Hans Heinrich Lammers
Hans Heinrich Lammers (* 27. Mai 1879 in Lublinitz; † 4. Januar 1962 in Düsseldorf) war ein deutscher Richter, Verwaltungsjurist und Ministerialbeamter. In der Zeit des Nationalsozialismus war er Chef der Reichskanzlei. Im Wilhelmstraßen-Prozess wurde er 1949 wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Leben
Lammers, Sohn eines Tierarztes, besuchte die evangelische Fürstenschule in Pless. Nach dem Abitur studierte er Rechtswissenschaft an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. In Breslau wurde er Mitglied der Miltenberger Verbindung Wratislavia Breslau. Er legte 1901 das Referendarexamen ab und diente als Einjährig-Freiwilliger in der Preußischen Armee (1906 Leutnant d. R.). 1904 wurde er zum Dr. iur. promoviert.[1] Nach der großen Staatsprüfung (1907) trat er in die preußische Justiz ein. Zunächst Gerichtsassessor in Breslau, wurde er 1912 Landrichter in Beuthen, Oberschlesien. Am 29. April 1913 heiratete er in Gleiwitz Elfriede Tepel (1894–1945), die 1914 und 1918 zwei Töchter zur Welt brachte.
Erster Weltkrieg und Weimarer Republik
Lammers meldete sich 1914 als Kriegsfreiwilliger beim 4. Niederschlesischen Infanterie-Regiment Nr. 51 in Breslau. Durch eine Verwundung verlor er 1917 sein linkes Auge. Deshalb von der kämpfenden Truppe zum Ober Ost versetzt, war er zuletzt Leiter der Finanzabteilung.
Ende 1920 in das Reichsministerium des Innern, Abteilung I, berufen, wurde er 1921 Oberregierungsrat und 1922 Ministerialrat und Leiter des Verfassungsreferates in der Staatsrechtsabteilung. Seinen ungewöhnlich schnellen Aufstieg in der Behörde hatte er Theodor Lewald zu verdanken. In der Staatsrechtsabteilung vertrat er das Reich in Prozessen gegen die Länder. Seine Ablehnung der Weimarer Republik missfiel sozialdemokratischen Abgeordneten. Carl Severing rügte ihn 1928, weil er in einem Zeitungsartikel von Lammers eine „absichtliche Herabsetzung der Reichsverfassung“ sah. Dass auch Severings Vorgänger, der deutschnationale Walter von Keudell, Lammers bei Beförderungen übergangen hatte, wird als Grund für seine Hinwendung zu den Nationalsozialisten angenommen.
Der überzeugte Monarchist und nationalkonservative Beamte war zunächst Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei, des Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten und des Berliner Nationalklubs von 1919. Im Februar 1932 wurde er Mitglied der NSDAP, seine Parteizugehörigkeit wurde mit Wirkung vom 1. März 1932 unter der Mitgliedsnummer 1.010.355 registriert. Sein erstes politisches Auftreten für die NSDAP erfolgte am 24. September 1932, als er im Rahmen einer Veranstaltung für Beamte im preußischen Landtag vor dem Hauptredner Goebbels eine Ansprache hielt.[2]
Zeit des Nationalsozialismus
Am Tag von Potsdam ernannte der neue Reichskanzler Adolf Hitler Lammers zum Staatssekretär und Chef der Reichskanzlei. An dieser Schnittstelle zwischen Hitler und den Reichsverwaltungsbehörden organisierte er (mit Martin Bormann, Otto Meissner und ab 1938 Wilhelm Keitel) die Regierungsgeschäfte. Da nach 1933 kaum noch Kabinettssitzungen stattfanden, übermittelte er auch den Reichsministerien Hitlers Wünsche und Befehle. Lammers war es, der Hitlers häufig spontane Absichten und Pläne in verwaltungskompatible Juristentexte übersetzte und damit ihre Ausführung und Umsetzung sicherte. Umgekehrt war Lammers auch für alle nicht parteirelevanten Dinge die entscheidende Zugangshürde zu Hitler. So verhalf er unter anderem seinem halb-jüdischen früheren Förderer Theodor Lewald, der inzwischen Präsident des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 1936 geworden war, schnell und unkompliziert zu Audienzen bei Hitler und half, eine überaus großzügige Finanzierung der Spiele sicherzustellen.[4] Lammers filterte die Informationen und Anliegen, die aus der Verwaltung an Hitler herangetragen wurden. Bei Hitlers bekannter Abneigung gegen Bürotätigkeit und Aktenstudium war es Lammers, der alle aus seiner Sicht regierungsrelevanten Dinge zusammenstellte und dann im mündlichen Vortrag mit Hitler besprach. Lammers übernahm auch im Rahmen der Hitler anstelle eines Gehaltes zufließenden Mittel (Verkauf der Briefmarken mit seinem Abbild, Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft etc.) die Verwaltung der Hitler zur persönlichen Verfügung stehenden Anlagevermögen, die großenteils beim Bankhaus Delbrück lagen.
Am 26. November 1937 wurde er von Hitler zum Reichsminister ohne Portefeuille mit der Amtsbezeichnung Reichsminister und Chef der Reichskanzlei ernannt. In dieser Funktion war er für die von Hitler gewährten Dotationen zuständig.[5]
Am 29. September 1933 war Lammers in die SS (SS-Nr. 118.404) eingetreten und hatte den Rang eines SS-Oberführers erhalten. Danach folgten die Beförderungen zum SS-Brigadeführer (20. April 1935), SS-Gruppenführer (30. Januar 1938) und SS-Obergruppenführer (20. April 1940). Er gehörte 1933 zu den Gründungsmitgliedern der nationalsozialistischen Akademie für Deutsches Recht[6] und war ab Ende 1933 Führer des Reichsverbandes Deutscher Verwaltungsakademien.[7]
Seit dem 30. November 1939 war er geschäftsführendes Mitglied des unter Hermann Görings Vorsitz stehenden Ministerrats für die Reichsverteidigung. Lammers war in die Aktion T4 involviert.[8] Diese „Euthanasie“-Tarnorganisation hatte ihren Sitz in Berlin in der Tiergartenstraße 4.
Ab 1937 stand Lammers das Palais Von-der-Heydt-Straße 18 als Wohnsitz zur Verfügung (heute: Zentrale der Stiftung Preußischer Kulturbesitz). Bereits seit 1934 durfte er mit Erlaubnis Hitlers das Jagdhaus des Reichspräsidenten am Werbellinsee nutzen (ehemaliges kaiserliches Jagdhaus, zu DDR-Zeiten abgerissen und als Jagdhaus Hubertusstock neu aufgebaut). Hitler schenkte ihm 1944 das Jagdhaus mit einer Dotation von 600.000 Reichsmark für seine geleisteten Dienste.[5]
Führer der studentischen Korporationsverbände
Lammers, Mitglied der schwarzen Studentenverbindung Wratislavia Breslau, war Führer des Miltenberger Rings (MR). Am 21. September 1933 befahl er die Umwandlung der MR-Verbindungen in Corps, die Einführung der Bestimmungsmensur und den Beitritt zur Nationalsozialistischen Gemeinschaft corpsstudentischer Verbände; diese zerfiel bereits im Februar 1934. Im Januar 1935 übernahm er die Führung der Gemeinschaft studentischer Verbände (GStV), die die „Erhaltung und Stärkung“ des Korporationsstudententums zum Ziel hatte und sich gleichzeitig verpflichtete, durch „stetige innere Erziehungsarbeit immer mehr in den nationalsozialistischen Staat hineinzuwachsen“.[9] Im März 1935 wurde die GStV von der NSDAP und vom Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund als Gesamtvertretung der studentischen Verbände anerkannt. Nachdem Hitler jedoch im Juli 1935 intern seine grundsätzliche Abneigung gegen die studentischen Verbindungen zum Ausdruck gebracht hatte und nachdem es zu Unstimmigkeiten mit mehreren Verbänden gekommen war, legte Lammers im September 1935 die Führung der GStV nieder. Diese löste sich wenige Tage später auf.[10]
Prozess und Haft
Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Lammers im April 1945 verhaftet, als er den Versuch unterstützte, Hitler durch Göring zu ersetzen. Vor der von Hitler daraufhin angeordneten Erschießung durch die SS wurde er von US-amerikanischen Truppen gefangen genommen. Bis zum August 1945 wurde er mit anderen NS-Größen und hohen Militärangehörigen im luxemburgischen Bad Mondorf im Camp Ashcan interniert.
Am 8. und 9. April 1946 trat Lammers als Zeuge im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher auf. Im Wilhelmstraßen-Prozess gegen Mitarbeiter verschiedener Ministerien des Deutschen Reiches 1933 bis 1945 wurde er am 11. April 1949 wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unter anderem der Mitwirkung an der Ermordung der europäischen Juden, vom IV. Alliierten Militärgericht zu 20 Jahren Haft verurteilt. Am 31. Januar 1951 wurde diese Strafe vom amerikanischen Hohen Kommissar John Jay McCloy auf 10 Jahre abgemildert; am 16. Dezember 1951 wurde er begnadigt und aus dem Gefängnis in Landsberg am Lech entlassen.
Auszeichnungen
- Eisernes Kreuz (1914) 2. und 1. Klasse
- Goldenes Parteiabzeichen der NSDAP (31. Januar 1937)
- Treudienst-Ehrenzeichen (6. Juli 1939)
- Ehrendegen des Reichsführers SS
- SS-Ehrenring
Werke
- Reichsverfassung und Reichsverwaltung. Berlin 1929, Nachtrag 1930.
- Grundlagen, Aufbau und Wirtschaftsordnung des nationalsozialistischen Staates. 3 Bde., Berlin 1936.
Literatur
- Wolfgang Benz, Hermann Graml (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik. München 1988.
- Akten der Parteikanzlei der NSDAP. Rekonstruktion eines verlorengegangenen Bestandes. Bd. 1–4. Bearbeitet von Helmut Heiber, München/Wien 1983 f.
- Peter Diehl-Thiele: Partei und Staat im Dritten Reich. Untersuchungen zum Verhältnis von NSDAP und allgemeiner innerer Staatsverwaltung 1933–1945. München 1969.
- Georg Franz-Willing: Die Reichskanzlei 1933–1945. Rolle und Bedeutung unter der Regierung Hitler. Tübingen 1984.
- Robert M. W. Kempner, Carl Haensel: Das Urteil im Wilhelmstraßen-Prozess. Schwäbisch Gmünd 1950.
- Volker Koop: Hans-Heinrich Lammers: der Chef von Hitlers Reichskanzlei. Dietz, Bonn 2017, ISBN 978-3-8012-0519-5.
- Peter Longerich: Hitlers Stellvertreter. Führung der Partei und Kontrolle des Staatsapparates durch den Stab Hess und die Partei-Kanzlei Bormanns. München 1992.
- Der Prozess gegen die Hauptverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, vom 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946. 21 Doppelbände, Reprint. München 1976.
- Dieter Rebentisch: Lammers, Hans Heinrich. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 13, Duncker & Humblot, Berlin 1982, ISBN 3-428-00194-X, S. 449 f. (Digitalisat).
- Dieter Rebentisch: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939–1945. Stuttgart 1989.
- Dieter Rebentisch, Karl Teppe (Hrsg.): Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System. Göttingen 1986.
- Friedrich Hartmannsgruber: »Führervorträge«. Die Notate des Chefs der Reichskanzlei über seine Vorträge bei Hitler als historische Quelle. In: Esteban Mauerer (Hg.): Supplikationswesen und Petitionsrecht im Spiegel der Publikationen der Historischen Kommission (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 105). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2020, S. 119–139.
- Hermann Weiß (Hrsg.): Biographisches Lexikon zum Dritten Reich. S. Fischer, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-10-091052-4.
Weblinks
- Literatur von und über Hans Heinrich Lammers im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Zeitungsartikel über Hans Heinrich Lammers in der Pressemappe 20. Jahrhundert der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
- Akten und Erklärungen von Lammers bei den Nürnberger Prozessen (englisch)
- Nachlass BArch N 1686
Einzelnachweise
- Dissertation: Hans Heinrich Lammers: Die Rentenschuld des Bürgerlichen Gesetzbuchs, jur. Diss., Universität Breslau, 1904, 44 S.
- Lammers, Hans Heinrich (1879–1962) auf Zukunft braucht Erinnerung
- Lammers trägt die Uniform eines SS-Gruppenführers der Allgemeinen SS, auf der das Eiserne Kreuz und das NSDAP-Parteiabzeichen sowie eine Ordensschnalle angebracht sind
- Arnd Krüger, Rolf Pfeiffer: Theodor Lewald und die Instrumentalisierung von Leibesübungen und Sport. In: Uwe Wick, Andreas Höfer (Hrsg.): Willibald Gebhardt und seine Nachfolger. (= Schriftenreihe des Willibald Gebhardt Instituts Bd. 14) Meyer & Meyer, Aachen 2012, ISBN 978-3-89899-723-2, S. 120–145.
- Gerd R. Ueberschär, Winfried Vogel: Dienen und Verdienen. Hitlers Geschenke an seine Eliten. Frankfurt 1999, ISBN 3-10-086002-0.
- Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht, 1. Jahrgang 1933/34. Hrsg. von Hans Frank. (München, Berlin, Leipzig: Schweitzer Verlag), S. 255.
- In: Uwe Hoßfeld, Jürgen John, Oliver Lemuth, Rüdiger Stutz (Hrsg.): Kämpferische Wissenschaft: Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus. Böhlau, Köln/Weimar 2003 (Google Books).
- Raimond Reiter: Hitlers Geheimpolitik. Verlag Peter Lang 2008, ISBN 3-631-58146-7, S. 92.
- Zitiert nach: Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich. Paderborn 1995, S. 302.
- Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich. Paderborn 1995, S. 308 f.