Ruth Westheimer
Ruth Karola Westheimer (geb. Siegel; * 4. Juni 1928 in Wiesenfeld[1]), bekannt als Dr. Ruth, ist eine deutsch-US-amerikanische Soziologin, Sexualtherapeutin und Sachbuchautorin.
Leben
Karola Siegel[2] wurde im Alter von zehn Jahren als Kind jüdisch-orthodoxer Eltern mit einem Kindertransport von Frankfurt-Nordend in die Schweiz geschickt, die Ausreise wurde ihr zusammen mit etwa 100 anderen jüdischen Kindern durch die Schweizer Aktivistin Goldschmidt ermöglicht. Sie verwaiste, als ihr Vater im KZ Auschwitz ermordet wurde. Ihre Mutter gilt als verschollen. Vor ihrem Geburtshaus wurden im Juni 2017 vier Stolpersteine für sie und ihre Familie verlegt.
Siegel verbrachte die Zeit des Zweiten Weltkriegs in dem vom Israelitischen Frauenverein Zürich geführten Kinderheim Wartheim in Heiden.[3] In Herisau besuchte sie eine Haushälterinnenschule.[4]
Nach dem Krieg wanderte sie nach Palästina aus und trat der zionistischen Untergrundorganisation Hagana bei, wo sie als Scharfschützin ausgebildet wurde. Im Palästinakrieg wurde sie 1948 durch eine Bombe verwundet. Im neu gegründeten Staat Israel machte sie eine Ausbildung zur Kindergärtnerin.[5] Später studierte sie Psychologie an der Pariser Sorbonne, wo sie auch Lehraufträge erhielt. 1956 emigrierte sie in die USA, wo sie 1957 Manfred Westheimer (1927–1997) heiratete. An der Columbia University studierte Ruth Westheimer das Fach Soziologie mit einem Master-Abschluss – mit einer Masterarbeit über die Heimkinder in Heiden[4] – und promovierte zum PhD.
Ruth Westheimer veröffentlichte 1989 ihre Autobiographie All in a lifetime. In einem zweiten autobiographischen Buch Musically Speaking (dt. Die Sprache der Musik) beschreibt sie ihren Lebensweg von ihrer Geburt bis zur Umsiedlung nach New York anhand deutscher Volkslieder.
Ruth Westheimer wurde nach ihrer Auswanderung US-amerikanische Staatsbürgerin; seit 2014 besitzt sie auch wieder die deutsche Staatsbürgerschaft.[6] Bis heute hat sich ihr ausgeprägter hessischer Dialekt in ihrem Deutsch erhalten.[7]
Beruf
Nach Ende ihrer Hochschulausbildung war sie am New York Hospital – Cornell University Medical Center in New York City tätig.
1980 moderierte sie erstmals die 15-minütige Radio-Kolumne Sexually Speaking, in der sie unbefangen Ratschläge für good sex gibt. Hunderttausende suchten den Rat der Expertin. Bald war Westheimer auch bei Talk-Shows in Europa und anderen Teilen der Welt ein häufig eingeladener Gast. Mehr als 450 Fernsehsendungen hat sie gestaltet.
Einige der US-Universitäten wie Harvard und Princeton engagieren Westheimer auch heute noch als Gastdozentin. Von der Yale University bekam sie einen neuen Vier-Jahres-Vertrag. 1994 ehrte die Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung sie mit der Magnus-Hirschfeld-Medaille für Sexualreform.
Westheimer hat über 30 Sachbücher zum Thema Sexualität geschrieben. Ihr bisher letztes, in den USA 2005 veröffentlichtes Werk wendet sich an die Generation der über Fünfzigjährigen.
In ihren Sendungen bezeichnet sie sich gerne als „1 Meter 40 konzentrierter Sex“ (bezogen auf die Körpergröße).[8] Das Wall Street Journal bezeichnete sie einmal als Kreuzung zwischen Henry Kissinger, dessen deutscher Akzent ebenfalls unverkennbar ist, und Minni Maus.
Westheimer sieht sich als Feministin, will aber nicht als radikale Feministin verstanden werden. Von der Metoo-Bewegung distanzierte sie sich.[9]
Schriften (Auswahl)
- Doctor Ruth’s guide to good sex (deutsch: „Sprechen wir mal drüber…“ Sexualität und Erotik Goldmann, München 1983, ISBN 3-442-30505-5)
- First Love (deutsch: First love. Ein Aufklärungsbuch für junge Leute. Ullstein, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-548-34432-1)
- Doctor Ruth’s guide for married lovers (deutsch: Liebe in der Ehe. Ratgeber für ein glückliches Zusammenleben. Ullstein, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-548-34449-6)
- All in a lifetime (deutsch: …und alles in einem Leben. Autobiographie. Benteli, Bern 1989, ISBN 3-7165-0652-4)
- mit Louis Lieberman: Sex and Morality (deutsch: Sex und Moral. Beltz, Weinheim 1990, ISBN 3-407-30535-4)
- The Art of Arousal. 1993, ISBN 1-55859-330-6
- Dr. Ruth’s Guide to Erotic and Sensuous Pleasures. 1994, ISBN 1-56171-099-7
- Dr. Ruth talks to kids. (deutsch: Ab jetzt wird alles anders. Vom Erwachsenwerden, von Liebe und von Sex. Aare, Aarau u. a. 1994, ISBN 3-7260-0415-7)
- Sex for Dummies. (deutsch: Sex für Dummies. 1996 und zahlreiche Neuauflagen)
- Heavenly sex (deutsch: Himmlische Lust. Liebe und Sex in der jüdischen Kultur, Campus, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-593-35466-7)
- mit Amos Grunebaum: Dr. Ruth’s Pregnancy Guide for Couples 1999, ISBN 0-415-91972-X.
- mit Steven Kaplan: Grandparenthood (deutsch: Ein Glück, dass es Großeltern gibt. Ullstein, München 2000, ISBN 3-550-07118-3)
- Who I am!? Where did I come from? (deutsch: Woher kommen nun die kleinen Babys? Coppenrath, München 2003, ISBN 3-8157-2950-5)
- Musically Speaking. (deutsch: Die Sprache der Musik. Ein Leben mit Liedern. Gryphon, München 2005, ISBN 3-937800-45-X)
- mit Pierre A. Lehu: Sex after 50. (deutsch: Silver Sex. Wie Sie Ihre Liebe lustvoll genießen. Campus, Frankfurt/New York 2008, ISBN 978-3-593-38271-5)
- Mythen der Liebe. Collection Rolf Heyne, München 2010, ISBN 978-3-89910-470-7.
- mit Pierre A.Lehu: The doctor is in (deutsch: Lebe mit Lust und Liebe. Herder, Freiburg 2015 ISBN 978-3-451-34818-1)
Literatur
- Gero von Boehm: Ruth Westheimer. 2. September 1986. Interview in: Begegnungen. Menschenbilder aus drei Jahrzehnten. Collection Rolf Heyne, München 2012 ISBN 978-3-89910-443-1 S. 134–140
- Alfred A. Häsler: Die Geschichte der Karola Siegel. Ein Bericht. In Zusammenarbeit mit Ruth K. Westheimer. Benteli, Bern 1976 ISBN 3-7165-0082-8
- Margaret M. Scariano: Dr. Ruth Westheimer. Enslow, Hillside (New Jersey) 1992 ISBN 0-89490-333-0
- Gerald Kreft, Ulrich Lilienthal: Jezer hara: Böser Trieb und Sexualität: Bertha Pappenheim – Dora Edinger – Ruth Westheimer. In: Caris-Petra Heidel (Hrsg.): Jüdinnen und Psyche. (Schriftenreihe Medizin und Judentum, 13) Mabuse, Frankfurt am Main 2016 ISBN 978-3-86321-323-7 S. 125–152
Film
- 1986: Für immer Lulu (als sie selbst)
- Ryan White: Fragen Sie Dr. Ruth (2019), Dokumentarfilm[10][11]
Weblinks
- Literatur von und über Ruth Westheimer im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Ruth Westheimer in der Internet Movie Database (englisch)
- Twitter-Account von Dr. Ruth Westheimer
- Esther Girsberger: «Grundsätzlich lässt man das Sexualleben zu früh einschlafen» (Memento vom 11. August 2013 auf WebCite) Interview in: Schweiz am Sonntag vom 11. August 2013
- Wo deutsche Juden eine neue Heimat fanden: Washington Heights, in Frankfurter Rundschau, 27. April 2019, von Sebastian Moll (mit aktuellem Foto Westheimers)
- Sonja Fouraté: Wie Ruth Westheimer vor den Nazis gerettet wurde. hessenschau.de, 9. November 2021 (abgerufen am 10. November 2021) Audio
Einzelnachweise
- Felix Hain: Bekannteste US-Sexaufklärerin stammt aus Franken. In: Main-Post vom 11. Januar 2010.
- Alfred A. Häsler: Die Geschichte der Karola Siegel. Ein Bericht. In Zusammenarbeit mit Ruth K. Westheimer. Benteli, Bern 1976, ISBN 3-7165-0082-8.
- Ich sehe, wer sexuell befriedigt ist. In: Die Weltwoche, Ausgabe 51/2010.
- Katharina Brenner: Ich Sex-Therapeutin Dr. Ruth über ihre Kindheit in Heiden: «Ich kenne den Ausdruck 'Cheibe Usländer'» In: St. Galler Tagblatt, 17. Juli 2018.
- Sigmund Freud hätte meine Kurse besuchen müssen. In: Süddeutsche Zeitung Magazin, 8. Juni 2018, S. 27 f.
- Es lockt der Herbst, Ausgabe 34 im Jahr 2014, geladen am 23. Februar 2017
- Mathias Plüss: Für uns Frauen war Freud eine Katastrophe. Mit 86 Jahren spricht Ruth Westheimer unverblümt über Pornographie, Onanie, Sex im Alter. Guter Rat von der bekanntesten Sextherapeutin der Welt in unserer Serie „Alte Meister“, Folge VI. In: Das Magazin, N° 11, 14. März 2015, Tamedia Zürich, Seiten 36–41.
- Wenn der Schmock stejt. In. Die Presse.
- Philipp Hedemann: Ruth Westheimer: „Sex sollte etwas Privates sein“. Abgerufen am 6. September 2020.
- Ask Dr. Ruth. In: IMDB. Abgerufen am 29. Juli 2020.
- Axel Schock: „1 Meter 40 konzentrierter Sex“. In: magazin.hiv. 12. August 2020, abgerufen am 3. Oktober 2020 (deutsch).