Fieseler Fi 103
Die Fieseler Fi 103 war der erste militärisch eingesetzte Marschflugkörper. Sie wurde als eine der „Wunderwaffen“ in der NS-Propaganda des Zweiten Weltkriegs auch V1 (Vergeltungswaffe 1) genannt. Die Entwicklung der Gerhard-Fieseler-Werke in Kassel trug den Tarnnamen FZG 76 für Flakzielgerät 76 und war im Frühjahr 1944 einsatzbereit. Von Juni 1944 bis März 1945 wurden ca. 12.000 Fi 103 von der Wehrmacht hauptsächlich gegen Ziele in England (London) und Belgien (Hafen von Antwerpen) eingesetzt.
Das im Auftrag des Reichsluftfahrtministeriums ab Mitte 1942 entwickelte „Ferngeschoß in Flugzeugform“ war mit fast einer Tonne Sprengstoff beladen und wurde daher umgangssprachlich auch „Flügelbombe“ genannt.
Bezeichnungen
V1 war eine von Joseph Goebbels geprägte propagandistische Bezeichnung, Fieseler Fi 103 die militärische Bezeichnung anhand der Typenliste des Reichsluftfahrtministeriums. Anfangs offiziell Höllenhund genannt, einigte man sich auf Vorschlag von Hans Schwarz van Berk am 17. Juni 1944 auf die Bezeichnung V-Waffe.[1] Die vor allem Richtung Brüssel, Antwerpen und Lüttich von Rampen in der Eifel gestarteten V1 wurden wegen der vielen Frühabstürze von der dortigen Bevölkerung als Eifelschreck bezeichnet.[2]
In der deutschen Presse wurde am 12. August 1944 von dem „bald zwei Monate zurückliegenden“ ersten Einsatz einer „neuen Waffe“ mit der Bezeichnung „V 1“ berichtet, die als „fliegenden Bombe“, „Flügelbombe“ und „orgelnder Komet“ tituliert wurde.[3]
In Großbritannien informierte der zuständige Staatssekretär das Parlament und die Öffentlichkeit und nannte die neue Waffe sowohl „pilotless aircraft“ (führerloses Luftfahrzeug) als auch „missile“ (Geschoss, Flugkörper).[4] Die umgangssprachliche Bezeichnung für die V1 lautete wegen des charakteristischen knatternden Geräusches des Antriebs doodlebug oder buzz bomb.
Technik
Entwicklung
Die Idee einer von einem Pulsstrahltriebwerk angetriebenen „fliegenden Bombe“ wurde bereits 1934 von Georg Madelung und Paul Schmidt dem Reichsluftfahrtministerium vorgelegt. Obwohl die Vorschläge damals verworfen wurden, entwickelte nach dieser Idee Ende der 1930er-Jahre Fritz Gosslau von der Firma Argus Motoren Gesellschaft in Berlin für das RLM unter dem Codenamen „Fernfeuer“ einen ferngesteuerten unbemannten Flugkörper, der anfangs noch von einem Kolbenmotor angetrieben werden sollte. Ab 1940 wurden die Arbeiten von Schmidt und Gosslau bei Argus koordiniert. Anfang 1942 wurde Robert Lusser von der Firma Fieseler für das Projekt gewonnen, der den Flugkörper der Fi 103 im „Werk I“ der Fieseler-Werke in Kassel-Bettenhausen entwarf und dort mehrere Prototypen baute.[5] Am 19. Juni 1942 wurde vom RLM an die Firmen Fieseler und Argus, die das Pulso-Schubrohr Argus As 014 für den Antrieb lieferte, der Auftrag erteilt, das Projekt zur Serienreife zu entwickeln. Der erste Test einer Fi 103 erfolgte am 24. Dezember 1942 auf der Insel Usedom in der Erprobungsstelle der Luftwaffe Peenemünde-West auf drei eigens dafür errichteten Startrampen. Weitere Rampen für die Erprobung befanden sich bei Zempin auf Usedom.
Der Flugkörper war für die damalige Zeit ein recht komplexes Gerät: Für die Kurskontrolle wurden ein Magnetkompass, ein Kreiselkompass für die gyroskopische Stabilisierung der Fluglage sowie ein Regler für die Flughöhe verwendet.[6] In kugelförmigen Behältern wurde Druckluft für die Betätigung der Seiten- und Höhenruder und zur Treibstoffförderung mitgeführt; zur Ermittlung der zurückgelegten Strecke trieb ein kleiner Propeller an der Spitze („Luftlog“) ein Zählwerk an, das beim Erreichen einer voreingestellten Strecke durch das Abkippen der Höhenruder den Absturz auslöste. Ein Aufschlagzünder brachte dann die Sprengladung von 850 Kilogramm im Gefechtskopf zur Detonation. In den serienmäßigen V1 kam keine Funk- bzw. radargestützte Steuerung zum Einsatz.
Das Triebwerk war ein als „Schmidt-Rohr“ bezeichnetes Pulsstrahltriebwerk vom Typ As 014, das nach dem von Paul Schmidt erfundenen Prinzip des intermittierenden Pulso-Schubrohrs arbeitete. Es war sehr viel einfacher aufgebaut und damit deutlich billiger als die zu dieser Zeit bereits verfügbaren Turbojet-Triebwerke. Die geringere Lebensdauer und der schlechtere Wirkungsgrad waren bei einem Marschflugkörper akzeptabel.
Die Fi 103 startete von einer Startrampe, die nach ihrem Konstrukteur, dem Kieler Unternehmer Hellmuth Walter, Walter-Schleuder genannt wurde. Sie hatte eine Länge von 48 Metern und eine Höhe von bis zu 6 Metern.[7] Am 9. Juli 1944 wurden erstmals Fi 103 von zweimotorigen He 111H-22 gestartet. Diese hingen zwischen dem Rumpf und dem rechten Motor und wurden in 500 m Höhe über der Nordsee ausgeklinkt. Die III. Gruppe des Kampfgeschwaders 3 führte dieses Verfahren von den niederländischen Basen Venlo und Gilze-Rijen aus durch.[8] Später flog auch das Kampfgeschwader 53 regelmäßig von norddeutschen Basen diese Einsätze. Am 5. Januar 1945 flog es den letzten V1-Einsatz auf London.
Zielführung
Eine integrierte Zielsuche gab es noch nicht. Zur Fernlenkung wurden verschiedene Verfahren angewandt:
- Kirschkern-Verfahren
- Zur Zielführung wurde an Bord ein einfacher MW-Sender „FuG 23“ mit Schleppantenne mit einem Frequenzbereich von 340 bis 500 kHz mitgeführt. Dieser wurde während des Fluges von deutschen Adcock-Peilstationen verfolgt (Fremdpeilung). Die Einschlagstelle ergab sich dann als Ort der letzten Peilung. Die erste V1 einer Startserie wurde also eher ungenau gestartet und erst die nachfolgenden mit Hilfe der empfangenen Peilsignale genauer gerichtet. Dieses Lenkverfahren hatte den Decknamen „Kirschkern“, in Anlehnung an das Kirschkern-Weitspucken. Reichweitenänderungen wurden am Wegstreckenzähler, einem kleinen Propeller am Bug, eingestellt, Seitenabweichungen durch Einstellung am Kreiselkompass.
- Fi-103-Verfahren
- Auf Vorschlag der C. Lorenz AG aus dem Jahre 1943 sollte die V1 im Flug durch Kreuzpeilung geortet werden und mit Fernlenkkommandos an den Funkmessgeräten FuPeil A70h „Elektrola“ dann zum Ziel gelenkt werden.
- DFS-Verfahren
- mit verschiedenen Impulsfolgen zur direkten Fernlenkung.
- Ewald/Sauerkirsche-Verfahren (Peilverfahren „Ewald II“, Funkanlage „Sauerkirsche II“)
- Um Störmaßnahmen entgegenzuwirken, wurden die Fernlenkimpulse mehrfach nacheinander ausgesandt. An Bord der Fi 103 wurde die Impulsfernlenkanlage „Mosel“ eingesetzt. Die vom Empfänger kommenden Impulse wurden auf einem Endlos-Magnetband aufgezeichnet. Erst wenn an drei Leseköpfen gleichzeitig derselbe Impuls anlag, wurde das Steuerkommando an die Ruder weitergegeben. Die erhoffte Treffgenauigkeit war ± 2 Kilometer auf 400 Kilometer Kampfentfernung.
Technische Daten
Kenngröße | Daten |
---|---|
Besatzung | – |
Länge | 7,742 m |
Spannweite | 5,30 m |
Startmasse | 2160 kg |
Antrieb | Pulsstrahltriebwerk Argus As 014 mit 3,28 kN Maximalschub |
Marschgeschwindigkeit | 576 km/h in 760 m Höhe |
Dienstgipfelhöhe | 3000 m |
Reichweite | 257–286 km |
Treffergenauigkeit | im Umkreis von 12 km |
Bewaffnung |
Weiterentwicklung zur Cruise-Missile
In den Vereinigten Staaten wurde unter der Bezeichnung JB-2 von Republic Aviation und Ford bereits 1944 eine Kopie entwickelt. Die Testflüge wurden in der Eglin Air Force Base in Florida im Oktober 1944 durchgeführt, die Produktion begann ab 1945. Sie belief sich auf insgesamt 1000 Stück, die aber nie zum Einsatz kamen. Ihr Einsatz war bei der Invasion Japans geplant. Auch die französische Arsenal ARS 5501 Bernadette basierte auf der V1. Sie wurde unter anderem von der Royal Navy ab 1953 als Zieldarstellungsdrohne eingesetzt.
Sowjetische Entwicklungen
Auch in der Sowjetunion wurde mit einer Waffe experimentiert, die von Flugzeugen sowie von stationären wie auch von mobilen Rampen aus gestartet werden konnte. Sie wurde von Wladimir Nikolajewitsch Tschelomei entwickelt und als „10ch“, russisch 10Х – zehnte Modifikation einer geheimen Waffe – bezeichnet. Ausgangspunkt für diesen Nachbau der Fi 103 war ein unvollständiges Exemplar, das bereits im Oktober 1944 von den englischen Verbündeten an die Sowjetunion abgegeben worden war. Hinzu kamen im weiteren Kriegsverlauf noch Teile einzelner Baugruppen und Startrampen, die beim Vormarsch der Roten Armee in den Produktionsbetrieben in Kattowitz und Speck bei Altdamm erbeutet worden waren. Später wurden auch die nach dem Abzug der Amerikaner noch verbliebenen Produktionsanlagen in Nordhausen in die Sowjetunion überführt. Als Antrieb diente die als D-3 bezeichnete Kopie des Argus As 014.[10] Zwar hatten die sowjetischen Entwickler schon vor dem Krieg erfolgreich Raketenantriebe entwickelt und auch in Flugkörpern getestet, in den Kriegseinsatz waren diese aber nur in Form von Raketen wie beispielsweise beim Raketenwerfer Katjuscha gelangt. Tschelomei entwickelte auf Basis der „10ch“ noch die mit Holzflügeln und stärkerem D-5-Triebwerk ausgerüstete „14ch“, die ihren Erstflug 1947 hatte, sowie die mit „Kobalt“-Bordradar für den ferngelenkten Zielanflug und zwei Triebwerken D-14 ausgerüstete „16ch“ (Erstflug 1948), die aber wegen ungenügender Treffergenauigkeit ebenso wie die „10ch“ nicht in die Bewaffnung der Streitkräfte übernommen wurden. 1954 wurde das Programm schließlich beendet.[11]
Produktion
Die Herstellungskosten betrugen pro Stück rund 3500 Reichsmark, für den Bau waren etwa 280 Arbeitsstunden nötig. Die Produktion der Einzelteile fand bei mehr als 50 Herstellern statt.[12] Unter anderem wurden ab Anfang März 1944 in einer „Geheimabteilung“ im Keller der Halle I des Volkswagenwerkes bei Fallersleben die „V1“ in Serie gebaut.[13] Von 1940 bis 1945 mussten dort etwa 20.000 Menschen in Zwangsarbeit die verschiedenen Rüstungsgüter fertigen, darunter Kriegsgefangene und Insassen der Konzentrationslager. Im Sommer 1944 begann der „V1“-Serienbau auch in den unterirdischen Stollen des KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen in Thüringen.[14] Im Zusammenhang mit der Produktion und Montage der verschiedenen Waffen im KZ Mittelbau-Dora starben etwa 20.000 KZ-Häftlinge. Einziger Ingenieur der „V1“-Produktion, der je vor Gericht gestellt wurde, war der Demag-Geschäftsführer und Generaldirektor der Mittelwerk GmbH Georg Rickhey. 1947 im „Nordhausen-Hauptprozess“ angeklagt, wurde er freigesprochen, obwohl im Prozess der mitangeklagte Funktionshäftling Josef Kilian aussagte, dass Rickhey bei einer Massenstrangulation von 30 Häftlingen am 21. März 1945 in Mittelbau-Dora anwesend war.[15]
Auch andere Produktionsorte waren geplant und im Aufbau, wie beim KZ-Außenlager Thil bei Tiercelet und dem KZ-Außenlager Rebstock bei Dernau.
Abwehrmaßnahmen
Die Bekämpfung der V1 erfolgte durch Flak, Abfangjäger und Sperrballone. Zusätzlich wurde versucht, den Einsatz der Waffe durch Agenten zu sabotieren sowie Produktionsanlagen und Abschussrampen zu bombardieren.
Flak
Die Flughöhe der V1 lag zwischen 600 und 900 Metern. Aufgrund des anfänglich ausschließlichen Starts von stationären Startrampen konnten die Anflugkorridore kaum verändert werden und wurden schnell bekannt. Auf den V1-Anflugwegen wurden daher zahlreiche Flakbatterien stationiert, die bei der Ortung einer Flügelbombe Sperrfeuer schossen. Diese Maßnahme war am erfolgreichsten, da die V1 durch ihren leuchtenden Abgasstrahl und das charakteristische Motorengeräusch leicht zu orten war und der Flugkörper keine Ausweichbewegungen machte. Später verwendete man erfolgreich Flakgeschosse mit Abstandszündern, eine US-amerikanische Neuentwicklung, die zur Tarnung „Variable Time fuze“ (Zünder mit variabler Zeit) genannt wurde. Dank stetiger Verbesserungen erreichte die Flak gegen Ende der V1-Einsätze eine Abschussquote von über 70 Prozent.
Abfangjäger
Die V1 hatte eine Fluggeschwindigkeit von 630 km/h. Damit war sie ähnlich schnell wie die damaligen Jagdflugzeuge. Diese konnten nur aus der Überhöhung angreifen, um genügend Geschwindigkeitsüberschuss für einen Angriff zu haben. Anfangs waren nur einige wenige britische Hawker Tempest schnell genug. Neben dem direkten Abschuss, der für den Piloten wegen der möglichen Explosion des großen Sprengkopfes lebensgefährlich war, entwickelten einige Piloten eine andere Methode, um die V1 zum Absturz zu bringen: Durch knappes, etwas erhöhtes und seitlich versetztes Vorausfliegen konnte der Luftwirbel, der sich hinter einer Flugzeugtragflächenspitze bildet, genutzt werden, um die V1, die kein Querruder hatte, um ihre Längsachse so weit zu verdrehen, dass ihre Fluglage instabil wurde, die Kreiselsteuerung versagte und die V1 abstürzte.
In der Nacht wurden die V1 von Mosquitos angegriffen; aufgrund der Lage ihrer Basis RAF Ford, etwa 3 Kilometer südwestlich von Arundel (West Sussex), trug die No. 96 Squadron RAF eine Hauptlast und schoss 180 der „Doodlebugs“ ab.[16]
Sperrballone
Entlang der Einflugschneisen wurden Sperrballone stationiert, da die niedrige Einflughöhe der V1 dies begünstigte. Speziell gegen die Sperrballone gab es den Rüstsatz 1, „Kuto“ mit Messerleisten an Tragflächennasen.[17] Letztlich gingen aber nur etwa 6 Prozent der vernichteten V1 auf deren Konto.
Agenten
Da wegen der Luftüberlegenheit der Briten eine deutsche Luftaufklärung über England nicht möglich war, um die Lage der Einschläge zu kontrollieren, verließ man sich auf Meldungen von Agenten. Diese waren aber fast alle durch ihren Funkverkehr schnell enttarnt worden und arbeiteten unter Androhung der Todesstrafe als Doppelagenten mit den Briten zusammen oder taten dies ohnehin die ganze Zeit wie Eddie Chapman. Im Rahmen des Double-Cross System übermittelten sie falsche Einschlagstellen und veränderten den Einschlagzeitpunkt. Auch die britischen Tageszeitungen wurden angewiesen, falsche Daten zu berichten oder Einschläge vor allem im Südosten Londons zu verschweigen. Mit diesen Falschinformationen sollte die deutsche Seite glauben, dass die Waffe meist zu weit in den Nordwesten Londons flog, und sie dazu veranlassen, die eingestellte Flugdauer zu verkürzen.[18] Den Meldungen der eigenen Funkpeilung trauten die Deutschen weniger.
Bombardierung von Produktions- und Abschussanlagen
Spätestens ab dem Herbst 1943 waren die Alliierten über Pläne zur V1 und über Lagepläne von Produktionsanlagen informiert. Es gelang der österreichischen Widerstandsgruppe rund um Kaplan Heinrich Maier entsprechende Dokumente dem britischen Geheimdienst SOE beziehungsweise dem amerikanischen OSS zukommen zu lassen.[19] Mit den Lageskizzen der Fabrikationsanlagen wurden den alliierten Bombern genaue Luftschläge ermöglicht.[20] Diese Beiträge erwiesen sich in späteren Analysen des OSS als zu 92 Prozent korrekt und waren somit ein effektiver Beitrag zur alliierten Kriegsführung.[19] Mit der Operation Crossbow versuchten die Alliierten durch Luftschläge Forschung und Entwicklung, Herstellung, Transport und Startplätze der Waffen auszuschalten.
Bemannte Version
Die Version Fieseler Fi 103 Reichenberg, auch als „V4“ bezeichnet, war bemannt. Obwohl 175 Exemplare gebaut worden waren, wurde das Vorhaben 1944 aufgegeben.
Es gab ernste Anstrengungen, die V4 als Kamikaze-Waffe zu benutzen. Dazu wurde die Militäroperation Selbstopfer ins Leben gerufen. Die Selbstaufopferungspiloten wurden dem Kampfgeschwader 200 unterstellt. Diese Organisation kam jedoch nach der Intervention des Geschwaderkommandeurs Werner Baumbach bei Hitler nicht mehr zum Einsatz.
Einsatz
Der Einsatz der Waffe im Krieg begann in den frühen Morgenstunden des 13. Juni 1944. Aus dem nordfranzösischen Département Pas-de-Calais wurden die ersten zehn Flugkörper gegen die britische Hauptstadt gerichtet. Lediglich vier Stück erreichten Großbritannien: je eine Fi 103 schlug in Gravesend, in Cuckfield, in Bethnal Green in London und in Sevenoaks ein, die anderen gingen über See verloren.[21][22]
Am 17. Juni berichtete die deutsche Presse indirekt über den ersten Einsatz der Waffe, indem zwei Meldungen von Reuters zitiert wurden: „[I]rgendwo in Südengland“ sei eine Geheimwaffe gesichtet worden, bei der es sich um ein „führerloses Flugzeug“ handele, „das mit einer Explosivladung versehen sei, einen kurzen, schlanken Körper mit kastenartigen Vorrichtungen am Schwanze besitze“. Es sei „etwas Unheimliches, wenn das führerlose deutsche Flugzeug sich nähert und raketenartig durch die Luft schießt. Die Flugzeuge haben einen ganz bestimmten rhythmischen Ton, den man als ein leises Pulsieren bezeichnen könnte. Bei Nacht zeigen sie hinten einen deutlichen gelben Schein[,] und im Licht der Scheinwerfer sieht man, wie eine dicke Rauchfahne aus ihnen herausquillt.“[23]
Der Umfang der V1-Flugbombenoffensive gegen England stellt sich in Zahlen wie folgt dar:[24]
- vom Boden gestartet: 8892
- davon erfolgreich: 7488
- 3957 davon von den Briten abgeschossen (52,8 Prozent):
- durch Abfangjäger: 1847 – tagsüber meist Hawker Tempest, in der Nacht durch Nachtjäger Mosquito
- durch die Flak: 1878
- durch die Seile der Sperrballone: 232
- 3957 davon von den Briten abgeschossen (52,8 Prozent):
- davon erfolgreich: 7488
- aus der Luft gestartet: 1600 von He-111 H-22, dabei 77 Eigenverluste[25]
- Ziel London: 2419 trafen und detonierten
Bei Bruchhausen und Rheinbreitbach, im Stellungsbereich Asberg sind noch Reste von drei Startrampen zu sehen, ebenso bei Ruppichteroth, Drabenderhöhe, Lohmar-Heide, auf Peenemünde und bei Zempin auf der Insel Usedom.
Wirkung
Zu keinem Zeitpunkt konnte die V1 die Kriegswirtschaft in England schwächen. Allerdings befürchtete die alliierte Führung eine Schwächung der Kriegsmoral durch die V1, so dass der Abwehr hohe Bedeutung beigemessen wurde.
Schon 1943 hatte die NS-Propaganda als Erwiderung der alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte die Bombardierung Englands mit „Vergeltungswaffen“ angekündigt, um die Moral der deutschen Bevölkerung und den Kampfgeist der Soldaten aufrechtzuerhalten. Durch ständige Beschwörungen der Wirksamkeit der neuen „Wunderwaffen“ propagierte das NS-Regime den Glauben, die Wehrmacht habe mit neuen überlegenen Waffensystemen ein Mittel in den Händen, um im Kriegsverlauf doch noch eine Wende herbeiführen zu können. Allerdings schlug die kurzfristig entstandene euphorische Stimmung der Bevölkerung im Sommer 1944 bald in Skepsis um, weil die V-Waffen nicht den erhofften Erfolg brachten.[22]
Dennoch versprach Adolf Hitler in seiner letzten Rundfunkrede am 30. Januar 1945 trotz der sich schon abzeichnenden Niederlage immer noch den Endsieg, unter anderem durch einen verstärkten Einsatz sogenannter „Wunderwaffen“, zu denen auch die V2 gehörte.[22]
Zur Hauptzeit des Angriffs gegen England im Juli und August 1944 wurden die Terrorwaffen in Gruppen von bis zu zehn Flugkörpern gleichzeitig gestartet. Die Auswirkung auf die Moral der Londoner Bevölkerung war verheerend. Täglich verließen bis zu 14.000 Einwohner mit der Eisenbahn die Stadt; insgesamt flohen in diesem Sommer bis zu zwei Millionen Menschen.[26]
Opfer
Bei der Produktion, die zum Teil von KZ-Häftlingen unter unmenschlichen Bedingungen ausgeführt werden musste, kamen viele Menschen ums Leben. Nach Darstellungen der Mahn- und Gedenkstätte Mittelbau-Dora starben bei der Herstellung der Waffe mehr Menschen als bei ihrem Einsatz. Zudem versuchten die zur Herstellung der Waffe gezwungenen Häftlinge vielmals die Flügelrakete zu sabotieren, was auch zu Ausfällen führte. Dafür wurden Häftlinge oft wahllos ermordet und drangsaliert, was wiederum die Produktion verlangsamte.
Durch den Einsatz der Fi 103 gegen London starben 6184 Zivilisten, 17.981 wurden schwer verletzt. In Antwerpen und Umgebung wurden 10.145 Menschen verwundet oder getötet; außerdem waren weitere 4614 Opfer, größtenteils in Lüttich, zu beklagen.
Bei Erreichen der Zielreichweite brachte das vom Frontpropeller angetriebene Zählwerk die Höhensteuerung in Vollausschlag und leitete so den Absturz des Flugkörpers ein.[6] Häufig setzte dabei das Triebwerk aus und nach dem Ausbleiben des extrem lauten Motorengeräusches verblieben etwa 15 Sekunden bis zum Einschlag. Viele Londoner konnten sich retten, indem sie in diesen Momenten sofort Schutz suchten. Die Druckwelle der Explosion breitete sich manchmal über mehrere 100 Meter aus. Im Fall des Einschlags am Lewisham Market am 28. Juli 1944 belief sich die Explosionswirkung sogar auf bis zu 600 Meter in alle Richtungen.[27]
Gedenken
In Greencastle in Indiana gibt es ein Denkmal mit einer V 1 zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg (Lage) .
Literatur
- Theodor Benecke, Karl-Heinz Hedwig, Joachim Hermann: Flugkörper und Lenkraketen. Die Entwicklungsgeschichte der deutschen gelenkten Flugkörper vom Beginn dieses Jahrhunderts bis heute. Bernard & Graefe, Koblenz 1987, ISBN 3-7637-5284-6.
- Franz Josef Burghardt: Spione der Vergeltung. Die deutsche Abwehr in Nordfrankreich und die geheimdienstliche Sicherung der Abschussgebiete für V-Waffen im Zweiten Weltkrieg. Eine sozialbiografische Studie. Schönau 2018. ISBN 978-3-947009-02-2.
- Heinz Dieter Hölsken: Die V-Waffen.Entstehung – Propaganda – Kriegseinsatz. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1984, ISBN 3-421-06197-1.
- Benjamin King, Timothy Kutta: Impact: The History Of Germany’s V-weapons In World War II. Da Capo Press, 2003, ISBN 0-306-81292-4.
- Luftfahrt History, Heft 2: Fieseler Fi 103 „Reichenberg“ – Die Geschichte der bemannten V1.
- Wolfgang Gückelhorn, Detlev Paul: V1 – „Eifelschreck“ Abschüsse, Abstürze und Einschläge der fliegenden Bombe aus der Eifel und dem Rechtsrheinischen 1944/45. Helios-Verlag, Aachen 2004, ISBN 3-933608-94-5.
- Fritz Trenkle: Die deutschen Funklenkverfahren bis 1945. AEG-Telefunken-Aktiengesellschaft – Geschäftsbereich Hochfrequenztechnik, Ulm 1982, ISBN 3-87087-133-4; 2. Auflage Dr. Alfred Hüthig Verlag, Heidelberg 1987, ISBN 3-7785-1465-2).
- Fritz Trenkle: Die deutschen Funk-Navigations- und Funk-Führungsverfahren bis 1945. Motorbuchverlag, Stuttgart 1979, ISBN 3-87943-615-0.
- Gerätehandbuch der Fieseler Fi 103
- Steven J Zaloga: GERMAN V-WEAPON SITES 1943–45 (68 Seiten online-PDF) (Memento vom 15. Mai 2018 im Internet Archive)
Weblinks
- Flak-Ziel-Gerät 72. (video) In: www.youtube.com. Erprobungsstelle der Luftwaffe Karlshagen, 1944, abgerufen am 12. März 2018 (Beschreibung des Aufbaus und der Eigenschaften).
- V-1 THE ROBOT BOMB. (video) British Ministry of Information, PeriscopeFilm, 1944, abgerufen am 2. Juli 2014 (aktualisiert 2009; u. a. mit den charakteristischen Triebwerksgeräuschen, „This is a British documentary short released by The British Ministry of Information in 1944. It was made to describe the attacks made on England by Hitler’s V-1 bombs and the successful destruction of many of these bombs before they could fall on their targets.“).
- Berichte über die beiden Startrampen im Siebengebirge
- Bilderserien und Berichte
- Radiointerview mit einem ehemaligen Fieseler-Mitarbeiter über die Entwicklung der V1
- Video: Technische Detailerläuterungen in historischem Originalfilm
Einzelnachweise
- Ralf Georg Reuth (Hrsg.): Joseph Goebbels. Tagebücher 1924–1945. Taschenbuchausgabe, basierend auf der erweiterten gebundenen Sonderausgabe der Tagebücher, 5 Bde., München/Zürich: Piper Verlag 1999. – Eintrag vom 22. Juni 1944, Bd. 5, S. 2069, Anmerkung 132. Online verfügbar unter https://archive.org/details/JosephGoebbelsTagebucher (Stand: 8. August 2020).
- Wolfgang Gückelhorn, Detlev Paul: V1 – „Eifelschreck“. (s. u. Literatur)
- Das Geheimnis einer Geheimwaffe. In: Das kleine Volksblatt, 12. August 1944, S. 1 (online bei ANNO).
- Hansard
- Falk Urlen: Fieseler V1 aus Bettenhausen. In: Erinnerungen im Netz. Stadtteilzentrum Agathof e. V., 26. April 2011, abgerufen am 5. Januar 2022.
- FZG 76 Gerätehandbuch – Teil 2: Steuerung
- Förderverein Peenemünde (16. März 2006): Walter-Schleuder angekommen
- Horst Boog, Gerhard Krebs, Detlef Vogel: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 7, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2001, ISBN 3-421-05507-6, S. 392.
- Herbert A. Friedman: The German V1 Rocket Leaflet Campaign. 19. Dezember 2003, abgerufen am 30. November 2020 (englisch).
- Stefan Büttner, Martin Kaule: Geheimprojekte der Luftwaffe. Motorbuch, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-613-03899-8, S. 219–221.
- Wilfried Kopenhagen: Die V1 und ihre sowjetischen Kinder. In: Waffen-Arsenal Nr. 24, Podzun-Pallas, Wölfersheim-Berstadt 1999, S. 20–25
- kheichhorn.de: Fieseler V1
- Rainer Eisfeld: Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei. Paperback, 2012, ISBN 978-3-86674-167-6, S. 141–142.
- Jens-Christian Wagner: Auschwitz im Harz.
- Rainer Eisfeld: Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei. Paperback, 2012, ISBN 978-3-86674-167-6, S. 164.
- Andrew Thomas: Mosquito Aces of World War 2,Bloomsbury Publishing, 2013, ISBN 978-1-4728-0240-8, Seite 35
- Fieseler Fi-103 Gerätehandbuch. Teil 1, S. 44
- R. V. Jones: Most Secret War. New York 1978.
- Peter Pirker: Subversion deutscher Herrschaft: Der britische Kriegsgeheimdienst SOE und Österreich. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, ISBN 978-3-89971-990-1, S. 253 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Hansjakob Stehle: Die Spione aus dem Pfarrhaus. In: Die Zeit. 5. Januar 1996 (online auf zeit.de, registrierungspflichtig).
- Der Spiegel Nr. 47/1965 vom 17. November 1965, Unternehmen Armbrust, S. 101, abgerufen am 28. Juni 2010
- Deutsches Historisches Museum: Die „Wunderwaffen“ V1 und V2. Abgerufen am 28. Juni 2010
- Er hat die neue Waffe gesehen. In: Das kleine Volksblatt, 17. Juni 1944, S. 3 (online bei ANNO).
- Horst Boog, Gerhard Krebs, Detlef Vogel: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 7, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2001, ISBN 3-421-05507-6, S. 397.
- Horst Boog, Gerhard Krebs, Detlef Vogel: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 7, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2001, ISBN 3-421-05507-6, S. 395.
- flyingbombsandrockets.com: Doodlebug Summer (engl.)
- flyingbombsandrockets.com: Lewisham Market