Bullerbü (Schlagwort)
Bullerbü (auch: Bullerbü-Syndrom) ist ein mindestens seit den 2000er Jahren verwendetes politisches Schlagwort für ein als Idyll idealisiertes Bild Schwedens oder Skandinaviens bei Deutschen. Außerdem wird „Bullerbü“ für Vorstellungen grüner Politik verwendet.[1] Das fiktive Dorf Bullerbü (schwedisch: Bullerbyn, wörtlich: „Lärmdorf“), das einer Siedlung im südschwedischen Ort Vimmerby nachempfunden ist, geht auf die in der Bundesrepublik beliebte Kinderbuchreihe Wir Kinder aus Bullerbü der schwedischen Schriftstellerin Astrid Lindgren zurück. Zahlreiche Kindergärten und weitere Einrichtungen zur Kinderbetreuung tragen in Deutschland den Namen „Bullerbü“. Ein ähnliches, aus dem Dänischen stammendes Schlagwort für einen stereotypen skandinavischen Lebensstil ist Hygge.[2]
Stereotype
Das stereotype Schwedenbild besteht aus verklärenden positiven Assoziationen. Elemente dieser naiv-romantischen Vorstellung einer heilen Welt sind falunrote Holzhäuser,[3] klare Seen, grüne Wälder, Elche, blonde Haare, glückliche Menschen und Mittsommersonne. Ein Beispiel für das Bullerbü-Syndrom sind die in Schweden spielenden Romanzen und Familiengeschichten der deutschen Drehbuch- und Romanautorin Christiane Sadlo, die unter dem Pseudonym Inga Lindström schreibt. Über 40 dieser Romanzen sind seit 2004 mit großem Erfolg für das ZDF verfilmt worden. Die Geschichten werden zwar in Schweden verfilmt, aber der Inhalt ist von den realen schwedischen Verhältnissen weitgehend abgekoppelt. Idyllische Bilder des Landlebens, die mit Bullerbü in Verbindung gebracht werden, sind auch in großen deutschen Publikumszeitschriften wie Landlust, Landidee oder Mein schönes Land zu finden.[4]
Der Wirtschaftsjournalist Rüdiger Jungbluth erklärt 2006 in seinem Buch über den schwedischen Möbelkonzern IKEA den Erfolg des Unternehmens unter anderem mit dem „Bullerbü-Faktor“.[5] Der Kinderpsychiater Michael Schulte-Markwort verwendet die Metapher „Bullerbü“ in seinem Buch Superkids 2016 für ein „Idealbild einer Kindheit, die es nicht mehr gibt“.[6] Der rechte AfD-Politiker Björn Höcke bezeichnete 2017 die Heimat seiner Großeltern in Ostpreußen sowie seinen Wohnort im thüringischen Bornhagen gegenüber der NZZ als „Bullerbü“.[7][8]
Das „Bullerbü-Syndrom“
Der Direktor des Goethe-Instituts in Stockholm, Berthold Franke, hat 2007 mit einem vielbeachteten Essay in der schwedischen Tageszeitung Svenska Dagbladet den Begriff „Bullerbü-Syndrom“ in Anspielung auf das Stockholm-Syndrom geprägt.[9] Nach seiner Interpretation zeigt sich im Bullerbü-Syndrom weniger die Liebe der Deutschen zu Schweden, sondern vielmehr der Wunsch der Deutschen nach einem besseren Deutschland. Schweden repräsentiere hierbei eine intakte Gesellschaft und unberührte Natur.[10][11] Sein Essay Das Bullerbü-Syndrom erschien 2008 im Merkur auf Deutsch. Die schwedische Entsprechung des Begriffs, „Bullerbysyndromet“, wurde vom schwedischen Sprachrat im Februar 2008 offiziell in seinen Wortschatz aufgenommen.[12]
Politisches Schlagwort
„Bullerbü“ als Symbol für grüne Politik
Im deutschsprachigen Raum wird „Bullerbü“ als Schlagwort für grüne Politik genutzt, insbesondere für Konzepte ökologischer Stadtplanung mit autofreien Zonen, Grünflächen und ökologischem Bauen. Das Schlagwort wird dabei sowohl von grünen Politikern als auch von Kritikern grüner Politik genutzt.
Der Grünen-Politiker Robert Habeck verteidigte das grüne Bullerbü in einem Interview mit der FAZ im Jahr 2013:
Nichts ist schlecht an Bullerbü. Und Astrid Lindgren war eine Sozialrevolutionärin. Jeder Grüne kann sich auf sie berufen. Und damit auch auf eine Idylle: das Bild vom Haus mit Garten, Butterblumen, Schaukel im Apfelbaum und Räubertochter-Nächte. Die Hecken müssen nicht in den rechten Winkel geschnitten werden, das Haus darf ein bisschen windschief sein, und es dürfen auch ein paar Würmer in den Äpfeln leben. Aber wenn ich Apfelbaum, Kind und Haus sage, bin ich schon ziemlich dicht bei Martin Luther. Bürgerlichkeit schlechthin.[13][14]
Die CDU-Agrarministerin Julia Klöckner sagte Anfang 2020: „Wir werden nicht mit romantisierenden Bullerbü-Vorstellungen zurück zu einer vormodernen Landwirtschaft kehren, weil man sich ein Idyll sucht, weil der eigene Alltag vielleicht zu hektisch ist. Damit werden wir die Menschen nicht ernähren können.“[15]
Der Historiker Rolf-Ulrich Kunze konstatierte 2020 eine „grüne Sehnsucht nach einem retro-utopischen Bullerbü“.[16] Ulrich Schulte beschreibt die Vorstellung grüner Wirtschaftspolitik in seinem Buch Die grüne Macht 2021 als „entschleunigtes, aber modernes Bullerbü“, als „Gegenentwurf zum globalen Kapitalismus“.[17]
Berlin als Bullerbü
Die Grünen-Politikerin Bettina Jarasch forderte im Wahlkampf zur Berliner Abgeordnetenhauswahl 2021 „mehr Bullerbü mitten in der Hauptstadt“.[18] Die SPD-Kandidatin Franziska Giffey erwiderte, Berlin sei nicht Bullerbü.[19] Der CDU-Kandidat Kai Wegner sagte über eine geplante Umgestaltung des Boulevards Unter den Linden: „Berlin darf nicht Bullerbü werden“.[20] Medien kommentierten die Debatte mit der Frage, ob Berlin „mehr Bullerbü wagen“ solle, in Anspielung auf Willy Brandts Ausspruch „Mehr Demokratie wagen“.[21][22] Reinhard Mohr bezeichnete die Umgestaltung eines Teils der Berliner Friedrichstraße zur autofreien Zone 2021 in der Welt als das „deutsche Bullerbü“.[23] Bei der Präsentation des Koalitionsvertrags für den Senat Giffey sagte Jarasch, es stecke „viel Bullerbü“ darin.[24] Der Berliner FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja kritisierte die Verkehrspolitik von Jarasch, die im Senat Giffey Senatorin für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz wurde, zu Beginn des Jahres 2022: Sie verfolge das Ziel, „Berlin verkehrspolitisch zum Bullerbü zu entwickeln […]. Mag sein, dass sie sich dabei gern an das ländliche Bild ihrer bayerischen Heimat erinnert, mit den Anforderungen an eine Großstadt hat dies nichts zu tun.“[25] Die Berliner Grünen-Fraktionsvorsitzende Antje Kapek bezeichnete die Sprecherin für Fuß- und Radverkehr Oda Hassepaß im Februar 2022 als diejenige, die für „alle Bullerbü-Themen“ zuständig sei.[26]
Im Bundestagswahlkampf 2021
Die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock beschrieb ihre Kindheit auf dem Dorf in ihrem 2021 erschienenen Buch Jetzt. Wie wir unser Land erneuern als „ein bisschen Bullerbü auf Norddeutsch“.[27] Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner kritisierte die Politik der Grünen während des Wahlkampfs zur Bundestagswahl 2021 und ihre Forderung, elektrische Lastenfahrräder zu fördern, im Bundestag mit der Formulierung, die Grünen wollten aus ganz Deutschland ein „Bullerbü“ machen, „eine ländliche Dorfidylle mit subventioniertem Lastenfahrrad“.[28][29] Er verwendete das Schlagwort in verschiedenen Wahlkampfauftritten.[30][31] Auf dem FDP-Parteitag vor der Wahl sagte Lindner: „Klimaschutz by Bullerbü wird aber niemals ein Exportschlager für die Welt sein“.[32] Matthias Heine wies in der Welt darauf hin, dass das von Astrid Lindgren beschriebene Leben in Bullerbü nicht dem idyllischen Klischee entspreche, auf das sich das Schlagwort im Wahlkampf beziehe.[33] Der Wirtschaftswissenschaftler Gustav Horn kritisierte 2021 in der SPD-Zeitung Vorwärts die Steuerpolitik der CDU als „Bullerbü der Ökonomie“.[34]
Weblinks
- Inka Schmeling: Südschweden: Unser kleines Bullerbü. In: Die Zeit. 7. Dezember 2016
- Daniela Martens: Ein überholtes Kinderbuchklischee: Berlin ist nicht Bullerbü, Tagesspiegel, 19. August 2021
- Caroline Salzinger / Claes Aronsson: Tysk valparlör 4: Bullerbü, Sveriges Radio, 11. September 2021
- Emily Thomey / Christine Watty: Neues aus Bullerbü: Viel reden und wenig sagen?, Deutschlandfunk Kultur, 16. September 2021, Online
Literatur
- Katja Köhne: Zwischen Brüssel und Bullerbü: Erwartungen und Realitäten in der schwedischen EU-Politik. 2001 (google.de [abgerufen am 22. September 2021]).
- Berthold Franke: „Tyskarna har hittat sin Bullerbü“, Svenska Dagbladet, 12. September 2007, Online
- Berthold Franke: Das Bullerbü-Syndrom. In: MERKUR. Band 62, Nr. 706, 2008, ISSN 0026-0096, S. 256–261 (merkur-zeitschrift.de [abgerufen am 7. September 2021]).
- Julia Herzog: Bullerbü und der Rest der Welt: Konstruktionen der (inter-)nationalen Identität Schwedens im 20. Jahrhundert. AVM, 2010 (Jena, Univ., Diss., 2009), ISBN 978-3-86924-761-8
- Lisa Källström: Bullerbyberättelser i tysk populärkultur. In: IASS 2010 Proceedings. Band 0, Nr. 0, 17. Mai 2011 (lu.se [abgerufen am 14. September 2021]). S. 1–17, PDF
- Anna N. Wolter: Ärztetraum von Bullerbü. In: Via medici. Band 19, Nr. 4, Juni 2014, ISSN 0949-2488, S. 14–18, doi:10.1055/s-0034-1384790 (thieme-connect.de [abgerufen am 14. September 2021]).
- Andreas Möller: Zwischen Bullerbü und Tierfabrik: Warum wir einen anderen Blick auf die Landwirtschaft brauchen. Gütersloher Verlagshaus, 2018, ISBN 978-3-641-23281-8.
- Lars Mandelkow: Der Bullerbü-Komplex: Und die Kunst, es gut sein zu lassen. SCM Hänssler, 2020, ISBN 978-3-7751-7494-7
Einzelnachweise
- Abschied von Bullerbü: Baerbocks Start in die Weltpolitik. Abgerufen am 25. Januar 2022 (deutsch).
- Korrespondentenalltag - Wenn Bullerbü nur ein Teil der Wahrheit ist. Abgerufen am 18. Oktober 2021 (deutsch).
- Inka Schmeling: Südschweden: Unser kleines Bullerbü. In: Die Zeit. 7. Dezember 2016, abgerufen am 26. September 2021.
- Antje Hildebrandt: Heimat extrem: Euterwarme Bullerbü-Idylle beim neuen "Landlust TV". In: DIE WELT. 4. Dezember 2011 (welt.de [abgerufen am 14. Februar 2022]).
- Rüdiger Jungbluth: Die 11 Geheimnisse des IKEA-Erfolgs. Bastei Lübbe (Bastei Verlag), 2008, ISBN 978-3-404-60594-1, S. 187 ff. (google.de [abgerufen am 19. September 2021]).
- Prof Dr Michael Schulte-Markwort: Superkids: Warum der Erziehungsehrgeiz unsere Familien unglücklich macht. Pattloch eBook, 2016, ISBN 978-3-629-32096-4 (google.de [abgerufen am 13. September 2021]).
- Benedict Neff: Der wohl meistgehasste Politiker Deutschlands. Abgerufen am 22. September 2021.
- Raimar Stange, Miriam Rummel, Florian Waldvogel: Haltung als Handlung - das Zentrum für Politische Schönheit. Zentrum für Politische Schönheit, 2018, ISBN 978-3-88960-171-1, S. 60 (google.de [abgerufen am 22. September 2021]).
- Sabine Klaeger, Britta Thörle: Sprache(n), Identität, Gesellschaft: Eine Festschrift für Christine Bierbach. ibidem-Verlag / ibidem Press, 2012, ISBN 978-3-8382-5904-8, S. 205 f. (google.de [abgerufen am 14. September 2021]).
- Tyskarnas vilda kärlek till Sverige (Memento des Originals vom 23. Februar 2011 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. , Sydsvenskan, 9. August 2010
- Traum von verlorener Wirklichkeit: Die Deutschen und ihre Liebe zum Schwedenklischee, Radio Schweden, 11. Dezember 2007
- „Bullerbü-Syndrom“ vom Schwedischen Sprachrat zum „Wort des Monats“ gewählt, Goethe-Institut Stockholm Archiv 2007-2010
- Schwarz-Grün: „Nichts ist schlecht an Bullerbü“. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 19. September 2021]).
- Stefan Berkholz: Das ganze Ding ist ein Risiko: Robert Habeck - eine Nahaufnahme. Karl Blessing Verlag, 2021, ISBN 978-3-641-26514-4 (google.de [abgerufen am 19. September 2021]).
- Agrarministerin: Klöckner will keine "Bullerbü"-Landwirtschaft. Abgerufen am 19. September 2021.
- Rolf-Ulrich Kunze: Reflexionen zur Zeitgeschichte: Essays zu Subjekt und Methodik. Kohlhammer Verlag, 2020, ISBN 978-3-17-038333-3, S. 63 (google.de [abgerufen am 7. September 2021]).
- Ulrich Schulte: Die grüne Macht: Wie die Ökopartei das Land verändern will. Rowohlt E-Book, 2021, ISBN 978-3-644-00902-8 (google.de [abgerufen am 13. September 2021]).
- Ein überholtes Kinderbuchklischee: Berlin ist nicht Bullerbü. Abgerufen am 7. September 2021.
- Bert Schulz: Wahlkampf in Berlin: Giffey unterm Rad. In: Die Tageszeitung: taz. 28. Juni 2021, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 7. September 2021]).
- Peter Neumann: Verkehr in Berlin: Straße Unter den Linden ist künftig für Autos tabu. Abgerufen am 8. September 2021.
- Berliner Zeitung: Pro und Kontra: Soll Berlin mehr Bullerbü wagen? Abgerufen am 9. September 2021.
- Bert Schulz: Grüne Pläne für Stadtumbau in Berlin: „Mehr Bullerbü“ wagen. In: Die Tageszeitung: taz. 4. August 2021, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 9. September 2021]).
- Reinhard Mohr: Selbstverzwergung: Das deutsche Bullerbü. In: DIE WELT. 21. August 2021 (welt.de [abgerufen am 7. September 2021]).
- Christian Latz: Berlins Grüne stimmen Koalitionsvertrag zu. In: Der Tagesspiegel Online. 12. Dezember 2021, ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 13. Dezember 2021]).
- dpa: Sebastian Czaja (FDP): Bei Verkehrspolitik an Paris orientieren. Abgerufen am 12. Januar 2022 (deutsch).
- Rainer Rutz: Gut gelaunt gegen die Autolobby (nd-aktuell.de). Abgerufen am 10. Februar 2022.
- Baerbock: Die Provinz-Grüne – „Ein bisschen Bullerbü auf Norddeutsch“. 21. Juni 2021, abgerufen am 9. September 2021.
- Marcus Gatzke, Ileana Grabitz: Christian Lindner: "Bullerbü ist nicht mein Bild von Deutschland". In: Die Zeit. 1. September 2021, abgerufen am 7. September 2021.
- Bartsch-Spruch bringt sogar Lindner zum Lachen. Abgerufen am 8. September 2021.
- FDP-Chef Christian Lindner: Der Störenfried im grünen Bullerbü. Abgerufen am 17. September 2021 (österreichisches Deutsch).
- Philipp Vetter: Bundestagswahl: Bei der Wohlstandsfrage düpiert Lindner Baerbock mit „Bullerbü“-Spitze. In: DIE WELT. 16. September 2021 (welt.de [abgerufen am 17. September 2021]).
- Wahlkampf-Endspurt: Die Parteien positionieren sich. 19. September 2021, abgerufen am 20. September 2021.
- Matthias Heine: Wahlkampf: Bullerbü? Ihr habt keine Ahnung von der Härte des Lebens! In: DIE WELT. 11. September 2021 (welt.de [abgerufen am 13. September 2021]).
- Wirtschaftsprogramm der CDU: Auf Treibsand gebaut. 17. September 2021, abgerufen am 19. September 2021.