Johannes Otzen
Johannes Otzen (* 8. Oktober 1839 in Sieseby (Herzogtum Schleswig); † 8. Juni 1911 in Grunewald, heute Ortsteil von Berlin) war ein deutscher Architekt (mit Schwerpunkt im evangelischen Sakralbau), Stadtplaner, Architekturtheoretiker und Hochschullehrer. Er wirkte vor allem in Berlin und anderen Teilen Norddeutschlands. Otzen führte die städtebauliche Gesamtplanung der Berliner Villenkolonien Lichterfelde und Friedenau aus.
Leben
Johannes Otzen wurde als Sohn eines Dorfschullehrers geboren, der auch die Kirchenorgel spielte. Drei Jahre lernte Otzen ein klassisches Bauhandwerk und wurde Zimmermann. Es folgten die Baugewerkschule und ein Studium am Polytechnikum Hannover. Hier schloss er sich der Landsmannschaft Slesvico-Holsatia, dem späteren Corps Slesvico-Holsatia, an.[1] Er war ein Schüler von Conrad Wilhelm Hase, in dessen Atelier er nach Abschluss des Studiums Bauführer wurde. Er wurde nach dem bestandenen Staatsexamen zum preußischen Regierungsbaumeister (Assessor in der öffentlichen Bauverwaltung) ernannt, als der er ab 1866 in Schleswig-Holstein Dienst tat. In diese Zeit fällt die Entscheidung für Otzens Entwurf bei einem Wettbewerb für den Bau der St.-Johannis-Kirche in Altona, den er auch ausführte. Bis zu seinem Lebensende baute er 22 Kirchen, unter denen die Ringkirche in Wiesbaden zu den wichtigsten gehört.
Ein weiterer Höhepunkt seines Schaffens war die Anlage repräsentativer Villenkolonien. Otzen hatte bereits früh erste Aufträge für den Hamburger Bauunternehmer und Immobilien-Spekulanten Johann Anton Wilhelm von Carstenn ausgeführt und wurde 1869 Generalbevollmächtigter von dessen Firma. In dieser Zusammenarbeit plante Otzen die städtebauliche Gesamtanlage der seit 1863 von Carstenn in Berlin begonnenen Vorzeige-Villenkolonie Lichterfelde, die sich rasch zu einem großen Erfolg entwickelte und stilprägend für weitere Anlagen wurde. Otzen wurde von Carstenn daraufhin auch mit der Planung von Großanlagen in anderen damaligen Berliner Vororten wie Friedenau betraut, für die er ab 1871 ebenfalls den Bebauungsplan erstellte. 1874 machte Otzen sich selbstständig, ein kleines Vermögen ermöglichte ihm, die Kieler Jakobikirche ohne Honorar zu errichten.
Für die Ausmalung der Kirchen zog Johannes Otzen vor allem Hermann Schmidt aus Hamburg und Otto Berg aus Berlin heran, beide gelegentlich auch für figürliche Malereien, die er aber bevorzugt durch die beiden Düsseldorfer Maler Wilhelm Döringer und Bruno Ehrich ausführen ließ.
Als Gewinner zahlreicher Wettbewerbe wurde Otzen 1878 als Professor an die neu gegründete Technische Hochschule Charlottenburg berufen. Zu seinen Schülern dort zählte z. B. Fernando Lorenzen. 1885 wechselte Otzen an die Preußische Akademie der Künste in Berlin, wo er weiterhin in einem Meisteratelier Architekturstudenten ausbildete. Der Architekt Jürgen Kröger, den er 1882 in sein Büro holte, wurde dabei als Mitarbeiter seines Privatbüros unmittelbar in die Ausbildung einbezogen. 1888 wurde Otzen zum Geheimen Regierungsrat ernannt.
Epochale Bedeutung gewann der Bau der ersten Kirche, die nach dem Wiesbadener Programm des Wiesbadener Pfarrers Emil Veesenmeyer gestaltet wurde. Mit der von 1889 bis 1894 gebauten dritten evangelischen Kirche in Wiesbaden, die später „Ringkirche“ genannt wurde, war das bis dahin geltende „Eisenacher Regulativ“ de facto außer Kraft gesetzt. Damit begann im evangelischen Kirchenbau eine neue Epoche, in der man sich von engen Stilvorschriften löste und die Funktion eines Kirchbaus neu hinterfragte. Einerseits ist das Raumkonzept kompromisslos aus den optischen und akustischen Erfordernissen einer evangelischen Predigtkirche entwickelt. Andererseits blieb Otzen der mittelalterlichen Kirchenbautradition verbunden und verwendete (entsprechend seiner Herkunft als Schüler Conrad Wilhelm Hases) Architekturelemente der Gotik, ging aber historisch sogar noch weiter zurück und kombinierte sie mit Elementen der Romanik, zu seinem typischen „Übergangsstil“ aus Neoromanik und Neogotik.
Mit seinen Kirchenbauten löste sich Otzen in der Folgezeit zwar von traditionellen Vorbildern, und folgte einer funktionalen Architektur, blieb aber der mittelalterlichen Formensprache verpflichtet. Obwohl seine Raumkonzepte der barocken Tradition näher standen, als er selbst es zugegeben hätte, lehnte er eine Wiederkehr des barocken Stils ab und kritisierte (auf einem Kongress für den Kirchenbau des Protestantismus in Berlin 1894) die „übertriebene Bewunderung der Dresdner Frauenkirche als Ideal des protestantischen Kirchenbaus“. Diese Polemik auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn richtete sich gegen seine progressiveren Kollegen wie den Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt. Diese propagierten eine Umorientierung weg vom mittelalterlichen hin zum neobarocken Stil, und zwar aus generellen künstlerischen Erwägungen, also nicht nur auf gottesdienstliche Räume bezogen. Immerhin forderte auch Gurlitt beim Kirchenbau, dass er vor allem dem Gottesdienst zu dienen habe: „Protestantischer Kirchenbau ist in allererster Linie Innenarchitektur.“ Der Autor des Wiesbadener Programms, Emil Veesenmeyer, folgte in dieser Frage Gurlitt und gehörte zu den Bewunderern der Dresdner Frauenkirche.
Als Präsident der Akademie der Künste hielt Otzen am 1. August 1900 in der École nationale supérieure des beaux-arts de Paris einen vor allem in Frankreich viel beachteten Vortrag bei dem Internationalen Architektenkongress, in dem er sich scharf gegen das in der Gründerzeit nicht seltene Stilgemisch wandte und damit einer Kunstrichtung die Tür öffnete, die er selbst wenig schätzte:
„Eine gesunde logische Konstruktion, basierend auf klarer Erkenntnis aller statischen Vorgänge, muss die Grundlage eines tüchtigen Bauwerks nicht nur sein, sondern auch als solche in die Erscheinung treten.“
Er förderte damit – ohne gerade dies zu wollen – den Jugendstil, in dem in der Folge die meisten Kirchen nach dem Wiesbadener Programm gebaut wurden.
Am 8. Juni 1911 starb Johannes Otzen in Berlin in seiner Villa in Grunewald. Er wurde auf dem Neuen Friedhof Wannsee an der Lindenstraße bestattet. Die gesamte Grabstätte hat eine Breite von 5,60 Meter. Das prächtige, neugotische Wandgrab wurde von dem Architekten und Bildhauer Curt Stoeving (1863–1939) entworfen, einem Künstler, der zur Berliner Künstler-Vereinigung „Werkring“ gehörte. Das Grab trägt die Signatur C S 1912. Im Zentrum ist ein hoher Giebel mit gotischen Ornamenten zu sehen, das links und rechts von zwei 1,40 Meter hohen Engeln flankiert ist. Der rechte davon hält das Modell einer Kirche in den Händen. An einem Pfeiler ist das ein Meter hohe Reliefbildnis von Johannes Otzen zu sehen.[2] Die Grabstätte liegt in der Abt. A.T.-22. Sie war bis 2009 als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet.
Otzen hatte vier Töchter und einen Sohn, Robert Otzen.
Ehrungen
- 1894 Roter Adlerorden 3. Klasse[3]
- 1894 Ritterkreuz I. Abtheilung des Großherzoglich-Sächsischen Hausordens der Wachsamkeit oder vom weißen Falken[4]
- 1898 Königlicher Kronenorden 2. Klasse[5]
- 1904 Roter Adlerorden 2. Klasse[6]
- 1907 Stern zum Königlichen Kronenorden 2. Klasse[7]
- Ehrenvorsitzender des Unterstützungsvereins für Architekten, Ingenieure und Techniker[8]
In Hamburg-St. Pauli wurde die Straße, die an der von ihm entworfenen Friedenskirche vorbeiführt, Otzenstraße benannt. Weiterhin gibt es in Berlin eine Otzenstraße, die an der Peripherie des von ihm geplanten Ortsteils Friedenau liegt.
Bauten
- 1868–1869: Kaufmannshaus Hansen in Flensburg
- 1868–1870: Kaiser-Karl-Schule in Itzehoe
- 1868–1873: St.-Johannis-Kirche in Altona[9]
- 1872–1874: Flora in Charlottenburg, 1904 abgerissen
- 1877: Turm der Nikolaikirche in Flensburg
- 1878–1880: Turm der Marienkirche in Flensburg
- 1879: Bergkirche in Wiesbaden
- 1880: Kreis-Kriegerdenkmal für die Gefallenen der Kriege von 1864, 1866 und 1870/1871 auf der Esplanade in Thorn[10]
- 1881–1882: Postamt in Thorn[10]
- 1882–1884: Christuskirche in Hamburg-Eimsbüttel[9]
- 1882–1885: St.-Gertrud-Kirche in Hamburg-Uhlenhorst[9]
- 1882–1886: Jakobikirche in Kiel
- 1884: St.-Petri-Kirche in Altona[9]
- 1885: Empfangsgebäude des Bahnhofs in Flensburg (1953 abgerissen)
- 1885: Friedenskirche in Hamburg-Eilbek (mit Johannes Vollmer)[11]
- 1884–1888: Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg
- 1886–1888: Heilandskirche in Leipzig-Plagwitz
- 1889–1892: Pauluskirche in Dessau
- 1892–1894: Apostelkirche in Ludwigshafen am Rhein
- 1893: Kirche Waldau in Bernburg-Waldau
- 1893–1895: Friedenskirche in Hamburg-St. Pauli[12][9]
- 1894: Evangelisch-reformierte Kirche in der Freiheit in Wetter (Ruhr)
- 1894: Turm der Stadtkirche St. Laurentii in Itzehoe
- 1890–1894: Lutherkirche in Apolda[13]
- 1891–1894: Lutherkirche in Berlin-Schöneberg, Bauleitung durch Otzens Mitarbeiter Moritz Korn
- 1892–1894: Ringkirche in Wiesbaden[14]
- 1894–1896: Turm und Umgestaltung der St.-Laurentius-Kirche in Itzehoe
- 1894–1898: Friedhofskirche in Elberfeld
- 1897: Georgenkirche in Berlin (im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, 1949 abgerissen)
- 1902: Evangelische Hauptkirche Rheydt[15][16]
Literatur
- Ausgeführte Bauten von Johannes Otzen. [7 Mappen mit zusammen 160 Tafeln]. Berlin, Ernst Wasmuth, 1894/1905.
- Vollmer: Johannes Otzen †. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, 31. Jahrgang 1911, Nr. 52 (vom 28. Juni 1911), S. 321.
- Hans Schliepmann: Johannes Otzen †. In: Berliner Architekturwelt, 14. Jg. 1911/1912, Heft 4 (Juli 1911), S. 125 f.
- Jörn Bahns: Johannes Otzen 1839–1911. Prestel, München 1971.
- Jörn Bahns: Otzen, Johannes. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 19, Duncker & Humblot, Berlin 1999, ISBN 3-428-00200-8, S. 717 f. (Digitalisat).
Weblinks
- Literatur von und über Johannes Otzen im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Johannes Otzen: Projekte im Bestand des Architekturmuseums in der Universitätsbibliothek der TU Berlin
- Vortrag von Johannes Otzen am 1. August 1900 in der École des Beaux-Arts in Paris
Einzelnachweise
- 100 Jahre Weinheimer Senioren-Convent, S. 142. Bochum, 1963
- Erika Müller-Lauter: Berliner Forum 9/85: Grabmäler in Berlin IV – Die Friedhöfe im Bezirk Zehlendorf. Presse- und Informationsamt des Landes Berlin, 1985.
- Amtliche Mitteilungen. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, 14. Jg., Nr. 4 (27. Januar 1894), S. 37
- Amtliche Mitteilungen. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, 14. Jg., Nr. 46 (17. November 1894), S. 477
- Amtliche Mitteilungen. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, 18. Jg., Nr. 15 (9. April 1898), S. 169
- Amtliche Mitteilungen. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, 24. Jg., Nr. 59 (23. Juli 1904), S. 369
- Amtliche Mitteilungen. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, 27. Jg., Nr. 15 (16. Februar 1907), S. 101
- Vermischtes. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, 25. Jg., Nr. 45 (3. Juni 1905), S. 288
- Archiv der Hamburgischen Landeskirche (Hrsg.), Brigitte Rohrbeck, Helga-Maria Kühn: Die Kirchen der Hamburgischen Landeskirche. Hamburg 1970.
- Joanna Kucharzewska: Architektura i urbanistyka Torunia w latach 1871–1920. Warszawa 2004.
- Jochen Hermann Vennebusch / Ulrike Winkel: Ev.-luth. Friedenskirche und Osterkirche Hamburg-Eilbek (Kleiner Kunstführer Nr. 2812). Regensburg 2012.
- Stadt Hamburg: Friedenskirche – Stadt Hamburg
- Dieter Ullmann: Kirchen in und um Apolda. Weimar 1991, ISBN 3-86160-015-3.
- Ralf-Andreas Gmelin: Der Dom der kleinen Leute. (Kirchenführer zur Ringkirche Wiesbaden)
- Peter Seyfried: Johannes Otzens opus ultimum. In: Evangelische Hauptkirche zu Rheydt 1902–2002. ISBN 3-00-010531-X.
- Holger Brülls: Die Modernität rückwärtsgewandten Bauens. In: Evangelische Hauptkirche zu Rheydt 1902–2002. ISBN 3-00-010531-X.