Revolutionäre Obleute
Die Revolutionären Obleute waren von den Gewerkschaften unabhängige, durch Arbeiter verschiedener deutscher Industriebetriebe frei gewählte Vertrauensleute während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) und der frühen Nachkriegszeit. Sie wandten sich gegen die Kriegspolitik des deutschen Kaiserreichs und deren Unterstützung durch die meisten Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei.
Die SPD, bis dahin die größte Arbeiterpartei Europas, hatte 1914 im Reichstag für die Kriegskredite der Reichsregierung gestimmt. Der zunächst einzige SPD-Abgeordnete, der, nachdem er sich in der Abstimmung im August noch der Fraktionsdisziplin gebeugt hatte, im Dezember 1914 dagegen stimmte, war Karl Liebknecht. Mit der Abspaltung der USPD von der SPD bildete sich 1917 auch im Reichstag eine parteipolitisch relevante Opposition gegen die so genannte Burgfriedenspolitik derjenigen Kräfte, die den Krieg billigten. Die Obleute unterstützten den kriegsablehnenden Kurs der USPD.
Während der Novemberrevolution von 1918 vertraten sie zunehmend die Idee des Rätegedankens und gehörten nach dem Sturz des Kaisers und dem Ende des Krieges mehrheitlich zu den Befürwortern einer deutschen Räterepublik. Nachdem die USPD-Vertreter die provisorische Regierung, den Rat der Volksbeauftragten, aus Protest gegen die antirevolutionäre Politik des kurz zuvor zum Reichskanzler ernannten Friedrich Ebert (SPD) verlassen hatten, gehörten die Obleute zu den Initiatoren des sogenannten Spartakusaufstands vom 5. bis 12. Januar 1919.
Januar 1918: Streik gegen den Krieg
Da auch die meisten Gewerkschaftsfunktionäre die Burgfriedenspolitik stützten, bildeten die Obleute eine betrieblich organisierte Arbeiteropposition gegen den Ersten Weltkrieg in Deutschland. Sie reagierten damit auf die steigende Zahl von Todesopfern an den Fronten und auf die zunehmende soziale Not in der Heimat. Ihre wichtigsten Sprecher waren Richard Müller und Emil Barth. Besonders stark waren die revolutionären Obleute in den Berliner Rüstungsbetrieben vertreten. Sie hatten bereits einige Streikerfahrung gesammelt, etwa während der Proteststreiks gegen die Verhaftung Karl Liebknechts im Sommer 1916 und der Streikwelle mit den Schwerpunkten in Braunschweig und Leipzig im Januar 1917.
Die reichsweiten Januarstreiks von 1918, bei denen die Beendigung des Krieges durch einen Verständigungsfrieden und die Demokratisierung des Reiches gefordert wurde, wurden wesentlich von den Obleuten organisiert und geleitet. Inspiriert waren sie zum Teil durch den Erfolg, den die kommunistischen Bolschewiki unter Lenin und Trotzki nur wenige Monate zuvor mit der Oktoberrevolution in Russland errungen hatten. Die Streiks richteten sich daher auch gegen die annexionistischen Pläne, welche die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in den laufenden Friedensverhandlungen mit Sowjetrussland in Brest-Litowsk verfolgten. Die Streikenden forderten neben grundlegenden innenpolitischen Veränderungen in Deutschland auch einen gerechten Frieden mit Russland ohne territoriale Ansprüche seitens des Deutschen Reiches gegenüber dem „neuen Russland“. Diesen Forderungen kamen die Oberste Heeresleitung und die Reichsregierung allerdings nicht nach. Die Gebiete, die Sowjetrussland abtreten musste, waren weit umfangreicher, als jene Gebietsverluste, die Deutschland ein Jahr später bei den Friedensverhandlungen in Versailles hinzunehmen hatte.
Novemberrevolution und Rätebewegung
Während der Novemberrevolution von 1918/19 waren die Revolutionären Obleute prägend beteiligt an der Rätebewegung, und entsprechend in vielen überall in Deutschland gebildeten Arbeiter- und Soldatenräten an entscheidender Stelle vertreten. Sie spielten als Vertreter der Rätebewegung bei den Maßnahmen und Entscheidungen der provisorischen Reichsregierung nach der Ausrufung der Republik, durch ihr Mandat im „Rat der Volksbeauftragten“, in den sich auch Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann von der Mehrheits-SPD trotz ihrer zu diesem Zeitpunkt nicht öffentlich ausgesprochenen Gegnerschaft zur Revolution wählen ließen, eine wichtige Rolle.
Der Vertreter der Revolutionären Obleute, Emil Barth (zugleich Mitglied der USPD) und zwei weitere Vertreter der USPD verließen den Rat der Volksbeauftragten aus Protest gegen die Ereignisse um „Eberts Blutweihnacht“, den Einsatz von Regierungstruppen gegen die Volksmarinedivision, einer am 11. November 1918 aufgestellten bedeutenden Einheit revolutionärer Soldaten in Berlin. Durch dieses Vorgehen des noch kaisertreuen Militärs – nun nach dem geheimen Pakt zwischen Ebert und dem Chef der Obersten Heeresleitung, General Wilhelm Groener, im Dienst der SPD-Führung um Ebert, Scheidemann und Noske – gegen die aufständischen Soldaten und Arbeiter hatte die bis dahin unblutig verlaufene Revolution, die zur Ausrufung der deutschen Republik geführt hatte, eine gewaltsame Eskalation ausgelöst. Von vielen Vertretern der Linken wurde der SPD-Führung darauf Verrat an der Revolution vorgeworfen.
Obwohl die Revolutionären Obleute in den Auseinandersetzungen um die Frage der Errichtung einer parlamentarischen Demokratie oder einer Räterepublik mit einer starken Fraktion hinter dem Rätegedanken standen, lehnten sie in ihrer Gesamtheit als rätedemokratische Gruppierung den Beitritt in die am 1. Januar 1919 neu gegründete KPD ab. Diese verfocht ursprünglich dasselbe Ziel, war aber nicht bereit, die fünf von Richard Müller im Namen der Revolutionären Obleute gestellten Bedingungen (Zurücknahme des Antiwahlbeschlusses, Paritätisch besetzte Programmkommission, Verurteilung des „Putschismus“, Beteiligung an der Parteipublizistik und Verzicht auf den Namenszusatz Spartakusbund) zu erfüllen. Dennoch gehörten sie mit der Unterschrift ihres Vertreters Paul Scholze neben Karl Liebknecht (KPD) und Georg Ledebour (USPD) zu den Mitunterzeichnern des Aufrufs, der am Abend des 4. Januar 1919 zum Sturz der Regierung Ebert aufforderte, nachdem der Berliner Polizeipräsident Emil Eichhorn, ein Mitglied der USPD, von der Regierung abgesetzt worden war.
Diesem Aufruf leisteten am 5. Januar 1919 etwa eine halbe Million Menschen bei einer Massendemonstration in Berlin gegen die Regierungsmaßnahmen Folge. Der Aufruf und die Demonstration mündeten in den bewaffneten Spartakusaufstand, bei dem revolutionäre Demonstranten das Berliner Zeitungsviertel stürmten, wo sie die Redaktion des SPD-Zentralorgans Vorwärts sowie weitere Gebäude besetzten. Der Spartakusaufstand wurde nach heftigen Kämpfen, insbesondere um das Berliner Polizeipräsidium und das Verlagsgebäude des Vorwärts bis zum 12. Januar 1919 von Regierungstruppen unter dem Kommando des späteren ersten Reichswehrministers der Weimarer Republik, Gustav Noske, niedergeschlagen. Dabei kamen 165 Menschen ums Leben.
Niedergang der Revolutionären Obleute
Bei den bürgerkriegsähnlichen Kämpfen der folgenden Monate in einigen Regionen des Deutschen Reiches geriet die Rätebewegung zunehmend in die Defensive. Verschiedentlich ausgerufene regionale Räterepubliken wie beispielsweise die Bremer und als bekannteres Beispiel die Münchner Räterepublik wurden letztlich durch Reichswehr- und rechtsnationalistische Freikorpsverbände mit militärischer Gewalt bis Mitte 1919 niedergeschlagen.
Mit der Weimarer Republik setzte sich eine, wenn auch langfristig instabile und krisengeschüttelte Demokratie auf parlamentarischer Grundlage durch. Die Obleute beteiligten sich in den Jahren 1919 bis 1920 an der Berliner Rätebewegung, dabei hatten sie noch Einfluss bei der Durchführung des Generalstreiks im Kontext der Berliner Märzkämpfe 1919.[1] Zudem waren wichtige Akteure wie Richard Müller dann in der Berliner Betriebsrätezentrale aktiv. Im Juni 1919 sprach Müller neben Theodor Leipart auf dem Kongress der freien Gewerkschaften über die zukünftigen Aufgaben der Arbeiterräte. Er entfaltete dabei ein über die Betriebsebene hinausgehendes rätedemokratisches Konzept. Müller entwickelte das Modell einer regional und fachlich durchgegliederten Räteorganisation, an deren Spitze ein Zentralrat und ein Reichswirtschaftsrat stehen sollten. Dieses Konzept wurde jedoch von der Mehrheit des Kongresses abgelehnt, stattdessen setzte sich in der Folge das formell 1920 im Betriebsrätegesetz ausdifferenzierte Betriebsratskonzept durch.[2] Nach 1920 spielte die Obleute-Bewegung keine relevante Rolle mehr in der deutschen Arbeiterbewegung.
Ehemalige Aktivisten der Revolutionären Obleute betätigten sich in der Folgezeit in der KPD, wo vor allem nach deren Zusammenschluss mit der linken USPD-Mehrheit Ende 1920 zur zeitweilig unter dem Alternativnamen Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands (VKPD) firmierenden Partei ein gewichtiger Teil der früheren Obleute organisiert war. Ein weiterer Teil von ihnen blieb in der USPD und ihren Nachfolgeorganisationen oder schloss sich ab 1922 wieder der SPD an, nachdem 1922 ein weiterer Teil der Rest-USPD in die SPD zurückgekehrt war. Eine sich im Wesentlichen aus den Revolutionären Obleuten rekrutierende Gruppe bildete ab Ende 1922 in Berlin den Kern der örtlichen Strukturen der als Kleinpartei weiterexistierenden USPD oder deren 1923/24 von Georg Ledebour initiierten Abspaltung des Sozialistischen Bundes.
Einige Obleute, die einem parteiunabhängigen „antiautoritären“ Rätemodell anhingen, schlossen sich der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) an.
Literatur (nach Autoren alphabetisch angeordnet)
- Hans Manfred Bock: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923 – ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik; Erstauflage 1969, aktualisierte Neuauflage 1993, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ISBN 3-534-12005-1
- Sebastian Haffner: Die Deutsche Revolution 1918/19. Rowohlt-Verlag, Reinbek 2004, ISBN 3-499-61622-X (Neuauflage des ursprünglich 1969 unter dem Titel Die verratene Revolution erschienenen Buches)
- Ralf Hoffrogge: Räteaktivisten in der USPD: Richard Müller und die Revolutionären Obleute in Berliner Betrieben in Ulla Plener (Hrsg.): Die Novemberrevolution 1918/1919 in Deutschland – Beiträge zum 90. Jahrestag der Revolution (S. 189–200), Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2009, ISBN 978-3-320-02205-1 (Das ganze Buch online als PDF-Datei auf den Seiten der Rosa-Luxemburg-Stiftung)
- Richard Müller: Vom Kaiserreich zur Republik. 2 Bände, Malik, Wien 1924–1925 (Wissenschaft und Gesellschaft, Band 3/4).
- Band 1: Ein Beitrag zur Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung während des Weltkrieges.
- Band 2: Die Novemberrevolution. Wien (Malik-Verlag) 1924 Einbandgestaltung von John Heartfield. Mit einigen Abbildungen.
- Richard Müller: Der Bürgerkrieg in Deutschland. Geburtswehen der Republik. Phöbus-Verlag, Berlin 1925
- Die letztgenannten drei Werke wurden nachgedruckt: Olle & Wolter, Berlin 1979 (Kritische Bibliothek der Arbeiterbewegung, Texte Nr. 3, 4 und 5)
- Peter von Oertzen: Betriebsräte in der Novemberrevolution. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Revolution 1918/19, 2., erweiterte Auflage, Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1976 (Erstauflage Düsseldorf 1963).
- Axel Weipert: Die Zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920. Berlin 2015.
Einzelbelege
- Axel Weipert: Die Zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920. Berlin 2015.
- Michael Schneider: Höhen, Krisen und Tiefen. Die Gewerkschaften in der Weimarer Republik. In: Ulrich Borsdorf (Hrsg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaften. Von den Anfängen bis 1945. Köln 1987, S. 297.