Sefton Delmer
Denis Sefton „Tom“ Delmer (* 24. Mai 1904 in Charlottenburg[1], Deutschland; † 4. September 1979 in Lamarsh, Essex, Vereinigtes Königreich) war ein britischer Journalist.
Leben und Wirken
Kindheit
Denis Sefton Delmer wurde als Sohn des australischen Professors für Anglistik Frederick Sefton Delmer und dessen Ehefrau Isabella Mabel geb. Hook in der elterlichen Wohnung in der Kantstraße 36 in Charlottenburg geboren[1]. Sein Vater war Dozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität). Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde sein Vater als feindlicher Ausländer im Lager Ruhleben interniert.[2] 1917 kamen die Delmers im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zwischen der britischen und deutschen Regierung frei und wanderten nach England aus.[3][4]
In Berlin ging Sefton Delmer auf das Friedrichwerdersche Gymnasium, in London auf die St Paul's School und in Oxford auf das Lincoln College, an dem er einen nur mäßigen Abschluss in modernen Sprachen erzielte. Er sprach bis zum fünften Lebensjahr ausschließlich Deutsch, und wenn er Englisch sprach, war ein leichter deutscher Akzent noch bis 1939 zu hören.[5]
Korrespondent in Berlin
Nach dem Studium arbeitete Delmer zunächst als freier Journalist und stieg 1927 in die Londoner Redaktion der Tageszeitung Daily Express ein. Der Inhaber des Express, Lord Beaverbrook, schickte ihn 1928 als Korrespondenten nach Berlin, wo er Büroleiter des Express wurde. In dieser Funktion lernte er u. a. den Hitler-Sponsor Ernst Hanfstaengl und den Stabschef der SA Ernst Röhm kennen und freundete sich mit ihm an. Röhm stellte den Kontakt zu Adolf Hitler her, mit dem er als erster britischer Journalist ein Interview führte. Früh erkannte Delmer die außerordentliche Wirkung, die Hitler auf die Deutschen hatte.[6] Er beschrieb die Situation in den Jahren vor der Machtergreifung als „eine Atmosphäre der Unwirklichkeit, […] in der alle Arten von Erweckungspredigern, Scharlatanen, Quacksalbern und Schwindlern gediehen […] Im Februar 1929 erblickte ich zum erstenmal den größten aller Wundermänner dieses illusionshungrigen Volkes: Adolf Hitler“.[7]
Während der Weimarer Zeit berichtete Delmer über die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf das Deutsche Reich, die Ära der Präsidialkabinette und den Aufstieg Hitlers, den er persönlich kannte. Zu seinen Informationsquellen zählten zahlreiche führende Persönlichkeiten des politischen Lebens – neben Ernst Röhm gut informierte Hintergrundpersonen wie der Nachrichtenmann Walter Bochow oder der Agent Georg Bell.
1935 heiratete Delmer in Paris Isabel Nicholas.[8] In den späteren 1930er Jahren schrieb er als Kriegsberichterstatter Reportagen über den Spanischen Bürgerkrieg. In dieser Funktion fiel er erstmals der New York Times auf; wegen des Fehlens eigener Korrespondenten zitierte sie Delmers Schilderungen von Kriegsverbrechen der Nationalisten (Franco-Anhänger) an der Bevölkerung eines Dorfes am Pass von Somosierra:
- „Selbst die Rotkreuz-Fahne, die auf halbmast an einer Hütte steht, ist zerrissen und zerfleddert von Durchschüssen.“
Der für das Massaker verantwortliche General, Francisco García-Escámez, fragte Delmer:
- „Was denken die in London über diese Sache?“
- „Sie denken, die [demokratisch gewählte] Regierung in Madrid wird siegen.“
- „Na, dann erzählen Sie ihnen einfach das, was Sie hier gesehen haben.“[9]
Von 1939 bis zu seiner Rückkehr nach Großbritannien 1940 dokumentierte er als Journalist die Anfangsphase des Zweiten Weltkrieges aus Polen und Frankreich.
BBC
Delmer arbeitete im Deutschen Dienst der BBC und hatte dort seinen ersten Auftritt im Rundfunk eine Stunde nach Hitlers scheinbarem Friedensangebot an Winston Churchill am 19. Juli 1940. Delmer verlas nur, nach kurzer redaktioneller Rücksprache, zur besten abendlichen Sendezeit seinen Kommentar mit einer bedingungslosen Zurückweisung des „Angebots“. Er sprach darin Hitler in direkter Rede an und ließ ihn wissen, dass er sich trotz seiner augenblicklichen Erfolge bald „zu Tode erobern“ würde; „conquering himself to death“, ein Ausdruck, den Delmer in Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg als Schüler in Berlin gehört hatte, wurde zu einer festen Redewendung innerhalb der BBC. Delmers unverblümte Zurückweisung Hitlers hatte ein politisches Nachspiel im britischen Parlament; die BBC stärkte ihm den Rücken, und wenig später wurde er zum beliebtesten Autor der deutschen Sendungen. Die Times druckte einen Leserbrief vom 11. September 1941 ab, in dem der Vizechef der BBC Stephen Tallents für das deutsche Programm der BBC warb und Sefton Delmer als feste Größe herausstellte: „Ich lade jeden, der der BBC unterstellt, die Propaganda gegen die Deutschen hätte einen ‚zu intellektuellen und literarischen Anstrich‘, ein, doch einmal reinzuhören, etwa in das Programm der Frau Wernicke, einer fiktiven Hausfrau in Berlin, die manche in Deutschland heute besser kennen als manche britischen Staatsmänner. Oder hören Sie sich Mr. Sefton Delmer an, immer Dienstag Abend um 9, wie er auf Hans Fritzsches Sendung zwei Stunden zuvor antwortet.“
Tätigkeit bei britischen Propagandasendern
Von 1941 bis 1945 war Delmer an den auf die deutsche Bevölkerung abzielenden Propagandaanstrengungen der britischen Regierung beteiligt. Im Auftrag der Political Warfare Executive leitete er verschiedene deutschsprachige Propagandasender, die sich auf dem Land in einem fabrikartigen Gebäude im Dorf Milton Bryan in Central Bedfordshire befanden – unter anderem der deutschsprachige Soldatensender Calais. Diese Propagandasender gaben vor, Sender der nationalsozialistischen Regierung zu sein. Sie hatten die Aufgabe, die deutsche Bevölkerung über den Kriegsverlauf aus britischer Sicht zu informieren und ihr so ein Gegenbild zur NS-Propaganda zu liefern sowie durch gezielte Falschinformationen einen Keil zwischen die Naziführung und das deutsche Volk zu treiben. Darüber hinaus wurde auch über Gräueltaten der Nationalsozialisten berichtet. Zu den Mitarbeitern des Senders gehörten insbesondere emigrierte deutsche Journalisten wie Hans Reinholz oder Otto John, der spätere Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz. In Deutschland fanden Delmers Sender – obwohl das Hören von staatlicher Seite streng verboten war – eine große Hörerschaft.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg baute Delmer mit einem Stab von Redakteuren und Archivkräften aus London sowie mit Hilfe von Mitarbeitern des Marinenachrichtendienstes in Flensburg-Mürwik die erste Nachrichtenagentur Deutschlands auf. Der besagte German News Service erhielt später den deutschen Namen Deutscher Pressedienst.[10] Nach dem Weltkrieg leitete Delmer zudem noch fünfzehn Jahre lang das Auslandsressort des Daily Express. Insbesondere seine kritischen Artikel über Reinhard Gehlen, den Gründer des Geheimdiensts Gehlen, riefen internationales Aufsehen hervor.[11] 1959 zog er sich schließlich nach Differenzen mit Beaverbrook ins Privatleben zurück, das er in Lamarsh in der Grafschaft Essex verbrachte. Während dieser Zeit legte er noch einige umfangreiche Erinnerungsbücher vor.
In rechtsextremen Kreisen wird Delmer bis heute immer wieder unter Berufung auf die Memoiren von Friedrich Grimm eine Äußerung zugeschrieben, in dem ein namentlich nicht genannter Brite oder Franzose die gezielte Lancierung falscher Gräuelmeldungen und -berichte über das nationalsozialistische Deutschland eingeräumt haben soll.[12][13]
Schriften (Auswahl)
- Die Deutschen und ich, autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Gerda von Uslar. Nannen, Hamburg 1962. Im Englischen als Trail Sinister (Band 1) und Black Boomerang (Band 2), Secker and Warburg, London 1961/1962.
- Krieg im Aether: Geheimsender gegen Hitler. Zürich: Buchclub Ex Libris, 1963.
- Weimar Germany. Democracy on trial. Macdonald, London 1972.
- Die Geisterarmee: oder, Die Invasion, die nicht stattfand. Aus dem Englischen von Hansheinz Werner. Praeger, München 1972.
Literatur
- Karen Bayer: How dead is Hitler? Der britische Starreporter Sefton Delmer und die Deutschen. von Zabern, Mainz 2008, ISBN 978-3-8053-3876-9.
- Winfried B. Lerg: Sefton Delmer (1904–1979). Nachruf in Mitteilungen StRuG, 4/1979, S. 172–173, Online hier.
Siehe auch
Weblinks
- Literatur von und über Sefton Delmer im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Literatur von und über Sefton Delmer in der bibliografischen Datenbank WorldCat
- Sefton Delmer Archive mit Teilen seines Nachlasses
- An diesen Briten schrieb „Ihr sehr ergebener Adolf Hitler“
Einzelnachweise
- StA Charlottenburg I, Geburtsurkunde Nr. 456/1904
- The Ruhleben Story (englisch)
- Oxford Dictionary of National Biography (Memento des Originals vom 26. Oktober 2012 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (englisch)
- Frederick Sefton Delmer: English Literature from Beowulf to Bernard Shaw. Adamant Media Corporation 2001 (Nachdruck von 1913, englisch). ISBN 978-0-543-90834-6
- Sefton Delmer: Trail Sinister, Secker & Warburg 1961, S. 19 (englisch)
- Andreas Krüger: „Die Deutschlandberichte britischer Zeitungskorrespondenten in Berlin in der Endphase der Weimarer Republik“, Bochum 1992
- Sefton Delmer: Die Deutschen und ich, S. 98 f.
- Isabel Nicholas (1912–1992) war mit dem Bildhauer Alberto Giacometti befreundet und eines seiner Modelle für zahlreiche Werke. Siehe James Lord: Alberto Giacometti, Knaur 1991, S. 149–161
- New York Times, 2. August 1936
- Der Spiegel: Nachrichtenagenturen. Neue Karriere für die Codeknacker, vom: 26. November 2010; abgerufen am: 13. Juni 2017
- Geheimdienst-Chef Gehlen räumte Delmer in seinen Memoiren breiten Raum ein und beschrieb dessen (weitgehend richtigen) Unterstellungen einer Nazi-Belastung von Gehlens „Dienst“ als „scharfzüngige Propaganda“, als „gehässig“ und „diffamierend“. Delmer habe ihn gelehrt, wie mächtig die Presse sei, worauf er, Gehlen, die Pressearbeit des Bundesnachrichtendiensts einleitete. (Reinhard Gehlen, Der Dienst, Verlag v. Hase & Köhler, Mainz 1971, S. 186f)
- Friedrich Grimm: Politische Justiz. Die Krankheit unserer Zeit, Bonn 1953, S. 146f.
- Friedrich Grimm: Mit offenem Visier. Aus den Lebenserinnerungen eines deutschen Rechtsanwalts. Bearbeitet von Hermann Schild. Leoni am Starnberger See 1961, S. 249.