Tschechoslowakismus
Der Tschechoslowakismus (tschechisch: Čechoslovakismus, slowakisch: Čechoslovakizmus) geht einerseits als Ideologie davon aus, dass Tschechen und Slowaken eine einzige Nation darstellen, und andererseits stellt er ein politisches Programm dar, das entwickelt wurde um beide Nationen in einem gemeinsamen Staat zu vereinigen. Dabei existierte der Tschechoslowakismus in zwei Versionen: die erste ging davon aus, dass Tschechen und Slowaken eine gemeinsame tschechoslowakische Nation bilden, die aus zwei Stämmen – Tschechen und Slowaken – geformt wird. Die zweite Version ging davon aus, die Slowaken seien in Wirklichkeit weniger entwickelte Tschechen.
Als politisches Programm wurde der Tschechoslowakismus erstmals während des Ersten Weltkriegs von der im Ausland aktiven Unabhängigkeitsbewegung formuliert, um die Errichtung eines tschechoslowakischen Staates unter Einschluss der tschechischen Länder und der Slowakei zu rechtfertigen. Demgegenüber reichen die Wurzeln der Idee, Tschechen und Slowaken seien Zwillingserscheinungen der gleichen Nation, bis zu den nationalen Erweckungsbewegungen des späten 18. Jahrhunderts und frühen 19. Jahrhunderts zurück. Ihre Blütezeit erlebte die tschechoslowakistische Ideologie während der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918–1938), als sie zur Staatsdoktrin erhoben wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Tschechoslowakismus offiziell verworfen.[1]
Als Hauptvertreter des Tschechoslowakismus gelten Tomáš Garrigue Masaryk, Edvard Beneš und Vavro Šrobár.
Entstehung
Die Idee eines zwischen Tschechen und Slowaken existierenden Einheitsgefühls ging dem Tschechoslowakismus voraus und spielte eine wichtige, wenngleich wechselvolle Rolle bei den nationalen Erweckungsbewegungen beider Völker.[2] Zu den frühen Vertretern zählen auf slowakischer Seite der Sprachforscher und Dichter Ján Kollár sowie der Gelehrte Pavel Jozef Šafárik, die mit den Vorreitern der tschechischen nationalen Wiedergeburt in Austausch standen.[3] In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwarfen tschechische und slowakische Politiker um T. G. Masaryk den Tschechoslowakismus als praktische Lösung für die Frage der Verselbständigung der historischen Länder Böhmens, Mährens, Mährisch-Schlesiens sowie der Slowakei. Dabei ging der Tschechoslowakismus aus einem reichen Kontext konkurrierender, zum Teil bei weiten Teilen der tschechischen und slowakischen Intelligenz anerkannter Theorien bezüglich der Situation der slawischen Bevölkerung im Kaiserreich hervor.
Verhältnis zum historischen Staatsrecht
Der Tschechoslowakismus wurde der älteren, u. a. vom böhmischen Adel und den Alttschechen vertretenen Konzeption des historischen Staatsrechts entgegengestellt. Dieser zufolge sollte den historischen Ländern der böhmischen Krone politische Selbstverwaltung innerhalb einer föderalisierten Donaumonarchie zukommen, analog etwa zur Stellung Transleithaniens nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867.[4] Letzteres sei laut Masaryk unzeitgemäß und als politisches Ziel unerreichbar. Die Selbständigkeit allein in den historischen Grenzen wäre nur um den Preis zu sichern gewesen, dass ein Drittel der Bevölkerung des neuen Staates Deutsch als Muttersprache gehabt hätte. Demgegenüber ermögliche ein Zusammengehen mit der Slowakei respektive den Slowaken, den neuen Staat nach Osten auszudehnen und den deutschsprachigen Anteil zu minimieren. Anliegen der ersten Tschechoslowakisten war also keineswegs, die politische Eigenständigkeit eines der beiden oder beider Völker zu leugnen, sondern durch wechselseitige Unterstützung die unerwünschte Situation beiderseits der Leitha zu überwinden.[5]
Verhältnis zum Panslawismus
Eine weitere Ideologie, von der sich der Tschechoslowakismus prinzipiell absetzen sollte, stellte der Panslawismus dar.[6] Diesen vertrat in Böhmen an prominenter Stelle Karel Kramář, Vorsitzender der jungtschechischen Partei.
Dem Panslawismus, insbesondere dessen panrussischer Spielart, die ein Zusammengehen der slawischen Nationen unter Führung Russlands propagierte, stellte sich vor allem der mit den Verhältnissen im Zarenreich vertraute Masaryk entgegen. In seiner Haltung berief er sich auf den tschechischen Aufklärer Karel Havlíček Borovský, der gerade wegen seiner Russlandkenntnisse gegen den zeitgenössischen Panslawismus polemisierte.[7] Dem Panslawismus als eine politische Ideologie, die alle slawischen Nationalitäten miteinbezieht, hielten die Tschechoslowakisten ihre lokale Konzeption entgegen, aus der leichter ein durchsetzbares politisches Programm zu entwickeln gewesen sei.[8]
Umsetzung
Im Verlauf des Ersten Weltkriegs bot sich den slawischen Völkern in der Habsburgermonarchie die Möglichkeit, ihre politische Eigenständigkeit durchzusetzen. Für die Slowaken erwies sich, während Bündnisse mit Russland und den Polen durchaus erwogen wurden, das Zusammengehen mit den tschechischen Ländern als am aussichtsreichsten. Mit der absehbaren Niederlage des Deutschen Kaiserreichs und Österreich-Ungarns wurde die Zerschlagung des Habsburgerreiches durch die Siegermächte wahrscheinlich; gleichzeitig fanden sich die Slowaken und Tschechen im Exil, insbesondere in den USA, der Schweiz und Frankreich, zur Zusammenarbeit bereit. Wichtige zu Kriegszeiten verfasste Dokumente hierzu sind das Abkommen von Cleveland, von tschechischen und slowakischen Emigranten 1915 unterzeichnet, sowie das Pittsburgher Abkommen aus dem Jahr 1918; dank dieser Demonstration von Geschlossenheit gelang es schließlich, den US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zur Zustimmung zur tschechisch-slowakischen Staatsgründung zu bewegen.[9]
Nach der Entstehung der ČSR wurde der Tschechoslowakismus zur Staatsdoktrin, die 1920 in der Verfassung verankert wurde.[10]
Ohne den Tschechoslowakismus hätte es in der ČSR keine in diesem Maße überwiegende Staatsnation gegeben. Für die Slowaken schuf das Zusammengehen mit den Tschechen gewissermaßen Raum für die Emanzipation als eigenständiges Volk, das noch vor dem Krieg von völliger Magyarisierung bedroht gewesen war. Während die Anerkennung des Tschechoslowakismus unter Tschechen selbstverständlich war, bewahrte sich die Mehrheit der Slowaken im Bewusstsein der slowakischen Selbständigkeitsbestrebungen, die bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichten, eine Sichtweise auf die Slowakei als eigenständige Entität. Zudem wurden die tschechisch-slowakischen Verträge, über die der Weg zur Staatsgründung bereitet wurde, von slowakischen Autonomisten, vor allem aus der Hlinka-Partei, zur Unterminierung des Tschechoslowakismus benutzt – laut Pittsburger Abkommen sollte der Slowakei Autonomie eingeräumt werden.[11] Der tschechisch-slowakische Staat mit seiner offiziell tschechoslowakistischen Doktrin verursachte demnach in der Slowakei Abneigung gegen ebendiese Doktrin.[12]
Der Prozess der Beseitigung des Tschechoslowakismus wurde im Jahr 1968 mit der Einführung der tschechoslowakischen Föderalverfassung und der de jure-Errichtung zweier Volksrepubliken, der Slowakischen sowie der Tschechischen Sozialistischen Republik, die gemeinsam die ČSSR bildeten, abgeschlossen.[13] Bei der Föderalisierung der ČSSR handelte es sich um die einzige Maßnahme der Reformer des Prager Frühlings, die nach der militärischen Intervention der Warschauer Fünf nicht revidiert, sondern auch während der Normalisierung beibehalten wurde.
Siehe auch
Literatur
Monographien und Aufsätze
- Elisabeth Bakke: Czechoslovakism in Slovak history. In: Mikuláš Teich, Dušan Kováč, Martin D. Brown (Hrsg.): Slovakia in History. Cambridge University Press, New York 2011, ISBN 978-0-521-80253-6, S. 247–268.
- Jörg K. Hoensch: Tschechoslowakismus oder Autonomie. Die Auseinandersetzung um die Eingliederung der Slowakei in die Tschechoslowakische Republik. In: Hans Lemberg, et al. (Hrsg.): Studia Slovaca. Studien zur Geschichte der Slowaken und der Slowakei. (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Band 93), Oldenbourg Verlag, München 2000, ISBN 3-486-56521-4, S. 71–106.
- Adam Hudek, Michal Kopeček, Jan Mervart: Čechoslovakismus [= Tschechoslowakismus]. Nakladatelství lidové noviny, 2020. (tschechisch)
- Jan Rychlík: Tschechoslawismus und Tschechoslowakismus. In: Walter Koschmal, Marek Nekula, Joachim Rogall (Hrsg.): Deutsche und Tschechen: Geschichte, Kultur, Politik. Zweite, durchgesehene Auflage, Verlag C.H.Beck, München 2003, ISBN 3-406-45954-4, S. 91–101.
Überblicksdarstellungen und weiterführende Literatur
- Carol Skalnik Leff: National Conflict in Czechoslovakia. The Making and Remaking of a State, 1918–1987. Princeton University Press, Princeton 1988.
- Carol Skalnik Leff: The Czech And Slovak Republics: Nation Versus State. New York 1997.
Fußnoten
- Bakke: Czechoslovakism in Slovak history. S. 247.
- Bakke: Czechoslovakism, S. 248.
- Ján Mlynárik: História česko-slovenských vzťahov. In: Karel Vodička (Hrsg.): Dělení Československa. Deset let poté … Prag 2003, ISBN 8-072-07479-2, S. 11–29, 18 f.
- Zdeněk Veselý: Ke koncepcím české státnosti od konce 18. do počátku 20. století. In: Stanislava Kučerová et al. (Hrsg.): Českoslovenství Středoevropanství Evropanství 1918–1998. Úvahy, svědectví a fakta. Brno 1998, ISBN 8-085-61526-6, S. 85–95.
- Dušan Kováč: Slováci a Česi. Bratislava 1997, ISBN 8-088-88008-4, S. 55–57.
- Antonín Měšťan: Slovanský prvek při vzniku Československa. In: Stanislava Kučerová et al. (Hrsg.): Českoslovenství Středoevropanství Evropanství 1918–1998. Úvahy, svědectví a fakta. Brno 1998, ISBN 8-085-61526-6, S. 156–159.
- Jaroslav Opat: Filozof a politik T. G. Masaryk 1882–1893. Příspěvek k životopisu. Prag 1990, S. 207–217.
- Jaroslav Opat: Průvodce životem a dílem T. G. Masaryka. Česká otázka včera a dnes. Prag 2003, ISBN 8-086-14213-2, S. 122–133.
- Kováč, S. 63–67.
- D. h., es wurde keine ausdrückliche staatsrechtliche Unterscheidung zwischen tschechischem und slowakischem Territorium vorgenommen, während dies laut § 3 hinsichtlich der Karpato-Ukraine sehr wohl der Fall war. Die Präambel ist in der 1. Person Plural formuliert, als Sprecher das tschechoslowakische Volk angegeben. Des Weiteren ist in § 131 von einer tschechoslowakischen Sprache die Rede (Verfassung der Tschechoslowakei, § 121/1920 Sb., tschechisch online: www.lexdata.cz (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. ). Das Sprachenrecht wurde allerdings in ein eigenes Gesetz ausgegliedert (§ 122/1920 Sb., deutsch online: http://www.verfassungen.net).
- Mlynárik, S. 24 f.
- Kováč, S. 68 f.
- Kieran Williams: The Prague Spring and its Aftermath. Czechoslovak politics, 1968–1970. Cambridge 1997, ISBN 0-521-58803-0, S. 223.