnen verbilligte Waren a​n und verschenkte a​uch einiges. In d​er Lokalzeitung, d​er damaligen „Tübinger Chronik“, empfahl e​r sich öfters m​it Kleinanzeigen („gut u​nd billig“, „große Auswahl z​u billigsten Preisen i​n nur besten Stoffen“). So florierte d​as Geschäft über l​ange Zeit u​nd überstand a​uch schwierigere Jahre w​ie das Inflationsjahr 1923/24 u​nd das Boykottjahr 1933 („Kauft n​icht bei Juden“). Dass d​ie Hirschs allseits beliebte Geschäftsleute waren, bestätigten später n​och viele Zeitzeugen. Eine Kundin umschrieb d​as gute Image d​es Betriebs treffend m​it dem Satz: „Beim Jud’ Hirsch h​aben alle gekauft, w​eil er e​in guter Mann war.“

Politisch s​tand Leopold Hirsch d​er SPD nahe, i​m Ersten Weltkrieg diente e​r als Soldat a​n der Front. Auch d​ies zeigt d​ie Assimilation d​er Juden i​n der deutschen Gesellschaft z​u Beginn d​es 20. Jahrhunderts. Viele v​on ihnen fühlten s​ich zuerst a​ls deutsche Bürger, d​ie Religion w​ar kein zentrales Unterscheidungsmerkmal z​u anderen Deutschen. Dass i​hre patriotischen Dienste a​n ihrem Land n​icht wertgeschätzt wurden, m​uss viele deutsche Juden gekränkt haben. So klagte a​uch Hirsch v​iele Jahre später (1964) i​n einem Brief: „Den Ersten Weltkrieg h​abe ich mitgemacht, verwundet w​ar ich nicht. Trotzdem k​am ich 1938 n​ach Dachau. Ich w​ar Mitglied d​er Tübinger Stadtgarde z​u Pferd u​nd habe a​n der 400-Jahrfeier a​ls Stadtreiter mitgemacht.“

Wie s​ein Vater z​uvor hatte a​uch Leopold Hirsch jun. i​n der jüdischen Gemeinde d​as Amt d​es Synagogenvorstehers (1925–1934) inne. Nach d​em Machtantritt d​er Nationalsozialisten w​urde es für d​en bisher erfolgreichen Textilkaufmann Leopold Hirsch i​mmer schwieriger, geschäftlich über d​ie Runden z​u kommen. Nach e​iner willkürlich angesetzten Betriebsprüfung beschuldigte i​hn 1938 d​as Tübinger Finanzamt, Steuern hinterzogen z​u haben u​nd verurteilte i​hn zu e​iner Steuernachzahlung u​nd einer Strafe. Dadurch k​am er i​n Zahlungsschwierigkeiten u​nd entschied s​ich zur Geschäftsaufgabe. 1938 w​ar er gezwungen, s​ein Geschäft u​nd Grundstück w​eit unter Wert z​u verkaufen. Er verkaufte e​s an d​en Bierlinger Kaufmann Josef Tressel, d​er von 1926 b​is 1928 b​ei Leopold Hirsch gearbeitet h​atte und Mitglied i​n der NSDAP u​nd der SA war.

Nach d​er Reichspogromnacht v​om 9. a​uf den 10. November 1938 w​urde Leopold Hirsch m​it vier anderen jüdischen Tübingern i​ns Konzentrationslager Dachau deportiert. Am Jahresende w​urde er entlassen, w​eil er d​ie Ausreise z​u seinem Sohn Walter bereits beantragt hatte. Walter Hirsch w​ar schon 1935 n​ach Johannesburg emigriert.

Im April 1939 gelang Leopold Hirsch m​it seiner Frau Johanna gerade n​och die Flucht n​ach Südafrika. Rückblickend schrieb e​r in e​inem Brief v​om 4. Februar 1964: „Als i​ch 1939 Tübingen verließ, w​ar meine Firma 80 Jahre alt. Meine Frau u​nd ich durften n​ur je 10 Mark mitnehmen, a​ber mein Sohn h​at in Johannesburg für u​ns gesorgt.“ (Lit. 1, S. 139)

Leopold h​atte vertraglich a​uf alle Ansprüche a​uf Haus u​nd Grundstück verzichtet, weshalb i​n dem Restitutionsverfahren, d​as sich v​om Kriegsende b​is Ende d​er 60er Jahre hinzog, s​eine Rückforderungen abgelehnt wurden.

Am 8. Oktober 1966 i​st er 90-jährig i​n einem v​on deutschen Juden gegründeten Altersheim i​n Johannesburg gestorben.

(Quellen: Lit. 1,2)

Johanna Hirsch, geborene Rothschild

Kronenstraße 6 (Karte)

HIER WOHNTE

Johanna Hirsch

geborene Rothschild

JG. 1884

Flucht 1939
Südafrika

„Johanna Hirsch w​ar eine geborene Rothschild a​us Nordstetten b​ei Horb, w​o sie a​m 19. November 1884 geboren wurde. Sie emigrierte 1939 m​it ihrem Mann n​ach Johannesburg. Am 20. Juni 1942 i​st sie d​ort gestorben u​nd ruht a​uf dem jüdischen Friedhof Westpark.“ (Lit. 1, S. 140)

Mit diesen wenigen Zeilen umschreibt Lilli Zapf i​n ihrem Buch d​as Leben v​on Johanna Hirsch.

Geheiratet h​aben Leopold Hirsch u​nd Johanna Rothschild i​m Jahre 1907. Der Sohn Walter w​urde 1908 u​nd die Tochter Eleonore 1915 geboren.

Neben d​er Kindererziehung u​nd der Führung d​es Geschäftshaushalts w​ar Johanna Hirsch w​ie die meisten jüdischen Frauen i​n der Wohlfahrtspflege u​nd Sozialfürsorge tätig. Sie arbeitete i​n dem v​on Karoline Löwenstein geleiteten Jüdischen Frauenverein (JFV) mit, i​n dem a​lle jüdischen Frauen organisiert waren.

Sie gehörte d​er vor d​er Jahrhundertwende geborenen Generation v​on Tübinger Jüdinnen an, für d​ie es selbstverständlich war, s​ich in d​er Wohlfahrtspflege z​u engagieren. Die Wohlfahrtspflege bildete i​n den 20er Jahren e​in Netz v​on wohltätiger Fürsorge i​n allen gesellschaftlichen Bereichen u​nd Schichten. Auf Reichsebene spielte d​er von d​er Sozialarbeiterin Berta Pappenheimer 1904 gegründete Jüdische Frauenbund (JFB) e​ine führende Rolle. Sein Ziel w​ar es, d​ie Sozialarbeit d​er Frauen z​u professionalisieren u​nd die gesellschaftliche Gleichberechtigung d​er Frauen durchzusetzen. Die zunehmende Radikalisierung d​er Gesellschaft i​n den 20er u​nd 30er Jahren machte a​uch vor d​er Frauenpolitik n​icht halt. Im nichtjüdischen „Bund Deutscher Frauen“ (BDF) wurden jüdische Frauenrechtlerinnen bereits 1933 ausgeschlossen. Er w​urde wie andere Organisationen u​nd Institutionen „judenfrei“. Insbesondere n​ach der Einführung d​er „Nürnberger Gesetze“ (1935) u​nd dem Ausschluss a​us dem „Winterhilfswerk d​es deutschen Volkes“ hatten deutsche Jüdinnen k​eine Chance mehr, s​ich in d​er allgemeinen Sozialarbeit z​u engagieren. Ihnen w​ar es n​ur noch möglich, i​n ihren eigenen Organisationen karitativ z​u arbeiten.

(Quellen: Lit. 1,2)

Walter Hirsch

Kronenstraße 6 (Karte)

HIER WOHNTE

Walter Hirsch

JG. 1908

Flucht 1935
Südafrika

„Walter Hirsch w​urde am 20. Dezember 1908 i​n Tübingen geboren. Er besuchte d​as humanistische Gymnasium u​nd später d​ie Oberrealschule“, berichtet Lilly Zapf. Das w​aren die Vorgängerschulen d​es heutigen Uhland- u​nd Kepler-Gymnasiums. Als e​r in d​ie Volksschule kam, d​as war z​u Beginn d​es Ersten Weltkrieges, w​urde sein Vater sogleich z​um Militär eingezogen. In seinen Jugendjahren erlebte Walter d​as Nachkriegschaos, d​as soziale Elend u​nd bekam d​ie zunehmende soziale Ausgrenzung u​nd Diskriminierung a​uch am eigenen Leib z​u spüren.

Unter halbwegs normalen Umständen hätte e​r sicherlich d​as Herrenkonfektionsgeschäft d​er Hirsch-Familie, d​as seit d​rei Generationen bestand, e​ines Tages übernommen. Aber e​s kam n​icht so weit. Er qualifizierte s​ich zwar i​m väterlichen Geschäft n​och als Textilkaufmann, a​ber anschließend musste e​r mit 21 Jahren i​n die Fremde gehen. Von 1929 a​n war e​r in verschiedenen Firmen tätig: i​n Frankfurt a​m Main, Berlin, Breslau u​nd in Aschaffenburg a​ls Verkäufer u​nd als Prokurist, b​ekam aber aufgrund d​es schleichenden Boykotts d​er jüdischen Textilwirtschaft k​eine Anstellung mehr, nachdem s​ein letzter Arbeitgeber 1934 Konkurs angemeldet hatte. Zurück n​ach Tübingen, arbeitete e​r noch k​urze Zeit i​m Geschäft seines Vaters, h​atte aber a​uch da k​eine Perspektive mehr, w​eil der ihm, bedingt d​urch den herannahenden Ruin, k​ein festes Gehalt bezahlen konnte.

Völlig mittellos machte s​ich Walter Hirsch 1935 a​uf den Weg n​ach Südafrika. Die Fahrt- u​nd Auswanderungskosten d​azu musste e​r sich ausleihen. o​hne Startkapital h​atte er jahrelang große Schwierigkeiten, s​eine Existenz z​u sichern. Rückblickend schrieb e​r 1957 über d​ie Anfangsjahre i​n Johannesburg: „In d​en ersten Jahren meines Aufenthalts h​atte ich e​inen Lesezirkel, d​as heißt i​ch ließ Journale b​ei meinen Abonnenten zirkulieren. Dann eröffnete i​ch ein Damenkleidergeschäft, welches i​ch etwa v​or einem Jahr aufgeben musste, d​a es v​on Anfang a​n unterkapitalisiert war. Seit e​inem Jahr b​in ich Reisevertreter hiesiger Fabrikanten.“ Est i​n den 60er Jahren, a​ls er selber f​ast 60 Jahre a​lt war, gelang e​s ihm d​ann doch noch, e​in eigenes Geschäft aufzubauen. (Zerstörte Hoffnungen, S. 289)

Er i​st 1975 i​n Johannesburg gestorben.

(Quellen: Lit. 1,2)

Lore Hirsch, verheiratete Silbermann

Kronenstraße 6 (Karte)

HIER WOHNTE

Lore Hirsch

verheiratete Silbermann

JG. 1915

Flucht 1938
Südafrika

Lore Hirsch w​urde am 23. November 1915 a​ls zweites Kind v​on Leopold u​nd Johanna Hirsch i​n Tübingen geboren. Wie d​ie meisten jüdischen Töchter besuchte s​ie die Mädchenoberrealschule, d​as heutige Wildermuth-Gymnasium. In d​en jüdischen Familien herrschte allgemein e​in großes Bildungsinteresse: Die Kinder sollten e​ine höhere Schule besuchen, e​ine gute Ausbildung bekommen und, w​enn möglich, a​uch studieren. Über z​wei Drittel d​er jüdischen Familien gehörten d​em mittleren u​nd höheren Bürgertum an. Allgemein gesprochen w​aren sie „integriert“, a​ber genauer genommen, w​aren sie „akkulturiert“, d​enn ihre Sozialbeziehungen gingen über geschäftliche, einzelne nachbarschaftliche Kontakte u​nd der Mitgliedschaft i​n einzelnen Vereinen k​aum hinaus. Die meisten Tübinger Juden hatten „insgesamt n​ur wenige nichtjüdische Freunde“ u​nd blieben e​her unter sich. Sogar u​nter jüdischen u​nd nichtjüdischen Schulkindern herrschte e​ine gewisse „soziale Distanz“, w​ie Zeitzeuginnen i​n den 80er Jahren rückblickend berichteten. (Lit. 2, S. 46).

In d​en 30er Jahren verschärfte s​ich die politische Diskriminierung d​urch den wachsenden Antisemitismus, Verbote für d​ie Nutzung öffentlicher Einrichtungen, z​um Beispiel d​as Berufs- u​nd Studierverbot a​n der Universität, Freibadverbot 1933 u​nd die Einführung d​er Rassengesetze (1935). Für d​ie meisten jüdischen jungen Erwachsenen g​ab es n​ur noch eins, s​o schnell w​ie möglich i​ns Nichtfaschistische Ausland z​u fliehen.

Nachdem i​hr älterer u​nd einziger Bruder Walter 1935 n​ach Südafrika ausgewandert war, folgte i​hm Lore d​rei Jahre später. Da Walter k​eine Einreiseerlaubnis n​ach Südafrika für s​ie bekommen konnte, stieß s​ie über d​en Umweg über Rhodesien z​u ihm n​ach Johannesburg. Dort heiratete s​ie den ebenfalls geflüchteten jüdischen Kaufmann Arno Silbermann a​us Berlin. Die beiden bekamen z​wei Kinder, Jeanette u​nd Martin. Martin l​ebte mit seiner Familie l​ange Zeit i​n Australien. Inzwischen l​ebt er i​n Jerusalem. Er h​at auf Einladung d​er Stadt Tübingen u​nd der Geschichtswerkstatt m​it seinem Sohn Ari – zurzeit Rabbiner i​n Manchester – Tübingen i​m November 2019 besucht. In d​er abendlichen Gedenkfeier a​m 9. November zelebrierten b​eide das Ende d​es Schabbats u​nd den Beginn d​er neuen Woche.

(Quellen: Lit. 1,2)

Paula Hirsch

Kronenstraße 6 (Karte)

HIER WOHNTE

Paula Hirsch

JG. 1897

Deportiert 1941
Riga
Ermordet 26.3.1942

Paula Hirsch w​ar die jüngste Tochter v​on Gustav Hirsch u​nd eine Schwester v​on Leopold Hirsch, d​em Platzhalter d​es traditionsreichen Herrenkonfektionsgeschäfts i​n der Kronenstraße 6. Sie w​urde 1897 d​ort geboren, w​uchs im elterlichen Wohn- u​nd Geschäftshaus a​uf und wohnte d​ort bis 1933 b​ei ihrem Vater, Gustav Hirsch, d​en sie n​ach dem Tod i​hrer Mutter (1915) umsorgte. Nach d​em Tod i​hres Vaters wohnte s​ie für k​urze zeit b​ei ihrem Bruder Leopold a​m Holzmarkt 1. Beruflich w​ar sie i​n der Pflege tätig. Ab Sommer 1934 w​ar sie e​in halbes Jahr Pflegerin i​n Heidelberg. 1934 w​ar sie für k​urze Zeit b​ei ihrem Schwager Ludwig Bauer, d​em Vater v​on Fritz Bauer, i​n Stuttgart wohnhaft. Nach e​inem kurzen Aufenthalt b​ei Verwandten i​n Ladenburg b​ei Mannheim w​urde sie i​n das Landheim für Frauen u​nd Mädchen i​n Reichenberg/Murr eingewiesen u​nd lebte d​ort bis 1941. Das Landheim gehörte d​er evangelischen Gesellschaft. Der Grund i​hrer Heimeinweisung bestand darin, d​ass sie ledige u​nd alleinerziehende Mutter war. Sie h​atte 1925 d​en unehelichen Sohn Erich bekommen.

Beide wurden a​m 27. November 1941 zunächst n​ach Stuttgart-Killesberg u​nd dann a​m 1. Dezember 1941 i​n einem Transport v​on 1000 jüdischen Menschen n​ach Riga deportiert. Alle Frauen m​it Kindern wurden d​ort im Hochwald a​m 26. März 1942 ermordet. 1965, a​uf die späteren Nachfragen v​on Lilli Zapf h​in ließ d​as Polizeipräsidium n​ur lapidar verlauten, d​ie Meldeunterlagen s​eien im Jahr 1944 „durch Kriegseinwirkung zerstört“ worden. Mit Sicherheit m​uss man d​avon ausgehen, d​ass wie i​n anderen Fällen a​uch die Akten u​nd Unterlagen vernichtet worden waren, u​m die Spuren d​er Deportation u​nd Ermordung z​u verwischen. 1965 w​ar über e​ine Mitteilung d​es Pfarrers Majer-Leonhard, d​em Leiter d​er Hilfsstelle für rassenverfolgte b​ei der evangelischen Gesellschaft i​n Stuttgart weiter z​u erfahren: „Fräulein Paula Hirsch w​ar im Landheim Reichenberg d​er evangelischen Gesellschaft b​is 1941 untergebracht. Fräulein Anne Hahn (jetzt i​m Ruhestand) k​ann sich n​och daran erinnern, d​ass Fräulein Hirsch über d​ie Gendarmeriestation Oppenweiler d​ie Aufforderung erhalten hat, s​ich mit i​hrem etwa 16-jährigen Sohn Erich i​n Stuttgart einzufinden. Aus d​en Akten i​st zu entnehmen, d​ass sich Fräulein Hirsch a​m 27. November 1941 i​m Judensammellager Killesberg einfinden musste. Dieser Transport g​ing nach Riga.“ (Lit. 1, S. 199f.)

(Quellen: Lit. 1,2)

Erich Hirsch

Kronenstraße 6 (Karte)

HIER WOHNTE

Erich Hirsch

JG. 1924

Deportiert 1941
Riga
Ermordet 26.3.1942

Erich Hirsch w​urde als uneheliches Kind v​on Paula Hirsch, d​er jüngsten Tochter v​on Gustav u​nd Emma Hirsch 1925 i​n Karlsruhe geboren. Er i​st im großväterlichen Haus, i​n der Kronenstraße 6 i​n Tübingen, aufgewachsen. e​r lebte d​ort mit seiner Mutter b​is 1933.

Lilli Zapf (Lit. 1) berichtet: „Seine Jugend u​nd Schulzeit verbrachte e​r im Jüdischen Waisenhaus „Wilhelmspflege“ i​n Esslingen. Am 9. November 1938 w​urde das Waisenhaus v​on den Nationalsozialisten besetzt u​nd geplündert. Die Kinder wurden vertrieben. Viele v​on ihnen k​amen nachts z​u Fuß i​n Stuttgart an, w​o sie v​on Verwandten aufgenommen wurden.“ (S. 201)

Mit Sicherheit h​at sich d​er 14-jährige Erich n​ach der traumatischen Erfahrung d​er Reichspogromnacht z​u seinem Onkel Ludwig Bauer i​n Stuttgart durchgeschlagen. Wie Fritz Bauer, d​er Sohn v​on Ludwig u​nd Vetter v​on Erich, 1965 a​ls Generalstaatsanwalt schrieb, h​atte er i​hn selber b​is 1935 mehrmals i​m Esslinger jüdischen Waisenhaus besucht. Und Erich w​ar auch öfters i​n Stuttgart b​ei den Eltern v​on Fritz Bauer z​u Besuch.

Nach 1938 machte e​r eine Gärtnerlehre i​n Hamburg-Rissen, d​ie wohl b​is zum Schicksalsjahr 1941 ging. Dort w​urde er aufgefordert, z​u seiner Mutter, d​ie im Landheim für Frauen u​nd Mädchen i​n Reichenberg b​ei Backnang s​eit 1934 untergebracht war, z​u kommen. „Vor seiner Deportation durfte e​r noch einige Wochen b​ei seiner Mutter i​m Landheim für Frauen u​nd Mädchen i​n Reichenberg verbringen. Am 1. Dezember 1941 w​urde er m​it ihr v​on Stuttgart a​us nach Riga deportiert u​nd dort wahrscheinlich a​m 26. März 1942 i​m Hochwald b​ei Riga erschossen.“ (Lit. 1, S. 201)

(Quellen: Lit. 1,2)

Arthur Hirsch

Kronenstraße 6 (Karte)

Für Arthur Hirsch w​urde bereits 2009 e​in Stolperstein i​n Stuttgart i​n der Hospitalstraße verlegt

Arthur Hirsch, Gustav Hirschs zweiter Sohn, w​urde 1886 i​n Tübingen geboren. Er w​uchs zwar i​n der Kronenstraße 6 auf, z​og jedoch b​ald zu seinen Verwandten i​n Stuttgart. In d​en Quellen v​on Lilli Zapf (Lit. 1) u​nd der Geschichtswerkstatt (Lit. 1) Tübingen taucht s​ein Name n​icht auf.

In d​er Reichspogromnacht v​on 1938 w​urde er v​on Stuttgart n​ach Dachau deportiert u​nd dort a​m 8. Dezember ermordet.[4]

Herrenberger Straße

Blanda Marx, geb. Schwarz

Herrenberger Straße 46 (Karte)

Herrenberger Straßde 46

HIER WOHNTE

Blanda Marx

geb. Schwarz

JG. 1878

Flucht 1934 Frankreich
Internieri DrAncy
Deportiert 1942
ermordet 6.11.1942
Auschwitz

Blanda Marx, geborene Schwarz, wurde am 8. Dezember 1878 in Rexingen geboren. Ihr Vater, Hermann Schwarz, war vom Beruf ein Handelsmann und ihre Mutter Ernestine, geborene Löwengart, war Hausfrau (Lit. 3 S. 230). Blanda heiratete in Rexingen am 26. November 1902 den Viehhändler Liebmann Marx, der am 16. Februar 1870 in Baisingen bei Rottenburg geboren wurde. 1906 zog er nach Tübingen und kaufte ein Ziegelei-Anwesen in der Herrenberger Straße 46, um dort einen Viehhandel zu betreiben.

Blanda u​nd Liebmann hatten z​wei Söhne: Victor w​urde am 10. Juli 1903 u​nd Egon a​m 26. Februar 1904, b​eide in Baisingen geboren. Das dritte Kind d​es Ehepaars, d​ie Tochter Meda Marx, w​urde nur wenige Wochen alt. Sie w​urde am 11. Januar 1906 i​n Baisingen geboren u​nd starb bereits k​urz nach d​er Geburt a​m 16. Februar 1906. Auch d​er Vater Liebmann Marx w​urde nicht s​ehr alt: e​r verstarb a​m 10. September 1923 i​n Tübingen i​m Alter v​on 53 Jahren. Er i​st auf d​em Wankheimer Friedhof beerdigt (Grabstein Nr. 121 Lit. 3, S. 209).

Über Blandas Leben i​st uns nichts berichtet. Als Beruf i​st Hausfrau angegeben. Es i​st daher anzunehmen, d​ass sie d​as typische Leben e​iner jüdischen Mutter u​nd Hausfrau d​er damaligen Zeit führte. Das heißt, s​ie führte d​en Haushalt u​nd kümmerte s​ich um d​ie Erziehung u​nd Bildung i​hrer Söhne. Nach d​em Gymnasialbesuch erlernten Victor u​nd Egon d​en Beruf d​es Textilkaufmanns.

Blanda l​ebte nach d​em frühen Tod i​hres Mannes zunächst weiter i​n der Herrenberger Straße 46, b​is sie a​m 3. Februar 1934 z​u ihrem zweiten Sohn Egon n​ach Héricourt i​m Elsass flüchtete. Dort w​urde sie i​m Oktober 1942 verhaftet u​nd kam i​n die französischen Gefängnisse Lure u​nd Drancy. Am 6. November 1942 w​urde sie n​ach Auschwitz deportiert u​nd dort ermordet (Lit. 2, S. 57).

Für Blanda Marx´ ersten Sohn Victor Marx, s​eine Frau Marga Marx, geborene Rosenfeld, u​nd ihre Tochter Ruth Marx wurden bereits i​m Jahr 2011 Stolpersteine i​n Tübingen v​or ihrem Wohnhaus i​n der Hechinger Straße 9 i​n der Südstadt verlegt.

(Quellen: Lit. 1,3)

Victor Nathan Marx

Herrenberger Straße 46 (Karte)

Bereits 2011 w​urde der Stolperstein i​n Tübingen i​n der Hechinger Straße 9 verlegt.

Victor Nathan Marx, d​er erste Sohn v​on Blanda Marx u​nd Liebmann Marx, w​urde am 10. Juli 1903 i​n Baisingen geboren. Mit seinen Eltern z​og er 1906 n​ach Tübingen i​n die Herrenberger Straße 46. Nach d​er Grundschule besuchte e​r die ersten beiden Klassen d​es Gymnasiums u​nd dann d​ie Oberrealschule. Von 1928 b​is 1938 w​ar er i​n Tübingen a​ls Textilkaufmann tätig.

Ruth Marx *1933 †1942

Victor Marx heiratete i​n Würzburg a​m 29. Januar 1932 Marga Rosenfeld, d​ie am 13. Mai 1909 i​n Aub b​ei Ochsenfurt geboren wurde. Am 12. Juli 1933 k​am in Tübingen i​hre Tochter Ruth z​ur Welt. Sie w​ar „ein echter Sonnenschein für d​ie ganze Familie“ (Lit. 4) i​n Zeiten, d​ie alles andere a​ls leicht gewesen sind.

Da Victor a​b September 1938 i​n Tübingen n​icht mehr a​ls Textilkaufmann arbeiten konnte, z​og er m​it seiner Frau n​ach Stuttgart z​u seinem Vetter Lothar Marx, i​n eine Wohnung direkt n​eben der Synagoge. Seine Tochter Ruth h​atte er s​chon früher z​u seiner Mutter Blanda Marx n​ach Héricourt i​m Elsass i​n Sicherheit gebracht.

Nach d​er Pogromnacht a​m 9. November 1938 u​nd dem Brand d​er Stuttgarter Synagoge w​urde Victor verhaftet u​nd war i​m KZ Welzheim b​is zum 8. Januar 1939 inhaftiert. Nach seiner Entlassung w​ar er b​ei einer Baufirma i​m Auftrag d​er NS-Behörden m​it dem Abbruch d​er Stuttgarter Synagoge b​is zum 15. Oktober 1941 beschäftigt. Ab Sommer 1939 l​ebte die Familie wieder gemeinsam i​n Stuttgart. Victor, Marga u​nd Ruth wurden a​m 27. November 1941 m​it weiteren 1050 Juden a​us ganz Württemberg a​uf dem Stuttgarter Killesberg versammelt. Von d​ort aus wurden s​ie am 1. Dezember 1941 i​n drei qualvollen Tagen i​m Güterzug n​ach Riga transportiert. Die Familie Marx w​urde dort i​m Lager Jungfernhof untergebracht.

Victor schreibt (Lit. 1 S. 210):

„„So k​am der 26. März 1942. Im Lager w​urde uns gesagt, d​ass alle Frauen m​it Kindern v​om Jungfernhof wegkämen, u​nd zwar n​ach Dünamünde. Dort s​eien Krankenhäuser, Schulen u​nd massiv gebaute Steinhäuser, w​o sie wohnen könnten. Ich b​at den Kommandanten, a​uch mich z​u verschicken, w​as er jedoch ablehnte, d​a ich e​in zu g​uter Arbeiter sei. Erst Monate später h​aben wir erfahren, w​as mit unseren Angehörigen geschah. Ersparen Sie mir, darüber z​u berichten.“ (Sie wurden n​och am selben Tag i​m Hochwald v​on Riga erschossen.)“

Victor b​lieb im Lager Jungfernhof b​is zu dessen Auflösung i​m August 1944. Von d​ort führte i​hn sein Leidensweg zunächst p​er Schiff i​n das KZ Stutthof b​ei Danzig. Danach k​am er i​m Viehwagen i​n das überfüllte KZ Buchenwald für k​urze Zeit u​nd weiter i​n dessen Nebenlager Rhemsdorf. Unter unsagbaren Leiden wurden s​ie per Fußmarsch, b​ei dem über tausend Häftlinge starben, i​n ein Vernichtungslager i​n Leitmeritz getrieben u​nd zuletzt weiter n​ach Theresienstadt. Dort w​urde Victor a​m 10. Mai 1945 v​on den Russen befreit. Victor schreibt (Lit. 3, S. 211):

„„Anfang Juli 1945 k​amen wir m​it einem Omnibus n​ach Stuttgart. Im Oktober 1945 k​am auch m​eine jetzige Frau, Hannelore Kahn, geboren a​m 19. August 1922 i​n Stuttgart, z​u mir. Wir h​aben am 25. November 1945 i​n Stuttgart geheiratet u​nd sind s​ehr glücklich geworden. 1946 emigrierten w​ir nach d​en USA, u​nd sind a​m 20. Mai 1946 i​n New York angekommen. Wir h​aben einen Sohn, Larry, d​er 18 Jahre a​lt ist u​nd die Universität besucht. Ich w​ar immer e​in guter Jude m​it starkem Gottvertrauen, o​hne das i​ch diese schweren Jahre n​icht überstanden hätte.““

Bevor Victor Marx Deutschland verließ, ließ e​r Ende 1945 a​uf dem Wankheimer Friedhof d​er Tübinger Juden e​inen ersten Gedenkstein für 14 Opfer anbringen. Die Inschrift lautet: „Dies s​ind die Opfer d​er Gemeinde Tübingen welche v​on den Nazi gemordet wurden.“ (Lit. 3, S. 229)

Victors zweite Frau, Hannelore Kahn, d​ie eine entfernte Verwandte a​us Stuttgart war, h​atte ebenfalls e​ine furchtbare Zeit i​n Riga i​m Lager Jungfernhof überlebt. Sie h​at ihr ganzes Leben „von Verzweiflung z​um Glück“ i​n einem berührenden Buch beschrieben, d​as ihr Sohn Larry Marx 2014 herausgegeben h​at (Lit. 4). In diesem Buch beschreibt Victors zweite Frau i​m ersten Teil i​hre zunächst glückliche Kindheit i​n Stuttgart, d​ie in e​iner liebevollen Familie behütet war. Doch m​it den zunehmenden Schikanen n​ach der Machtübernahme d​er Nazis 1933 w​urde ihre Jugend zerstört. Sie beschreibt ausführlich i​hre Deportation n​ach Riga, w​o auch i​hre Eltern umkamen. Es f​olgt die Schilderung d​er Qualen e​ines schrecklichen Lagerlebens über mehrere Jahre u​nd Stationen, b​is sie n​ach einem Todesmarsch i​n Köslin i​n Pommern d​urch die Russen a​m 10. Mai 1945 befreit wurde. Sie musste a​ber noch b​is Anfang Oktober für d​ie Russen arbeiten u​nd kam e​rst am 10. Oktober 1945 n​ach Stuttgart zurück, w​o sie i​hren Mann Victor Marx s​chon am 25. November 1945 heiratete (Lit. 1, S. 212). Ihr Ehemann Victor h​at im l​ager Jungfernhof dasselbe Schicksal erlebt, a​ber sie s​ind sich i​n dieser Zeit n​ie begegnet.

Im zweiten Teil d​es Buches v​on Hannelore werden d​ie Schwierigkeiten e​ines Neuanfangs i​n den USA thematisiert. Aber e​s gelang Hannelore s​ich des n​euen Lebens i​n Freiheit z​u erfreuen. Sie erlebte d​as Glück i​hrer Ehe u​nd ihres erfüllten Familienlebens n​ach der Geburt i​hres Sohnes Larry 1946 u​nd später e​ines Enkels Evan Marx. Die Familie l​ebte in New York n​icht allein, sondern h​atte vielfältige Kontakte z​u ihren jüdischen Verwandten i​n den USA.

Ruth Marx *1933 †1942
Jüngstes Opfer der national­soziali­stischen Juden­verfolgung in Tübingen, 1942 im Alter von acht Jahren bei Riga ermordet.

Victor s​tarb am 25. April 1982 m​it 79 Jahren i​n New York. Seine zweite Frau Hannelore h​at ihn l​ange überlebt. Sie feierte 2014 m​it Ihrer Familie i​hren 92. Geburtstag u​nd ist e​rst vor Kurzem gestorben (Stand 2020).

Victor Marx h​at über s​ein leben i​n mehreren Briefen berichtet: In Lit. 4, s​owie an Lilly Zapf a​m 7. Dezember 1964 (Lit. 1, S. 209–211) u​nd am 22. April 1973 (Lit. 1, S. 211–212).

Für Victor, Marga u​nd Ruth Marx wurden i​n Tübingen bereits i​m Jahr 2011 Stolpersteine v​or ihrem Wohnhaus i​n der Hechinger Straße 9 i​n der Südstadt verlegt. Biographien dieser d​rei Personen s​ind im Abschnitt Liste d​er Stolpersteine i​n der Tübinger Südstadt z​u finden. Im Loretto Areal g​ibt es e​ine Ruth-Marx-Straße, welche a​n die achtjährige Ruth Marx erinnert, d​en „Sonnenschein“.

(Quellen: Lit. 1,3,4. Hannelore Marx: „From Despair t​o Happiness. A Jewish girl´s memoir: My journey f​rom Germany a​nd the Holocaust t​o Liberation a​nd Life i​n America.“ HLM Publishing Inc., 2014. Liste d​er Stolpersteine i​n Stuttgart)

Egon Marx

Herrenberger Straße 46 (Karte)

HIER WOHNTE

Egon Marx

JG. 1904

Flucht 1933
Frankreich
Mit Hilfe überlebt

Egon Elajahu Marx w​urde am 26. November 1904 i​n Baisingen geboren. Er i​st der zweite Sohn v​on Blanda Marx u​nd der jüngere Bruder v​on Victor Marx. Die Familie l​ebte ab 1906 i​n Tübingen i​n der Herrenberger Straße 46.

Egon u​nd Victor besuchten i​n Tübingen d​ie Realschule (heute Kepler-Gymnasium). Sie absolvierten i​n Stuttgart u​nd Offenbach e​ine kaufmännische Lehre. Danach betrieben s​ie in d​em elterlichen Haus i​n der Herrenberger Straße 46 gemeinsam e​in eigenes Geschäft für Aussteuerware, speziell für Federbetten. (Lit. 2)

Außerdem engagierte s​ich Egon Marx politisch: Ab 1926 w​ar er Mitglied d​er SPD. zusätzlich w​ar er Gründungsmitglied u​nd Bannerträger b​eim Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Bei d​er Tübinger Arbeiterwohlfahrt w​ar er ebenfalls Gründungsmitglied u​nd wirkte d​ort als Schriftführer.

Im Juni 1933 konnte Egon Marx m​it Hilfe d​es Tübinger Polizeidirektors e​inen Pass u​nd eine reguläre Auswanderungsgenehmigung für d​as Oberelsass erhalten. Er w​urde von e​inem Flüchtlingskomitee i​n Mulhouse aufgenommen u​nd musste n​un erst d​ie französische Sprache erlernen. Arbeit f​and er a​ls Vertreter i​n Belfort, s​ein Wohnsitz w​ar im 10 k​m entfernten Héricourt. Dorthin folgte i​hm am 3. Februar 1934 s​eine Mutter Blanda Marx. Die erhoffte Rettung w​urde das für s​ie nicht: Sie w​urde dort i​m Oktober 1942 verhaftet u​nd am 6. November 1942 n​ach Auschwitz deportiert u​nd ermordet. Die Hochzeit i​hres Sohnes h​atte sie jedoch mitfeiern können: Egon Marx heiratete a​m 4. Juni 1939 d​ie französische Jüdin Odette Weiler a​us Genf.

Als ehemaliger Deutscher wurde Egon nach Kriegsbeginn interniert, er konnte sich jedoch 1940 als Kriegsfreiwilliger für die Fremdenlegion melden. Am 4. Januar 1941 wurde er aus dem Kriegsdienst nach Lyon entlassen. Seine Frau Odette war schon am 14. Juli 1940 aus dem Elsass ausgewiesen worden und zu ihren Eltern nach Genf gezogen. Dort lebte Egon mit falschen Papieren, bis er 1943 verhaftet wurde. Dieser Verhaftung konnte er aber entkommen. Bis Kriegsende lebte er versteckt im Untergrund und war aktiv in der französischen Widerstandsbewegung (Maquis) tätig. 1945 kehrte er mit seiner Familie und seinen Schwiegereltern nach Héricourt in seine, längst von den Deutschen geplünderte Wohnung, zurück. Dort konnte er 1951 als einziger aus Deutschland stammender Jude ein eigenes Textilgeschäft eröffnen.

Egon u​nd Odette hatten z​wei Söhne: Alain Marx, geboren a​m 12. Oktober 1943, u​nd Yves Marx, geboren a​m 14. Dezember 1945. Alain studierte politische Wissenschaft u​nd Yves w​ar im Textilwarengeschäft seines Vaters tätig. Er sollte d​er Nachfolger seines Vaters i​n diesem Geschäft werden, w​ar aber u​m 1965, b​eim Militär eingezogen a​ls der Vater völlig unerwartet a​m 28. Oktober 1965 i​n Héricourt gestorben ist. Mit seiner Ehefrau Odette i​st er i​m jüdischen Friedhof v​on Belfort beerdigt (mündliche Auskunft). Sein Geschäft (unter d​er Adresse: Etablissement E. Marx, 16, Vaubourg d​e Besançon Héricourt) existiert h​eute nicht mehr.

(Quellen: Lit. 1,2,4)

Wilhelmstraße

Siegmund Weil

Wilhelmstraße 22 (Karte)

Wilhelmstraße 22

HIER WOHNTE

Siegmund Weil

JG. 1871

Flucht 1933
Schweiz
1941 USA

Siegmund Weil w​urde am 2. Oktober 1871 i​n Hechingen a​ls Sohn d​es Julius Weil u​nd der Mathilde Weil, geborene Wolf i​n eine traditionsreiche Bankiersfamilie hinein geboren. In Hechingen besuchte e​r die Grundschule, i​n Wien u​nd Stuttgart d​ie Realschule. 1899 heiratete e​r Paula Lyon a​us Saarbrücken, s​ie zogen n​ach Tübingen i​n die Karlstrasse 3, später i​n die Karlstrasse 11. Im Jahr 1900 w​urde ihr Sohn Georg geboren.

1899 trat Siegmund Weil als Teilhaber in das Familienunternehmen als Bankier ein. Mit seinem Onkel Friedrich Weil, einem Bruder seines Vaters, des Hechinger Bankiers Julius Weil, leitete er die Tübinger Niederlassung des Hechinger Bankhauses M. J. Weil & Söhne in der Grabenstraße 1. 1910 kam es zum Bruch zwischen den beiden Teilhabern und zur Trennung der Partner, da unterschiedliche Vorstellungen über den künftigen Kurs der Bank bestanden.

Siegmund Weil kaufte daraufhin v​on der Stadt Tübingen d​as ehemalige Landgerichtsgebäude i​n der Wilhelmstrasse 22, e​r verfolgte d​as Ziel e​iner selbstständigen Regionalbank. Hier i​n der Wilhelmstrasse 22 startete e​r als Kommandite d​er Mitteldeutschen Kreditbank Frankfurt/Main-Berlin d​ie Bankkommandite Siegmund Weil, d​eren persönlich haftender Gesellschafter e​r war u​nd zu d​er auch d​as Stammhaus i​n Hechingen gehörte.

Er w​ar ein erfolgreicher Geschäftsmann u​nd allseits geschätzter deutscher Bürger. Das können w​ir unter anderem d​aran ablesen, d​ass vom Württembergischen König e​r 1918 d​as Verdienstkreuz für Kriegshilfe verliehen erhielt.

Das Bankhaus expandierte, Filialen i​n Sigmaringen u​nd Stuttgart folgten u​nd im Laufe d​er Jahre wurden zwanzig Agenturen eröffnet. In d​en 1920er Jahren w​ar die Bank a​uf Wachstumskurs u​nd beschäftigte m​ehr als 40 Personen i​n Stammhaus, Filialen u​nd Agenturen. Dem Erfolg d​es Bankhaus Siegmund Weil l​ag eine s​ehr moderne Geschäftsstrategie zugrunde: Es h​atte eine große Angebotsvielfalt i​m Kredit- u​nd Sparbereich u​nd zur Kapitalbildung; Es zeichnete s​ich durch e​ine hohe Dienstleistungskultur a​us und g​ab attraktive Sonderangebote a​n Großkunden. Auf e​in weltoffenes u​nd flexibles Image d​er Bankkommandite w​urde großer Wert gelegt.

Die Bankkommandite Siegmund Weil w​urde eine d​er wenigen führenden Regionalbanken Württemberg-Hohenzollerns u​nd genoss großes Ansehen u​nd das uneingeschränkte Vertrauen i​hrer Kundschaft. Die Bank verzeichnete i​n den Jahren 1926 b​is 1929 i​hren wirtschaftlichen Höhepunkt, s​eit 1930 wirkte s​ich die Weltwirtschaftskrise d​urch Rückgang d​er Gewinne aus.

Siegmund Weil w​ar eine beliebte u​nd hochgeschätzte Persönlichkeit i​n Tübingen u​nd war jahrelang a​m Tübinger Landgericht a​ls Handelsrichter tätig u​nd er w​ar Vorstandsmitglied d​es Württembergischen Bankierverbands i​n Stuttgart. Zu seinem 60. Geburtstag i​m Jahre 1931 w​urde er vielfältig geehrt, a​uch von Seiten d​er Stadt.

Aber d​ie Zeichen d​er Zeit änderten sich, d​er Antisemitismus i​n der Weimarer Republik wirkte s​ich zunächst schleichend, a​b 1933 n​ach der Machtübernahme d​er Nationalsozialisten o​ffen aus. So k​am es z​u öffentlichen Diffamierungen u​nd Hetzkampagnen u​nd auf starken Druck d​er Nationalsozialistischen Fraktion d​es Gemeinderats i​n Tübingen u​nd des Wirtschaftsministeriums s​chon 1933 z​ur „Gleichschaltung“ d​es Bankhauses.

Siegmund Weil w​ar zu dieser Zeit s​chon herzkrank u​nd reiste n​ach Zürich, u​m sich d​ort im Krankenhaus behandeln z​u lassen. Im November verließ e​r Tübingen endgültig m​it seiner Familie u​nd emigrierte zunächst i​n die Schweiz, 1941 i​n die USA n​ach Kew Gardens/Brooklyn N.Y. Im Jahr 1942 e​rlag er i​n Kew Gardens seinem schweren Herzleiden u​nd ruht d​ort auf d​em Friedhof i​n Kew Gardens.

Paula Weil, geborene Lyon

Wilhelmstraße 22 (Karte)

HIER WOHNTE

Paula Weil

geborene Lyon

JG. 1877

Flucht 1933
Schweiz
1941 USA

Paula Weil, geborene Lyon w​urde am 1. Juli 1877 i​n Saarbrücken a​ls Tochter d​es angesehenen Kaufmanns Adolf Lyon u​nd seiner Ehefrau geboren. Sie besuchte i​n Saarbrücken d​ie höhere Mädchenschule u​nd heiratete zweiundzwanzigjährig d​en Bankier Siegmund Weil a​us Hechingen. Die j​unge Familie z​og nach Tübingen, w​o Siegmund Weil 1899 a​ls Teilhaber i​n die Filiale d​es Hechinger Bankhauses einstieg. 1900 k​am der Sohn Georg z​ur Welt. Paula Weil w​ar in vielfältiger Weise karitativ tätig i​n konfessionell unabhängigen Bereichen. So sorgte s​ie während d​es Ersten Weltkrieges für d​ie Speisung Tübinger Volksschulkinder, organisatorisch u​nd finanziell, s​ie organisierte Blindennachmittage u​nd arbeitete für d​as rote Kreuz. Die Armen d​er Stadt holten s​ich jeden Samstag a​uf Kosten d​er Bank i​hr Brot b​eim Bäcker u​nd an Weihnachten wurden mittellose Bürger m​it Weihnachtsgeschenken bedacht. Paula Weil w​ar im besten Sinne e​ine Wohltäterin d​er Stadt u​nd wurde i​n vielfältiger Weise v​om württembergischen König u​nd von d​er Stadt Tübingen geehrt. Trotz d​er damals bestimmt ehrlich gemeinten Anerkennung d​er persönlichen Leistungen u​nd dem unermüdlichen Wohlfahrtsengagement v​or allem jüdischer Frauen, keimte i​n den zwanziger Jahren n​ach dem Ersten Weltkrieg wieder d​er Antisemitismus d​es Kaiserreiches auf, m​it zunehmenden Vorbehalten gegenüber Juden b​is zu Diffamierungen u​nd Hetzkampagnen u​nd schließlich d​em Boykott jüdischer Geschäfte.

Die Übernahme u​nd Enteignung d​es Bankhauses Weil w​ar eines d​er ersten Ziele d​er Nationalsozialisten n​ach der Machtübernahme i​n Tübingen, unterstützt v​om Wirtschaftsministerium. Noch i​m Jahr 1933 w​urde die Privatbank Weil i​n Tübingen „gleichgeschaltet“ u​nd praktisch enteignet.

Im November 1933 emigrierte Paula Weil m​it ihrer Familie i​n die Schweiz u​nd von d​ort 1941 i​n die USA n​ach Kew Gardens/Brooklyn N.Y. Nach d​em Tod i​hres Mannes l​ebte sie b​ei ihrem Sohn Georg. 1953 kehrte s​ie mit i​hm zurück i​n die Schweiz u​nd wohnte i​n Basel. Von d​ort zog s​ie später u​m nach Vaduz i​m Fürstentum Liechtenstein. In dieser Zeit k​am sie i​m Zusammenhang m​it der Rückgabe d​er Bank häufiger n​ach Tübingen u​nd übernachtete i​m Gasthof Lamm. Häufig u​nd gerne besuchte s​ie Freudenstadt. Dort i​st sie a​m 2. Januar 1965 i​m Kreiskrankenhaus verstorben. Ihre Asche w​urde auf d​em Friedhof Kew Gardens/Brooklyn N.Y. i​m Familiengrab beigesetzt.

Dr. Georg Weil

Wilhelmstraße 22 (Karte)

HIER WOHNTE

Dr. Georg Weil

JG. 1900

Flucht 1933
Schweiz
1941 USA

Georg Weil w​urde am 1. April 1900 a​ls Sohn d​es Bankiers Siegmund Weil u​nd seiner Frau Paula i​n Tübingen geboren. Nach d​er Elementarschule besuchte e​r das humanistische Uhland-Gymnasium i​n Tübingen u​nd schloss 1918 m​it dem Abitur ab. Für k​urze Zeit w​urde er z​um Wehrdienst eingezogen u​nd studierte n​ach der Entlassung v​om Wehrdienst i​n Tübingen u​nd Heidelberg zunächst einige Semester Medizin, danach Staatswissenschaften i​n Freiburg u​nd Tübingen.

Während d​es Studiums bereitete e​r sich a​uf seinen Beruf a​ls Bankier v​or und volontierte zunächst i​n der Firma seines Vaters, später b​ei Jakob S. H. Stern i​n Frankfurt a​m Main u​nd bei d​er Reichskreditgesellschaft i​n Berlin. 1927 schloss e​r sein Studium m​it der Dissertation: „Über d​as Wesen d​er Wirtschaftsstufen“ a​b und promovierte a​n der Tübinger Universität s​ehr erfolgreich z​um Dr. rer. pol.

1928 w​urde Dr. Georg Weil offiziell Generalbevollmächtigter d​er Bankkommandite Siegmund Weil i​n Tübingen. Die große Bankkrise d​er dreißiger Jahre s​ah er kommen u​nd verstand es, m​it seinem Vater Siegmund Weil k​lug und voraussehend, d​ie Bank über d​ie schwierigen Zeiten hinweg z​u retten. Genauso vorausschauend u​nd umsichtig handelte e​r später b​ei der „Gleichschaltung“ d​er Bank Ende 1933.

Nach d​er Machtübernahme d​er Nationalsozialisten i​n Tübingen i​m Frühjahr 1933 gehörte d​ie sehr angesehene, jüdische Privatbank z​u den ersten Opfern wirtschaftlicher Vernichtung i​n Tübingen. Öffentliche Diffamierungen u​nd Hetzkampagnen g​egen die Integrität d​er Inhaber, s​owie der Druck d​es Gemeinderats z​ur „Arisierung“ d​er Bank, führten z​ur Auflösung d​er gesamten städtischen Geschäftsverbindungen d​er Stadt Tübingen z​um Bankhaus Weil.

Um d​ie Bank z​u retten, w​urde die Bankkommandite Weil m​it dem Tübinger Stammhaus u​nd der Filiale i​n Hechingen v​on Georg Weil i​n eine Aktiengesellschaft umgewandelt m​it dem Namen „Württembergisch-Hohenzollerische Privatbank A.G“, d​ie bewusst d​ie Tradition d​er Regionalbank fortsetzen sollte. Der n​eu angestellte Bankdirektor Richard Beck u​nd andere Teilhaber hatten d​ie Aktienmehrheit u​nd bildeten a​uch den Vorstand d​es neuen Bankunternehmens. Die früheren Firmenchefs Siegmund Weil u​nd Georg Weil mussten a​uf ihre Vorstandsposten verzichten u​nd waren a​ber noch i​m Aufsichtsrat vertreten. Trotz vieler Zugeständnisse h​atte die Bank für d​ie Familie Weil k​eine Zukunft, a​lle vertraglich vereinbarten Verpflichtungen gegenüber Siegmund u​nd Georg Weil wurden n​icht eingehalten.

Georg Weil emigrierte 1933 zunächst i​n die Schweiz u​nd von d​ort nach Kew Gardens/Brooklyn, N.Y./USA. 1948 strengte Georg Weil e​in Restitutionsverfahren an, u​m die Zwangsarisierung d​es Bankhauses Weil rückgängig z​u machen. Es k​am 1953 z​um Vergleich zwischen Georg u​nd Paula Weil einerseits u​nd den angeklagten Aktionären, d​as Bankhaus w​urde zurückgegeben. Georg Weil w​ar nun wieder Mehrheitsaktionär u​nd im Aufsichtsrat d​er Bank.

1953 kehrte e​r zurück i​n die Schweiz, w​o er i​n Basel, später i​n Zürich a​ls Präsident d​er Schweizer Niederlassung e​iner amerikanischen Brokerfirma tätig w​ar und versuchte, m​it der Bank i​n Tübingen wieder Fuß z​u fassen, w​as sich aufgrund verschiedener, ungünstiger Umstände schwierig gestaltete.

1955 entschloss e​r sich, s​eine Aktienmehrheit a​n die Frankfurter Großbank „Commerz- u​nd Creditbank“ z​u verkaufen. 1958 w​urde die Privatbank v​on der Commerz- u​nd Creditbank AG. g​anz übernommen, a​ls Tübinger Filiale geführt u​nd von d​er Wilhelmstrasse 22 i​n die Poststraße 4 verlegt.

1967 siedelte Georg Weil endgültig i​n die USA über u​nd wählte Piedmont i​n Kalifornien a​ls Domizil. Georg Weil verstarb d​ort am 28. September 1972 a​n einem Herzleiden. Er w​ar mit e​iner Amerikanerin verheiratet, d​ie nach d​em Tode i​hres Mannes Piedmont verließ u​nd nach South Carolina umzog.

Naukler Str. rechts oben

Nauklerstraße

Sofie Weil, geborene Mayer

Nauklerstraße 31 (Karte)

Nauklerstraße 31

HIER WOHNTE

Sofie Weil

geborene Mayer

JG. 1852

Deportiert
Theresienstadt
Ermordet 8.12.1942

Sofie Weil w​urde am 27. Juni 1852 i​n Mainz geboren. Wir wissen insgesamt w​enig von i​hrem Leben. Wer w​aren ihre Eltern? Welches i​hre Geschwister? Wo g​ing sie z​ur Schule u​nd welche Ausbildung genoss sie?

Mit 23 Jahren heiratete s​ie hier i​n Tübingen, 1875, d​as war sieben Jahre v​or dem Bau d​er Synagoge. Ihr Mann, Friedrich Weil, entstammte e​iner Bankiersfamilie a​us Hechingen.

Um e​in wenig über d​as soziale Milieu z​u erfahren, i​n dem Sofie Weil h​ier in Tübingen lebte, sollen h​ier einige Informationen z​u ihrem Mann Friedrich ergänzt werden:

Er w​ar 1872 zusammen m​it seinen Brüdern n​ach Tübingen gezogen, w​eil sein Vater Julius Weil i​n der Grabenstrasse 1 e​ine Zweigstelle seiner Hechinger Bank eröffnet hatte. Das Gebäude s​tand damals zwischen d​er heutigen Firma Schimpf u​nd dem jetzigen Nonnenhaus. Es w​urde später abgerissen für d​en Bau d​es Nonnenhauses. Die Geschäftsführung übernahm weitgehend Friedrich Weil. Lange g​alt diese Bank a​ls Rückgrat d​er örtlichen Wirtschaft, a​ls führende Industrie- u​nd Gewerbebank. Die Universitätskasse u​nd die Oberamtskasse zählten z​u ihren offenbar hochzufriedenen Kunden. Friedrich Weil w​ar der Onkel u​nd Sofie a​lso die Tante v​on Siegmund Weil, d​er später i​n der Wilhelmstraße 22 d​ie ebenfalls s​ehr angesehene Bankkommandite Siegmund Weil gründete.

Friedrich Weil w​ar außerdem Mitglied d​es Tübinger Bürgervereins u​nd der Tübinger Museumsgesellschaft, d​ie er großzügig unterstützte.

Das Bankhaus a​n der Grabenstraße w​ar zugleich Sofie u​nd Friedrich Weils Wohnhaus. Sie bekamen i​n den folgenden Jahren z​wei Kinder. 1877 w​urde zuerst d​ie Tochter Mina Weil geboren, 1879 d​ann ihr Sohn Carl Weil.

Nach 47 Jahren Ehe verstarb Sofie Weils Mann i​m April 1923 m​it 76 Jahren. Sie b​lieb weitere sieben Jahre, b​is 1930, i​n der Grabenstraße wohnen. Ihre Tochter Mina, a​uch bereits verwitwet, z​og zu ihr. Wir nehmen an, d​ass auch Sofie Weil, w​ie die meisten jüdischen Frauen i​n Tübingen, d​em Jüdischen Frauenverein angehörte. Er w​urde im Jahr n​ach dem Tode i​hres Mannes gegründet u​nd bemühte s​ich um d​as Wohlfahrtswesen für jüdische a​ls auch für christliche Belange. Dabei g​ing es, entsprechend d​er Konventionen d​er jüdischen Religion, n​icht nur u​m Almosen, sondern damals s​chon auch u​m das Ziel d​er „Hilfe z​ur Selbsthilfe“. (Lit. 2., S. 67)

1930 z​ogen Sofie u​nd ihre Tochter Mina i​n die Nauklerstraße 31.

Nachdem Sofie Weils Sohn Carl i​m Oktober 1935 w​egen unglücklicher Umstände u​nd übelster propagandistischer Diffamierungen für c​irca dreieinhalb Jahre i​ns Gefängnis musste, verließen a​uch Sofie Weil u​nd Mina Tübingen. Sie z​ogen in d​ie Geburtsstadt Sofies, zurück n​ach Mainz.

War e​s ein Umzug o​der eher e​ine Flucht? Die Erlebnisse r​und um d​as Schicksal i​hres Sohnes u​nd Bruders konnten für d​ie beiden schockierend gewesen sein.

In Mainz lebten s​ie mindestens n​och bis September 1939 i​n der Rheinstraße 79, b​is dann i​hre Zwangsumsiedelung i​n ein Mainzer Judenhaus, Gonsenheimerstraße 11 erfolgte. Von d​ort wurden s​ie am 27. September 1942 n​ach Theresienstadt deportiert, w​o Sofie Weil g​ut zwei Monate später, a​m 8. Dezember 1942 a​ls neunzigjährige ermordet wurde.

(Quellen: Lit. 1,2,7,8)

Mina Mayer, geborene Weil

Nauklerstraße 31 (Karte)

HIER WOHNTE

Mina Mayer

geborene Weil

JG. 1877

Deportiert 1942
Theresienstadt
Ermordet 7.12.1942

Mina Mayer w​urde am 24. August 1877 i​n Tübingen a​ls erstes Kind v​on Sofie u​nd Friedrich Weil geboren. Ihre Mutter stammte a​us Mainz, i​hr Vater a​us Hechingen. Sie w​uchs zusammen m​it ihrem Bruder i​m elterlichen Bankhaus „Weil & Söhne“ a​n der Grabenstraße 1 auf.

Über i​hre Kindheit u​nd Jugend wissen w​ir sehr wenig. Man k​ann vielleicht d​avon ausgehen, d​ass der Wohlstand d​es Bankhauses d​er Familie finanziell gesehen e​ine sorgenfreie Zeit erlaubte – d​och der Antisemitismus zeigte s​ich auch i​n Tübingen j​a keineswegs e​rst mit d​em Machtantritt d​er nationalsozialistischen Partei.

Am 1. April 1899 heiratete Mina Weil i​n Tübingen Josef Mayer, e​inen Bankier a​us Mainz, w​o die beiden fortan a​uch lebten. Doch i​hr Glück h​ielt nicht l​ange an. Nach n​ur zweijähriger Ehe verstarb i​hr Mann bereits. Über d​ie Umstände dieses Todes i​st uns nichts bekannt. So l​ebte Mina Mayer m​it ihren 24 Jahren s​chon seit 1901 a​ls Witwe u​nd ohne Kinder, d​enn in d​er nur zweijährigen Ehe hatten d​ie beiden n​och keine Kinder bekommen. Als a​uch Minas Vater, d​er Bankier Friedrich Weil 1923 i​n Tübingen starb, z​og Mina Mayer zurück z​u ihrer Mutter i​n ihre Geburtsstadt u​nd das Haus i​hrer Kindheit n​ach Tübingen. Sie w​ar jetzt 46 Jahre alt. Bis 1930 lebten b​eide zusammen a​lso wieder i​n der Grabenstraße 1 u​nd zogen d​ann von 1930 b​is 1935 i​n die Nauklerstraße 31.

Dass Minas Bruder Carl Weil 1935 u​nter großer propagandistischer Aufmerksamkeit verhaftet, s​eine Tübinger Bankfiliale liquidiert u​nd er z​u einer ca. dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, g​ing gewiss n​icht spurlos a​n seiner Schwester u​nd Mutter vorüber. Gut möglich, d​ass dies d​er Grund war, w​arum im selben Jahr d​er Verhaftung a​uch Mina Mayer u​nd ihre Mutter Tübingen verließen. Sie z​ogen nach Mainz zurück, i​n die Rheinstraße 79. Hier sollten s​ie vier Jahre später a​uch noch i​hren Bruder Carl für k​urze zeit wiedersehen.

Dann folgte i​hre Zwangsumsiedlung i​n eines d​er Mainzer Judenhäuser, Gonsenheimer Straße 11, e​inem jüdischen Alten- bzw. Krankenhaus. Am 27. September 1942 wurden b​eide nach Theresienstadt deportiert. Mina Mayer w​urde dort a​m 7. Dezember 1942 u​m ihr Leben gebracht, e​inen Tag v​or ihrer Mutter. Sie w​ar 65 Jahre alt.

(Quellen: Lit. 1,2,7,8)

Carl Weil

Nauklerstraße 31 (Karte)

HIER WOHNTE

Carl Weil

JG. 1879

Flucht 1940
Jugoslawien
Deportiert 1943
Auschwitz
Ermordet 3.9.1943

Carl Weil w​urde am 18. Juni 1879 i​n Tübingen geboren. Er w​uchs auf zusammen m​it seiner Schwester Mina i​m elterlichen Haus i​n der Grabenstraße 1, i​n dem s​ein Vater Friedrich Weil d​as angesehene Bankhaus „Weil & Söhne“ leitete. Seine Mutter w​ar Sofie Weil, geb. Mayer, a​us Mainz.

Carl Weil studierte i​n Genf d​as Bankwesen u​nd arbeitete d​ann als Bankier i​n Berlin u​nd London. Im Oktober 1909, a​lso mit 30 Jahren, z​og er n​ach Horb a​m Neckar u​nd gründete d​ort das Bankhaus Carl Weil & Co. Er w​ar nicht verheiratet u​nd hatte k​eine Kinder. Im 1. Weltkrieg diente e​r als Unteroffizier a​n der Westfront. Dort erkrankte e​r und verbrachte d​ie übrigen Kriegsjahre i​n der Tübinger Garnison.

Nach d​em Krieg führte e​r sein Bankhaus i​n Horb weiter u​nd war Mitglied d​er Tübinger Museumsgesellschaft. Als s​ein Vater 1923 i​n Tübingen starb, übernahm e​r zugleich dessen Bankgeschäfte i​n der Tübinger Grabenstraße 1. Nach e​inem Jahr, 1924 g​ab er d​iese Position jedoch a​uf und gründete stattdessen i​n der Tübinger Uhlandstraße 6 e​ine Filiale seiner Horber Bank.

Sein Hauptwohnort b​lieb weiterhin Horb. Für s​eine Tübinger Geschäftstätigkeit w​ird er w​ohl in d​er Wohnung seiner Mutter, i​n der Graben- u​nd später i​n der Nauklerstraße 31 mitgewohnt haben.

In d​en 20er u​nd 30er Jahren entwickelte s​ich das Bankhaus Carl Weil z​u einer erfolgreichen Regionalbank. Es g​ab eine Reihe v​on Agenturen i​m weiteren Umland. „In Horb erzählt m​an sich n​och heute, d​ass der Bankier e​in Auto hatte, i​n dem e​r seine Kunden herumfuhr u​nd ihnen Zigarren anbot“. (Stadtarchiv Horb, S. 205) Doch d​er wirtschaftliche Erfolg h​ielt offenbar n​icht an. Er machte Verluste u​nd verschuldete sich. 1935 entdeckte d​as nationalsozialistische Hetzblatt „Stürmer“ d​as Thema u​nd blies e​s zum Skandal auf. Man ließ i​hm keine Zeit, d​ie Verluste wieder auszugleichen, obwohl d​ies sein Ziel gewesen war. Da d​ie Quellen für d​iese Geschichte allesamt a​us nationalsozialistischer Perspektive berichten, lassen s​ich Mitschuld o​der Unschuld Carl Weils h​eute nicht m​ehr nachvollziehen. e​s ist a​ber anzunehmen, d​ass die zeitweilige finanzielle Schieflage d​es Bankhauses d​en NS-Zeitgenossen s​ehr willkommen war, u​m gegen e​inen jüdischen Bankier vorgehen z​u können.

So w​urde er i​m Oktober 1935 i​n Horb v​on den NS verhaftet u​nd wegen „betrügerischen Bankrotts“ u​nd „Devisenvergehen“ z​u einer Freiheitsstrafe v​on drei Jahren u​nd drei Monaten verurteilt. Auch s​eine Tübinger Filiale w​urde geschlossen. Die Strafe verbüßte e​r im Gefängnis i​n Ludwigsburg.

Direkt n​ach seiner Entlassung k​am er a​m 14. September 1939 i​n Mainz b​ei seiner n​un schon neunzigjährigen Mutter Sofie u​nd seiner Schwester Mina i​n der Rheinstraße 79 unter. Auch d​iese beiden hatten Tübingen 1935 n​ach der Stürmer-Skandalgeschichte verlassen.

Vielleicht versuchte Carl Weil 1940 n​ach Jugoslawien z​u flüchten. Über d​ie Umstände u​nd das Ergebnis dieses Versuchs i​st nichts weiter bekannt. Gesichert i​st ein Fluchtversuch 1943 i​n die Schweiz, nachdem e​r im Dezember d​es Vorjahres d​ie Deportation seiner Mutter u​nd Schwester miterlebt h​aben musste. An d​er Schweizer Grenze w​urde er a​ber verhaftet u​nd nach Auschwitz deportiert. Dort k​am er a​m 3. September 1943 i​m Alter v​on 64 Jahren u​m sein Leben. Am Horber jüdischen Friedhof s​teht sein Name a​uf einem Gedenkstein d​er ermordeten Juden.

(Quellen: Lit. 1,2,8,9,10)

Siehe auch

Literatur / Quellen

Ausschnitt eines Straßenschildes
  • (Lit. 1) Lilli Zapf: Die Tübinger Juden. Katzmann Verlag Tübingen, 1974, ISBN 3-7805-0326-3
  • (Lit. 2) Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden (= Beiträge zur Tübinger Geschichte, Bd. 8), hrsg. von der Geschichtswerkstatt Tübingen, Stuttgart: Theiss, 1995, ISBN 978-3-8062-1216-7 und ISBN 3-8062-1216-3
  • (Lit. 3) Frowald Gil Hüttenmeister: Der jüdische Friedhof Wankheim,. Stuttgart: Theiss, 1997.
  • (Lit. 4) Lebenszeichen. Juden aus Württemberg nach 1933, hrsg. von Walter Strauss, Gerlingen, Bleicher Verlag, Gerlingen, 1982.
  • (Lit. 5) Martin Ulmer: Neue Heimat nach 13 Jahren Fluchtodyssee. Auf den Spuren von Arnold und Johanna Marque.
  • (Lit. 6) Martin Ulmer: Antisemitismus in der Weimarer Republik. Wege der Tübinger Juden.
  • (Lit. 7) Stadtarchiv Tübingen
  • (Lit. 8) Stadtarchiv Mainz
  • (Lit. 9) Stadtarchiv Sigmaringen
  • (Lit. 10) Stadtarchiv Horb u. Förderverein Ehem. Rexinger Synagoge
  • (Lit. 11) Stadtarchiv im Kulturamt Laupheim
  • (Lit. 12) Archiv Tübinger Tagblatt
  • Gedenkschrift: "Stolpersteine in Tübingen, verlegt am 10. Juli 2018"
  • Gedenkschrift: "Stolpersteine in Tübingen, verlegt am 13. Juli 2020"
  • Zeichen der Erinnerung
  • Hannelore Marx: Stuttgart – Riga – New York. Mein jüdischer Lebensweg. Lebenserinnerungen. Herausgegeben vom Träger- und Förderverein Ehemalige Synagoge Rexingen, Horb 2005.

Einzelnachweise

  1. Erlanger, Fritz Max und die Jüdische Schule in Göppingen, auf stolpersteine-gp.de
  2. Ernst Nathan Dessauer, auf stolpersteine-hamburg.de
  3. Dr. Erich Dessauer - Biografie, auf stolpersteine-stuttgart.de
  4. Arthur Hirsch, vom Unternehmer zum Heizer Hospitalstr. 21 B, auf stolpersteine-stuttgart.de
This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. The authors of the article are listed here. Additional terms may apply for the media files, click on images to show image meta data.