Kommunale Selbstverwaltung (Deutschland)
Die kommunale Selbstverwaltung ist ein praktisch wichtiges Beispiel für Selbstverwaltung, also der Übertragung von Verwaltungsaufgaben an rechtlich verselbstständigte juristische Personen, um den Betroffenen die eigenverantwortliche Gestaltung zu ermöglichen.
Träger der kommunalen Selbstverwaltung sind in der Bundesrepublik Deutschland insbesondere die Gemeinden als Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts. Die Gemeindebürger wählen eine Vertretung (Gemeinderat) und je nach Bundesland auch den Bürgermeister. Die Gemeindevertretung beschließt über grundsätzliche Angelegenheiten der Selbstverwaltung und kontrolliert die Verwaltung. Die Gemeindevertreter sind ehrenamtlich tätig. Bei der Leitung der Verwaltung gilt der Grundsatz: In Gemeinden mit weniger als 8.000 Einwohnern ist der Bürgermeister Mitglied der Gemeindevertretung und ebenfalls ehrenamtlich tätig. Größere Gemeinden und Landkreise werden dagegen durch einen oder mehrere hauptamtlich tätige kommunale Wahlbeamte geleitet.
Die kommunale Selbstverwaltung ist in Art. 28 Abs. 2 GG und in den meisten Landesverfassungen durch die kommunale Selbstverwaltungsgarantie (siehe unten) geschützt. Die Zuständigkeit umfasst alle Aufgaben, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln (Aufgabenfindungsrecht). Ein Mandat für überörtliche Aufgaben oder allgemeinpolitische Betätigung besteht dagegen nicht: Die Gemeinde ist kein privater Zusammenschluss von Bürgern, sondern Teil der öffentlichen Gewalt, genauer ein Teil der Exekutive, die nur innerhalb ihrer Kompetenzen tätig werden darf.
Kommunale Gebietskörperschaften sind neben den Gemeinden auch Gemeindeverbände wie z. B. Kreise bzw. Landkreise, Landschaftsverbände und besondere Regionalverbände (z. B. der Regionalverband Ruhr).
Historische Entwicklung
In Deutschland liegen die historischen Wurzeln der kommunalen Selbstverwaltung in der Reformation. Prinzipiell waren bis zur Christianisierung alle Stammesgesellschaften und – soweit schon existent – alle Dorfgemeinschaften östlich des Rheins wirtschaftlich autark und politisch autonom. Im Zuge der christlichen Missionierung begann eine Umstrukturierung,[1] verbunden mit der Einführung des Lehnswesens. Viele Dörfer und Städte, insbesondere in Norddeutschland, konnten jedoch auch im Mittelalter eine weitgehende Selbstbestimmung bewahren. Hervorzuheben sind Gemeinden in sogenannten Bauernrepubliken sowie Städte mit eigener Rechtsprechung, zum Beispiel nach dem Lübschen- oder Magdeburger Recht.
Nach der Veröffentlichung von Luthers 95 Thesen setzten in Deutschland tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen ein. Mit der Reformation kamen Abgaben nicht mehr direkt dem Pfarrer zugute, sondern der Kirchengemeinde. Die Kirche sollte lediglich noch indirekt als Lehrerin und Dienerin, durch Anweisung und Ermahnung in der Liebe zu Gott, nicht mehr aber in der Verwaltung der Gemeinden beteiligt sein. Dabei kam es zu fiskalischen Auseinandersetzungen und zur Zersplitterung ursprünglicher Kirchbezirke, auch in katholischen Gebieten. Der Grund dafür war vor allem, dass Gerichtssprengel und Kirchsprengel nicht mehr identisch waren. Die geistliche Gerichtsbarkeit wurde abgeschafft, und alle Streitigkeiten wurden fortan vor weltlichen Gerichten verhandelt. Eingeführt wurden Gemeindekassen und die Begründung des Pfarrwahlrechts zugunsten einer Kirchengemeindeleitung, den sogenannten Kirchgeschworenen. Das Pfarrwahlrecht bewirkte die Anpassung der kirchlichen an die nachbarschaftlichen, das heißt kommunalen Strukturen. Sie verbrieften den Gemeinden das freie Recht, den Pfarrer zu wählen und zu entlassen. Im Gegenzug wurden die Gemeinden verpflichtet, für das Armen- und Schulwesen aufzukommen.
Eine flächendeckende Schaffung administrativer Gemeindestrukturen fand in Deutschland erst Anfang des 19. Jahrhunderts statt. Auf Grundlage der französischen Munizipalität erhielten alle Gemeinden in den von Napoleon regierten deutschen Gebieten ein Selbstverwaltungsrecht, verbunden mit einer rechtlichen und finanziellen Autonomiegarantie. Diese Souveränität behielten die Kommunen in Deutschland bis 1918. Tiefgreifende Veränderungen im traditionellen Selbstverwaltungsgefüge traten in Deutschland im Zuge der Erzbergerschen Reformen ein; sie machten die Länder und Gemeinden weitgehend von Steuerzuweisungen des Staates abhängig.[2]
Die Gleichschaltung der Gemeinden im Dritten Reich war dagegen eine vorübergehende Erscheinung. Während dieser Zeit blieb die kommunale Selbstverwaltung nicht nur erhalten, die Nationalsozialisten machten sie fortan zur Pflicht.[3] Seit Einführung der Deutschen Gemeindeordnung von 1935 können in Deutschland grundsätzlich alle Einwohner zur Mitwirkung der Selbstverwaltung ihrer Gemeinden ehrenamtlich verpflichtet werden.[4] Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben maßgebliche Bestandteile dieses Regelwerkes als Landesrecht erhalten.[5] Insbesondere die Regelungen zur Selbstverwaltung bilden noch heute die inhaltliche Grundlage für die Gemeindeordnungen der einzelnen Bundesländer.[6]
Heutiger Zustand
Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung
Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG (gemeindliche Selbstverwaltungsgarantie) gibt den Gemeinden die Zuständigkeit für alle Aufgaben, die im gemeindlichen Zusammenleben wurzeln. Diese Zuständigkeitsvermutung erübrigt einzelne spezielle Kompetenztitel: Gemeinden sind in der örtlichen Ebene allzuständig (Universalitätsprinzip); sie haben ein Aufgabenfindungsrecht. Andere kommunale Gebietskörperschaften, insbesondere Landkreise, kennen keine umfassende Zuständigkeit, ihre Aufgaben werden daher im Einzelnen zugewiesen.
Die Gemeinde im Staatsaufbau
Die kommunale Selbstverwaltung führt zu einer staatlichen Dezentralisierung. Trotz deren Bezeichnung als vertikaler Föderalismus führt sie nicht zu einer staatsrechtlichen Dreiteilung Bund–Länder–Gemeinden, da die Gemeinden als Selbstverwaltungskörperschaften Teil der Exekutive sind. Man spricht wegen der rechtlichen Verselbstständigung von der hierarchischen Verwaltung auch von mittelbarer Landesverwaltung. Aus diesem Grund ist der Gemeinderat auch nicht Parlament, sondern Verwaltungsgremium.
Die Aufgaben der Gemeinde
Zur Ausgestaltung der Selbstverwaltung der Gemeinden haben die Bundesländer Gemeindeordnungen (und Landkreis- bzw. Kreisordnungen) erlassen. Diese orientieren sich regelmäßig an der früheren einheitlichen Deutschen Gemeindeordnung (DGO). Im praktischen Verwaltungsvollzug nehmen die Gebietskörperschaften vielfach neben ihren eigenen Selbstverwaltungsaufgaben auch übertragene, staatliche Aufgaben wahr.
Einige Gemeindeordnungen haben diese historisch überkommene dualistische Aufgabenstruktur (eigene – staatliche Aufgaben) wegen der darin zum Ausdruck kommenden Distanzierung zum Staat nicht übernommen. Nach dem sogenannten Weinheimer Entwurf von 1948 folgen sie stattdessen einem monistischen Verständnis und unterscheiden die umfassend verstandenen eigenen Aufgaben in weisungsfreie und Weisungsaufgaben. Ob außer der abweichenden Terminologie hiermit wesentliche Unterschiede verbunden sind, ist zweifelhaft.
Es werden eigene (bzw. freiwillige; Beispiel: Theater, Sportanlagen), pflichtige (bzw. weisungsfreie Pflichtaufgaben; Beispiel: Schulen, Friedhöfe, Gemeinderatswahlen) und Auftragsangelegenheiten (bzw. Pflichtaufgaben nach Weisung – Beispiel: Bauaufsicht, Meldeverwaltung, Gefahrenabwehr) unterschieden.
Freiwillige und pflichtige Aufgaben fallen unter die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden. Auftragsangelegenheiten sind dagegen ursprüngliche Aufgaben des Bundes oder der Länder, die den Gemeinden von diesen zur Ausführung übertragen wurden.
Freiwillige Aufgaben kann die Gemeinde nach Belieben übernehmen und regeln. Pflichtaufgaben muss sie dagegen erledigen; die Ausgestaltung bleibt aber ihr überlassen. Allerdings ist auch die Gemeinde als Teil der öffentlichen Verwaltung an Recht und Gesetz gebunden, Art. 20 Abs. 3 GG. Um dies zu gewährleisten, gibt es die Rechtsaufsicht des Landes. Weisungsangelegenheiten müssen dagegen gemäß den Weisungen der übergeordneten Behörden ausgeführt werden. Hier gibt es deshalb eine umfassende Fachaufsicht.
Probleme der kommunalen Selbstverwaltung
In der Verwaltungspraxis der Bundesländer ist die Tendenz erkennbar, Aufgaben durch Gesetz hochzuzonen, das heißt den Kommunen zu entziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat hier in ständiger Rechtsprechung eine Grenze gezogen und festgelegt, dass bei den Gebietskörperschaften ein Kernbereich eigener Kompetenzen verbleiben muss. Hierzu zählen:
- Gebietshoheit
- Satzungshoheit
- Finanzhoheit
- Abgabenhoheit
- Personalhoheit
- Organisationshoheit
- Planungshoheit und
- Daseinsvorsorge
Andererseits werden Gemeinden aber auch neue Aufgaben übertragen. Nicht zuletzt durch zusätzliche Pflicht- und Auftragsangelegenheiten ohne ausreichende Kostendeckung durch Bund und Länder sind viele Gemeinden finanziell handlungsunfähig geworden, sodass sie die Möglichkeiten der kommunalen Selbstverwaltung faktisch nur noch eingeschränkt nutzen können. Im Rahmen der Föderalismusreform wurde das Grundgesetz um eine Formulierung erweitert, wonach den Gemeinden durch Bundesrecht keine zusätzlichen Aufgaben auferlegt werden dürfen (Neufassung des Art. 84 Abs. 1 und des Art. 85 Abs. 1 GG).
Rechtsquellen in den Landesverfassungen
- Baden-Württemberg: Art. 71 LV Bd. Wtt.
- Bayern: Art. 11 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 83 LV Bay.
- Brandenburg: Art. 97 LV Brandenburg
- Bremen: Art. 144 BremVerf
- Hessen: Art. 137 HV
- Mecklenburg-Vorpommern: Art. 72 Verf M-V
- Niedersachsen: Art. 57 NV
- Nordrhein-Westfalen: Art. 78 LV NRW
- Rheinland-Pfalz: Art. 49 und Art. 50 LV Rh.Pf.
- Saarland: Art. 118 SVerf
- Sachsen: Art. 84 SächsVerf
- Sachsen-Anhalt: Art. 2 Abs. 3 und Art. 87 LV Sachsen-Anhalt
- Schleswig-Holstein: Art. 46 Abs. 1 und 2 LV Schl.H.
- Thüringen: Art. 91 Abs. 1 und 2 ThürVerf
In den Ländern Berlin und Hamburg besteht der Staat nur aus einer einzigen Kommune. Eine kommunale Selbstverwaltungsgarantie gibt es dort daher nicht.
Siehe auch
Literatur
- Evamaria Engel: Die deutsche Stadt im Mittelalter. Albatros, München 1993, ISBN 3-491-96135-1.
- Markus Thiel: Die preußische Städteordnung von 1808. In: Speyerer Arbeitshefte. Band 123. Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften, 1999, ISSN 0179-2318, DNB 959026053.
- Gisela Florstedt-Borowski: Kommunale Entscheidungsverläufe im Spannungsfeld zwischen Vertretungskörperschaft und Verwaltung. Frankfurt/M. 1995, ISBN 3-631-48806-8 (pol.-wiss. Diss., Göttingen 1994).
- Christopher A. Schmidt: Unmittelbare Gemeindedemokratie im mittel- und süddeutschen Raum der Weimarer Republik. Eine Untersuchung von Verfahren und Praxis. Nomos, Baden-Baden 2007, ISBN 978-3-8329-2607-6 (zugleich jur. Diss. Hannover 2006).
- Jan H. Witte: Unmittelbare Gemeindedemokratie der Weimarer Republik. Verfahren und Anwendungsausmaß in den norddeutschen Ländern. Nomos, Baden-Baden 1997, ISBN 3-7890-4809-7 (zugleich jur. Diss. Hannover, 1996).
- Hans-Uwe Erichsen, Richard Weiss: Kommunale Selbstverwaltung und staatliche Organisationsvorgaben. Carl Heymanns, Köln 1999, ISBN 3-452-23231-X.
- Alfons Gern: Deutsches Kommunalrecht. 3. Auflage. Nomos, Baden-Baden 2003, ISBN 3-8329-0127-2.
- Heinrich Heffter: Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen. 2. Auflage. Koehler, Stuttgart 1969, DNB 456933859.
- Volker Mayer: Kommunale Selbstverwaltung in den ostdeutschen Ländern. PCO, Bayreuth 2001, ISBN 3-931319-87-3 (zugl. Dissertation an der Universität Bayreuth).
Weblinks
- BVerfGE 79, 127 Rastede-Entscheidung
- Version mit allen Änderungen bis 2002 TU Berlin-Webserver
Einzelnachweise
- Roger Sablonier: Das Dorf im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter. In: Hans Fenske, Werner Rösener, Lothar Zotz (Hrsg.): Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein. Sigmaringen 1984, S. 727–745.
- Günter Püttner: Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 1: Grundlagen und Kommunalverfassung. Springer-Verlag, 2013, S. 90 ff.
- vgl. DGO von 1935 § 1 Satz 2 ff
- vgl. DGO von 1935 § 23
- http://www.verfassungen.de/de/de33-45/gemeindeordnung35.htm Ursprüngliche Fassung der DGO mit rot markierter Einleitung über Fortgeltung als Landesrecht gemäß Art. 123 GG vom 23. Mai 1949
- Tobias Faber: Gesellschaftsrechtliche Bindungen für Aufsichtsratsmitglieder von kommunalen Eigengesellschaften im Spannungsfeld zum hessischen Kommunalverfassungsrecht. Lang Verlag, 2010, S. 30.