St.-Martinskirche (Wichmannshausen)
Die St.-Martinskirche ist die Pfarrkirche der evangelischen Kirchengemeinde in Wichmannshausen, einem Ortsteil der Stadt Sontra im nordhessischen Werra-Meißner-Kreis. Sie gehört zu den sogenannten Bauernbarockkirchen im nordöstlichen Hessen, deren Innenräume eine farbenfrohe üppige Ausmalung schmücken. Wegen ihrer künstlerischen, geschichtlichen und baulichen Bedeutung ist die St.-Martinskirche ein geschütztes Kulturdenkmal.[1] Die Kirchengemeinde Wichmannshausen ist mit den Gemeinden Hoheneiche und Mitterode zu einem Kirchspiel verbunden, das zum Kirchenkreis Werra-Meißner im Sprengel Kassel der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck gehört. Gemeinsam feiern die drei Gemeinden am ersten Sonntag im Juli einen „Gottesdienst im Grünen“ an der „Lauseeiche“.
Kirchengebäude
Zu den ältesten Bauteilen der Kirche gehört der untere Bereich des hohen gotischen Chorturms, dessen Errichtung in das 12.[1] oder 13. Jahrhundert[2] datiert wird. Das Obergeschoss des Turms mit der Holzfachwerkkonstruktion wurde in den 1480er Jahren aufgesetzt.
Das Kirchenschiff wurde, wie der Turm, in massivem Sandsteingefüge errichtet. Den barocken Saalbau romanischen Ursprungs schließt ein Krüppelwalmdach ab. Zerstört und ausgebrannt im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) wurde es erst Generationen später wieder neu errichtet. Nach dem langanhaltenden Krieg waren die ländlichen Gebiete verwüstet, die Dörfer gebrandschatzt und ihre Kirchen zerstört. Es dauerte lange, bis die Orte wieder aufgebaut werden konnten.
Der Neubau begann in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts. Dabei blieben die Außenmauern stehen und das Kircheninnere und der erhöhte Dachstuhl wurden neu gestaltet. Um ausreichend Sitzplätze zu gewinnen, entstanden im Kirchenschiff an drei Seiten zweigeschossige Emporen auf Holzsäulen, die bis zur Decke reichen und über dem Mittelteil die Rundtonne tragen. Diese Raumkonzeption wurde in Anlehnung an die Schmalkaldener Schlosskirche verwirklicht, die zum prägenden Vorbild für zahlreiche protestantische Kirchenbauten geworden war.
Ein weiteres Charakteristikum stellt die konsequente Verwendung von Holz anstelle von Stein und Stuck dar. In dem waldreichen Bergland der Region war Holz ein bewährter und kostengünstiger Baustoff. Zum einheitlichen Stil dieser Kirchen gehörte ebenfalls, dass alle Holzflächen ausgemalt wurden. Kein Holz sollte als solches mehr sichtbar sein. So ist die Holztonnendecke der St.-Martinskirche zum Himmelsgewölbe geworden, auf dessen blauem Grund Wolken und Gestirne sichtbar werden. Im Jahr 1968 wurde sie umfangreich überarbeitet.[3]
Ausstattung
Während das äußere Erscheinungsbild einen wehrhaften Eindruck vermittelt, eröffnet sich im Innenraum „ein bunter barocker Festsaal“, der die Besucher mit einer üppigen Ausmalung überrascht. Auf den Brüstungen der Emporen finden sich Bildpredigten mit einer Kombination von Texten und farbigen Blumenornamenten, die der Bezeugung des Evangeliums und der Ermahnung zu einem christlichen Lebenswandel dienen sollen. „Hier hat um 1700 die Bilderfreude des Barockzeitalters sakrale Räume geschaffen, die die zeitgenössische Freude an Farben und Bildern zu nutzen wusste, um den evangelischen Glauben zum Ausdruck zu bringen.“ Die Maler waren meistens regional tätige Handwerker, die sich bei der Ausmalung bewährter Motive und Traditionen bedienten.[3]
Ein besonderer Ausstattungsgegenstand ist das klassizistische Epitaph aus dem Ende des 18. Jahrhunderts der Caroline von Boyneburg, geborene Gräfin von Wartensieben, die mit ihrem Mann im Kirchenchor begraben liegt. Als wertvoll angesehen werden auch die Darstellung des gekreuzigten Jesus im Zentrum des Chores sowie das restaurierte Martinsbild mit der Mantelteilung an der östlichen Wand des Altarraums. Sie gehören zu den ältesten Malereien in der Kirche. Als erwähnenswert gelten auch die Kanzel aus dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, das noch ursprüngliche Gestühl und die im Jahr 1730 fertiggestellte Dauphin-Orgel.[1][4]
Orgel
Die Orgel baute im Jahr 1730 Johann Eberhard Dauphin, der mit der Orgel in der St.-Nikolaus-Kirche zu Mitterode in 1728 und der St.-Martinskirche zu Hoheneiche in 1731, alle drei Orgeln im Kirchspiel Wichmannshausen geschaffen hat. Der um 1670 geborene Dauphin war der Sohn einer hugenottischen Familie, die zunächst in Dörna bei Mühlhausen in Thüringen nachweisbar war. Sein Vater hatte durch den Erwerb von Grundbesitz im Nicolaiviertel von Mühlhausen das Bürgerrecht erworben. Johann Eberhardt erlernte, wie auch sein jüngerer Bruder Johann Christian, das Orgelbauerhandwerk bei dem bekannten Mühlhäuser Meister Johann Friedrich Wender, der eng mit Johann Sebastian Bach zusammengearbeitet hatte. Nach Abschluss seiner Lehre arbeitete Dauphin zunächst einige Jahre in der Werkstatt Wenders als Geselle. Zwischen 1713 und 1715 siedelte Dauphin mit seiner Familie nach Iba, in die damalige Landgrafschaft Hessen-Kassel über. In der Kirche zu Iba, die Jakobus dem Älteren geweiht war, schuf er eine große Orgel, von der das Gehäuse und sechs Register noch original erhalten sind. Von seinem umfangreichen Werk lassen sich innerhalb der nordhessischen Region acht Orgeln nachweisen, einschließlich der drei Orgeln im Kirchspiel Wichmannshausen. Unmittelbar nach der Fertigstellung seiner letzten Orgel ist er verstorben. Gemeinsam mit seiner Frau Anna Regina wurde er im April 1731 auf dem damaligen Friedhof neben der Kirche in Hoheneiche begraben.[5]
Pfarrer Kurt Reuber und die Stalingradmadonna
Nach seiner Promotion zum Doktor der Theologie übernahm Kurt Reuber (1906–1944) im April 1933 den Pfarrdienst in Wichmannshausen, Hoheneiche und Mitterode und begann zu dieser Zeit auch mit dem Medizinstudium in Göttingen, das er ebenfalls als Doktor abschloss. Im Jahr 1939 wurde er eingezogen und nahm ab November 1942 als Truppenarzt an der Schlacht von Stalingrad teil. Weihnachten 1942 zeichnete Kurt Reuber mit Kohle auf der Rückseite einer russischen Landkarte, 105 mal 80 Zentimeter groß, für seine Kameraden eine Mutter, umfangen von einem schützenden Tuch, die sich ihrem Kind zuneigt, mit der Umschrift „1942 Weihnachten im Kessel – Festung Stalingrad – Licht, Leben, Liebe“. Für viele ist die „Madonna von Stalingrad“ zum Sinnbild für die Grausamkeit des Krieges und auch der Geborgenheit im schlimmsten Schrecken geworden. Die Wichmannshäuser Kirche beherbergt an der Taufsteinseite eine Replik der Madonna, das Original wird in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ausgestellt. Pfarrer Reuber starb 1944 in russischer Kriegsgefangenschaft. Im Februar 1946 hielt der Pfarrer und Dichter von Kirchenliedern, Arno Pötzsch in der St.-Martinskirche die Trauerfeier.[6]
Patronat
Die St.-Martinskirche ist eine Patronatskirche der Familie von Boyneburgk. Bis Ende des 15. Jahrhunderts besaß das Eschweger Cyriakusstift das Patronat. Neben dem Patronatsrecht über eine Reihe von Pfarrkirchen, verfügte es auch über weltliche Lehen, verteilt in einem Gebiet vom Eichsfeld und der Gegend um Mühlhausen bis in den Bereich des Amtes Sontra. Nach der Einführung der Reformation in Hessen wurde das Stift im Jahr 1527 säkularisiert und die Besitzungen gingen in das landgräfliche Vermögen über. Das teilsouveräne Fürstentum der Landgrafschaft Hessen-Rotenburg, die sogenannte „Rotenburger Quart“ übernahm von 1627 bis 1834 das Patronatsrecht der ehemaligen landesherrlichen Pfarrstellen und hat das Patronat im Jahr 1834 an das niederhessisch-thüringische Adelsgeschlecht Boyneburg-Stedtfeld vertauscht. Der Patron der St.-Martinskirche ist seit den 1970er Jahren Otto von Boyneburgk vom Gut Boyneburgk. Neben dem Ehrenrecht auf einen besonderen Sitzplatz in der Kirche besitzt der Patron das Präsentationsrecht vor jeder Besetzung der Pfarrstelle gehört zu werden.[7][8]
Lage
An der Kirche führt der Elisabethpfad von Eisenach nach Marburg und der „Barbarossaweg“, mit der Wegzeichen-Markierung X8, vorüber. Auch der Herkules-Wartburg-Radweg, von Kassel bis Eisenach und die Nordhessenroute Eder-Fulda-Werra des Hessischen Radfernwegs R5 führen an der St.-Martinskirche vorbei.
Literatur
- Peer Zietz in Zusammenarbeit mit Thomas Wiegand: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Kulturdenkmäler in Hessen, Werra-Meißner-Kreis I, Altkreis Eschwege. Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig/Wiesbaden 1991, ISBN 3-528-06240-1, S. 429 f.
- Georg Dehio. Bearbeitet von Magnus Backes: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Hessen. 1. Auflage. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 1966, S. 855.
- Gerhard Jost: Der Himmel prächtig ausgeschmückt – Barocke Ausmalungen in Kirchen in Osthessen und im benachbarten Thüringen. Evangelischer Medienverband Kassel, 2010, ISBN 978-3-89477-878-1.
Weblinks
- Webauftritt des Kirchspiels auf der Website des Kirchenkreises Werra-Meißner
Einzelnachweise
- Peer Zietz in Zusammenarbeit mit Thomas Wiegand. In: Denkmaltopographie Werra-Meißner-Kreis I. Altkreis Eschwege. S. 435 f.
- Wichmannshausen. In: Georg Dehio. Bearbeitet von Magnus Backes: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler - Hessen. S. 855.
- Evangelische Kirche Wichmannshausen. In: Evangelische Bauern-Barock-Kirchen in Osthessen. Broschüre der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und der Tourismusförderung des Landkreises Hersfeld-Rotenburg; abgerufen am 23. November 2020.
- St. Martinskirche Wichmannshausen auf der Webseite der Kirchengemeinde Wichmannshausen; abgerufen am 23. November 2020.
- Der Orgelbauer Johann Eberhardt Dauphin. Nach einem Text von Bernhard Hermann Roth anlässlich der Aktion „Offene Kirchen“ am 11. Juni 2006. (Quelle: Hans Gräfe: Ein Dörnaer auf der Spur seiner Vorfahren.) Auf der Webseite der Kirchengemeinde Wichmannshausen; abgerufen am 23. November 2020.
- Madonna von Stalingrad – Kurt Reuber. Auf der Webseite der Kirchengemeinde Wichmannshausen; abgerufen am 23. November 2020.
- Michelle Funk: Wolken, Engel, Blumenranken. In Werra-Rundschau vom 14. November 2018.
- Wichmannshausen, Werra-Meißner-Kreis. Historisches Ortslexikon für Hessen. (Stand: 1. Juli 2019). In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS).