Giorgio Parisi
Giorgio Parisi (* 4. August 1948 in Rom) ist ein italienischer Physiker und Hochschullehrer. Im Jahr 2021 wurde Parisi der Nobelpreis für Physik gemeinsam mit Klaus Hasselmann und Syukuro Manabe zuerkannt für seine Beschäftigung mit der statistischen Mechanik komplexer Systeme.
Leben und Werk
Parisis Vater und Großvater arbeiteten als Bauarbeiter und ermutigten ihn, Ingenieur zu werden. Er interessierte sich allerdings mehr für die „komplizierten Abstraktionen“ und die Herausforderungen der Wissenschaft.[1] Parisi schloss 1970 sein Physikstudium an der Universität La Sapienza in Rom ab. Nach seinem Abschluss arbeitete er ein Jahr im Bereich der Hochenergiephysik bei seinem Betreuer Nicola Cabibbo, den Parisi als „brillanten Theoretiker“ bezeichnete.[1] Anschließend arbeitete er bis 1981 als Forscher am Laboratori Nazionali di Frascati, das er für Forschungsaufenthalte an der Columbia University (1973–1974), dem Institut des Hautes Études Scientifiques (1976–1977) und der École normale supérieure (1977–1978) verließ. 1981 bis 1992 war er Professor für theoretische Physik an der Universität Tor Vergata. Seit 1992 ist er Professor für Quantenphysik an der La Sapienza.
Parisi arbeitet auf verschiedenen Teilgebieten der Physik, so der Hochenergiephysik, der Quantenchromodynamik, der Theorie der Phasenübergänge, der Statistischen Mechanik, der Mathematischen Physik, der Biophysik, der Stringtheorie und der Spin-Gläser. Außerdem lieferte er Beiträge zum Computerdesign (Hard- und Software).[1]
Bei Untersuchungen der Skalenverletzung (englisch scaling violation) in tiefinelastischer Streuung stellte er mit Guido Altarelli Gleichungen für die Skalenabhängigkeit von Partondichtefunktionen („Altarelli-Parisi-Gleichungen“) auf.[2] Unabhängig davon (und früher) wurden ähnliche Gleichungen von Yuri L. Dokshitzer[3] sowie V. N. Gribov und L. N. Lipatov[4] gefunden, weshalb man diese Gleichungen auch DGLAP-Gleichungen nennt. Später untersuchte er mit Hilfe des Supercomputers APE 100 (Array Processor Experiment, außerdem ital. Biene) Quantenchromodynamik auf dem Gitter. Durch Verwendung der sogenannten quenched approximation, also der Vernachlässigung der Vakuumpolarisation, wurde es möglich, das Massenspektrum der Hadronen auf 10 Prozent genau zu berechnen. Mit Yong Shi Wu entwickelte er die Methode der stochastischen Quantisierung für (euklidische) Quantenfeldtheorien.[5]
In der Theorie der Phasenübergänge entwickelte Parisi eine neue Methode zur Berechnung von kritischen Indizes und kritischen Exponenten. Er untersuchte Spin-Gläser[6] und fand dabei mit der Wiederbelebung des mathematischen Begriffes der ultrametrischen Struktur von komplexen Systemen Zugänge, die auch in der Biologie (Neuronale Netze, Proteinfaltung, Immunität) und der kombinatorischen Optimierung genutzt werden können. Außerdem stellte er eine stochastische Differentialgleichung für das Wachstum bei zufälligen Ansammlungen auf, die Kardar-Parisi-Zhang-Gleichung (KPZ).[7]
Zu späteren Forschungen gehört die Untersuchung von komplexen, ungeordneten Systemen.[1] Beispielsweise erforschte er, wie Stare in großen Gruppen im Flug kommunizieren können, um das Schwarmverhalten zu organisieren.[8][9]
Im September 2021 nahm ihn der Medienkonzern Clarivate aufgrund der Zahl seiner Zitierungen in seine Liste der Favoriten auf einen Nobelpreis auf (Clarivate Citation Laureates).[10] Im gleichen Jahr wurde ihm zusammen mit Klaus Hasselmann und Syukuro Manabe „für bahnbrechende Beiträge zum Verständnis komplexer physikalischer Systeme“ der Nobelpreis für Physik verliehen. Parisi erhielt ihn konkret „für die Entdeckung, wie das Zusammenspiel von Unordnung und Fluktuationen physikalische Systeme von der atomaren bis hin zur planetarischen Ebene bestimmt“.[11]
Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Veröffentlichungen
Bücher:
- mit Marc Mézard und Miguel Virasoro: Spin glass theory and beyond. World Scientific, Singapore 1987, ISBN 9971-5-0115-5 (=World scientific lecture notes in physics Band 9)
- Statistical Field Theory. Addison-Wesley, Redwood City 1988, ISBN 0-201-05985-1 (=Frontiers in physics Band 66)
- Field Theory, Disorder and Simulations. Word Scientific, Singapore 1992, ISBN 981-02-0964-9 (=World Scientific lecture notes in physics Band 49)
- La chiave, la luce e l'ubriaco. Come si muove una ricerca scientifica. Di Renzo, Roma 2006, ISBN 88-8323-149-X
- Giorgio Parisi, Auletta Gennaro, Fortunato Mauro: Quantum Mechanics. Cambridge University Press, 2009, ISBN 978-0-521-86963-8.
- mit Pierfrancesco Urbani, Francesco Zamponi: Theory of simple glasses. Exact solutions in infinite dimensions, Cambridge UP 2020
Er ist Autor von mehr als 350 Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften. Er ist Mitherausgeber zahlreicher Zeitschriften (Nuclear Physics Field Theory and Statistical Mechanics, Communications in Mathematical Physics, Journal of Statistical Mechanics, Europhysics Letters, International Journal of Physics, Il Nuovo Cimento, Networks, Journal de Physique, Physica A, Physical Review E).
Preise
- 1986 Antonio-Feltrinelli-Preis für Physik der Accademia Nazionale dei Lincei
- 1992 Boltzmann-Medaille der Internationalen Union für Reine und Angewandte Physik
- 1993 Italgas-Preis
- 1999 Dirac-Medaille (ICTP)
- 2000 Spezialpreis für wissenschaftliche Forschung vom Präsidenten des Ministerrates (italienischer Regierungschef)
- 2002 Enrico-Fermi-Preis der italienischen physikalischen Gesellschaft
- 2005 Dannie-Heineman-Preis für mathematische Physik
- 2005 Nonino-Preis
- 2005 Ehrendoktor der Universität von Urbino
- 2006 Galileo-Preis
- 2011 Max-Planck-Medaille der Deutschen Physikalischen Gesellschaft
- 2015 High Energy and Particle Physics Prize
- 2016 Lars-Onsager-Preis
- 2018 Pomerantschuk-Preis
- 2021 Wolf-Preis in Physik
- 2021 Nobelpreis für Physik
Mitgliedschaften
- 1987–93 korrespondierendes (seit 1993 ständiges) Mitglied der Accademia Nazionale dei Lincei
- 1993 Académie des sciences
- 2003 National Academy of Sciences[1]
- 2009 Academia Europaea
- 2013 American Philosophical Society
- Er ist Mitglied der Accademia Nazionale delle Scienze.
Weblinks
- Literatur von und über Giorgio Parisi in der bibliografischen Datenbank WorldCat
- offizieller Internetauftritt (englisch)
- Eintrag im Who's Who in Italy (englisch)
- Giorgio Parisi vince il premio Italgas nel 1993 – Italgas-Preis (englisch)
Quellen
- Regina Nuzzo: Profile of Giorgio Parisi. In: PNAS 103(21), 23. Mai 2006, S. 7945–7947, doi:10.1073/pnas.0603113103.
- Guido Altarelli, Giorgio Parisi: Asymptotic Freedom in Parton Language. In: Nuclear Physics B. Band 126, 1977, S. 298.
- Yuri L. Dokshitzer: Calculation of structure functions of deep-inelastic scattering and e+e- annihilation by perturbation theory in quantum chromodynamics, Sov. Phys. JETP 46, 1977, S. 641–653.
- V. N. Gribov, L. N. Lipatov: Deep inelastic ep scattering in perturbation theory, Soviet Journal Nuclear Physics, Bd. 15, 1972, S. 438.
- Parisi, Wu, Perturbation theory without gauge fixing, Sci. Sinica, Band 24, 1981, S. 483.
- An order parameter for spin glasses. A function on the interval 0-1 In: J. Phys. 1980, Band A13, S. 1101.
- Mehran Kardar, Giorgio Parisi und Yi-Cheng Zhang: Dynamic Scaling Of Growing Interfaces. In: Physical review letters 1986, Band 56, S. 889.
- Andrea Cavagna, Alessio Cimarelli, Irene Giardina, Giorgio Parisi, Raffaele Santagati, Fabio Stefanini, Massimiliano Viale: Scale-free correlations in starling flocks. In: PNAS 107(26), 2010, S. 11865–11870, doi:10.1073/pnas.1005766107.
- Michele Ballerini, Nicola Cabibbo, Raphael Candelier, Andrea Cavagna, Evaristo Cisbani, Irene Giardina, Alberto Orlandi, Giorgio Parisi, Andrea Procaccini, Massimiliano Viale, Vladimir Zdravkovic: Empirical investigation of starling flocks: a benchmark study in collective animal behaviour. In: Animal Behaviour 76(1), Juli 2008, S. 201–215, doi:10.1016/j.anbehav.2008.02.004.
- Clarivate Unveils Citation Laureates 2021 – Annual List of Researchers of Nobel Class. In: Clarivate. 22. September 2021, abgerufen am 2. Oktober 2021 (englisch).
- Press release: The Nobel Prize in Physics 2021 auf nobelprize.org, abgerufen am 5. Oktober 2021 (englisch).