Finnische Literatur
Unter Finnischer Literatur wird im Folgenden die in der finnischen Sprache verfasste Literatur verstanden. Zur Finnlandschwedischen Literatur siehe dort bzw. im Abschnitt Anderssprachige Literatur aus Finnland, wo auch die in Finnland entstandenen samischsprachigen Literaturen behandelt werden. Alle in Finnland entstandenen Literaturen werden als ein Teil der skandinavischen Literatur betrachtet.[1]
Finnischsprachige Literatur
Die finnische Literatur trägt den Wechselfällen der Geschichte des Landes Rechnung, denn lange Zeitabschnitte hindurch war die Regierungs- und Kultursprache eine andere als die finnische Volkssprache. Finnland war fast siebenhundert Jahre ein integraler Teil Schwedens (siehe den Abschnitt Ein Teil Schwedens im Artikel Geschichte Finnlands). Auch in den darauffolgenden mehr als einhundert Jahren, als Finnland ein mit weitgehender innerer Autonomie ausgestattetes Großfürstentum innerhalb des Russischen Kaiserreichs war (siehe dazu Großfürstentum Finnland), blieb Schwedisch zunächst die dominierende Sprache. Zu einer gleichberechtigten Amtssprache wurde das Finnische erst im Jahr 1902 (siehe Finnische Sprachenpolitik). Mit Finnlands EU-Beitritt im Jahr 1995 wurde das Finnische eine der Amtssprachen der Europäischen Union.
Den größten Werken der finnischsprachigen Literatur liegt die Absicht der Schaffung und Erhaltung einer starken finnischen Identität zu Grunde.
Vor dem 16. Jahrhundert
Was in der finnischen Sprache geschrieben wurde, ist relativ neu, so dass sich aus dem Mittelalter oder davor keine wesentliche Literatur erhalten hat. Einige wichtige Bücher, wie die Bibel oder geschriebene Gesetze, standen bis ins 16. Jahrhundert nur auf Lateinisch, auf Schwedisch oder auf anderen europäischen Sprachen (Französisch oder Deutsch) zur Verfügung.
Die wahrscheinlich älteste finnische Text ist eine Übersetzung des Gebetes Vaterunser in dem 1544 von Sebastian Münster in Basel veröffentlichten Buch Cosmographia (in deutsch-lateinischer Version).
Schaffung einer Literatursprache im 16. Jahrhundert
Die finnische Schriftsprache begründete schließlich der lutheranischen Pastor Mikael Agricola (1510–1557), der sich auf westliche Dialekte stützte. Sein Hauptwerk ist das Neue Testament (Se Wsi Testamenti) in finnischer Übersetzung, das 1548 veröffentlicht wurde und das erste in finnischer Literatursprache geschriebene Werk wurde.
Kalevala - Nationalepos
Kalevala
Das finnische Epos Kalevala[2] ist eine in jahrzehntelanger Arbeit von Elias Lönnrot (1802–1884) aus mündlich überlieferten Gesängen gesammelte und dichterisch zu einem einheitlichen Ganzen verbundene Sammlung finnischer Volksdichtung, die 1835 zuerst veröffentlicht wurde. Das Werk wurde rasch zum finnischen Nationalepos und zum Symbol des finnischen Nationalismus. Anton Schiefner (1817–1879) schuf unter dem Titel Kalewala, das National-Epos der Finnen[3] die erste Übersetzung in die deutsche Sprache (1852), die derzeit maßgebliche deutsche Übersetzung stammt von Hans Fromm (1967).
Kanteletar
Als lyrisches „Schwesterwerk“ des Kalevala gilt die Kanteletar, eine 1840 ebenfalls von Elias Lönnrot zusammengestellte Sammlung finnischer Volkspoesie.
Die Werke hatten großen Einfluss auf andere finnische Künstler, wie Jean Sibelius (1865–1957), den international meistbeachteten finnischen Komponisten.[4]
Die sieben Brüder
Der erste in finnischer Sprache veröffentlichte Roman, der zugleich als eines der größten Werke, wenn nicht das größte Werk der finnischen Literatur gilt, ist das Werk Die sieben Brüder (1870) von Aleksis Kivi (1834–1872). Ein weiterer klassischer Text aus seiner Feder ist die Bauernkomödie Die Heideschuster (1864).
20. Jahrhundert
Frans Eemil Sillanpää (1888–1964) erhielt für seinen Roman Nuorena nukkunut (1931, dt.: Silja, die Magd) im Jahr 1939 als bislang einziger Finne den Literaturnobelpreis. Der Roman handelt vom frühen Tuberkulosetod des schönen Landmädchens Silja; es wurde 2017 neu ins Deutsche übersetzt („Jung entschlafen“). In den 1930er Jahren entstand in Finnland eine autobiographisch geprägte Arbeiterliteratur, deren erster und wichtigster Vertreter Toivo Pekkanen (Tehtan Varjossa, 1932). Der chronologisch vorangehende, aber erst 1953 erschienene Roman Lapsuuteni („Meine Kindheit“, Leipzig 1987) wurde ins Deutsche übersetzt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg publizierte der einem sozialen Realismus verpflichtete Väinö Linna (1920–1992) sein bekanntestes Werk Der unbekannte Soldat oder Kreuze in Karelien (finnischer Originaltitel: Tuntematon sotilas). In dem 1954 erschienenen Werk beschreibt er den Krieg gegen die Sowjetunion und kritisiert das Heldenpathos. Es wurde erst 2000 ungekürzt veröffentlicht, weil viele Passagen in der Nachkriegszeit als anstößig angesehen wurden. Seine Trilogie Hier unter dem Polarstern schildert die Wunden des Bürgerkriegs nach dem Ersten Weltkrieg. Juha Mannerkorpi, Epiker und Dramatiker, wurde u. a. durch seinen stilistisch vielfältigen humoristischen Episodenroman Sudenkorento (1970) bekannt. Weltweit beliebt wurde der umfangreiche historische Roman Sinuhe (1945) des Schriftstellers Mika Waltari (1908–1979), der auch Kriminalromane und Erzählungen veröffentlichte.
Zeitgenössische Literatur
Arto Paasilinna (1942–2018) wurde durch humoristische Romane mit Titeln wie Der wunderbare Massenselbstmord, Vorstandssitzung im Paradies, Weltretten für Anfänger international erfolgreich. Annika Idström (1946–2011) wurde durch ihre Romane, die in Finnland teils als skandalös empfunden wurden, sowohl in der DDR als auch in Westdeutschland bekannt. Tommi Kinnunen (* 1973) verfasste Familienromane mit autobiographischen Anklängen. In dem Roman Kärjäläinen ja jänis (Bettler und Hase) von Tuomas Kyrö (* 1974) schlägt sich ein rumänischer Bettler durch das ganze Land. Von den Romanen und Krimis Antti Tuomainens wurden mehrere ins Deutsche übersetzt („Klein-Sibirien“ 1920).
Neuerdings gewinnt die Geschichtsepik wieder an Bedeutung. Der Roman „Fegefeuer“ der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen (* 1977) wurde in fast 40 Sprachen übersetzt. Er handelt vom Schrecken des Nationalsozialismus und Stalinismus in Finnland und Estland. Jari Järvelä (* 1985) und Jari Tervo (* 1959), der auch als Autor eines Kriminalromans ausgezeichnet wurde, verfassten historische Romantrilogien zu den Wendepunkten der neueren finnischen Geschichte. Katja Kettu (* 1978) wurde in Deutschland durch den Roman Kätilö (2011; dt. „Wildauge“, 2014) über eine deutsch-finnische Liebesbeziehung während des Winterkriegs bekannt.
Vermittler der finnischen Kultur und Literatur im deutschen Sprachraum sind Hans Fromm (Übersetzung des Kalevala) und in der jüngeren Generation Stefan Moster, der Werke von Rosa Liksom, Hannu Raittila, Kari Hotakainen, Mikko Rimminen, Markku Ropponen, Petri Tamminen und vielen weiteren finnischen Autoren übersetzte und 2001 mit dem staatlichen finnischen Übersetzerpreis ausgezeichnet wurde.
Akademische Institutionen
Matthias Alexander Castrén (1813–1852) wurde 1851 zum ersten Professor des neugeschaffenen Lehrstuhls für finnische Sprache und Literatur an der Universität Helsinki ernannt.
Finnische Literaturgesellschaft
Die Finnische Literaturgesellschaft (finn. Suomalaisen Kirjallisuuden Seura oder SKS) wurde 1831 gegründet, um die in Finnisch geschriebene Literatur zu fördern. Zu ihren ersten Publikationen zählt Kalevala, das finnische Nationalepos. Sie ist Herausgeber der Finnish Literature Society Editions. Sie veröffentlichte verschiedene breit angelegte Sammelwerke, wie die 34-bändige Sammlung Suomen Kansan Vanhat Runot[5] (Die alte Volksdichtung Finnlands), die Sammelwerke Suomen Kansan Sävelmiä (Finnische Volkslieder), Kalevalan Bunojen Historia (Geschichte der Kalevala-Lieder) und Suomalaisen teatterin historia (Geschichte des finnischen Theaters).
Volksdichtungsarchiv
Im großen Volksdichtungsarchiv[6] der Finnischen Literaturgesellschaft werden die Ergebnisse der Sammelarbeit der Gesellschaft aufbewahrt und erforscht.[7]
Es ist das weltweit umfangreichste und größte Volksüberlieferungsarchiv.[8]
Literaturpreise
Die Lesebegeisterung der Finnen kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass in Finnland viele Literaturpreise verliehen werden. Der Finlandia-Preis (finn. Finlandia-palkinto, schwed. Finlandiapriset) ist einer der renommiertesten Literaturpreise Finnlands, der jährlich seit 1984 von der Finnischen Buchstiftung (finn. Suomen Kirjasäätiö, schwed. Finlands bokstiftelse) für ein Werk der Belletristik verliehen wird und seit 1993 ausschließlich für einen Roman. Seit 1985 wird der Finnische Krimipreis verliehen, seit 1993 auch in der Kategorie international.
Verschiedenes
Finnland war 2014 das Gastland der Frankfurter Buchmesse. In diesem Jahr wurden ca. 140 Titel ins Deutsche übersetzt.
Anderssprachige Literatur aus Finnland
Finnlandschwedische Literatur
Die Finnlandschwedische Literatur wird in der Regel auch von finnischsprachigen Finnen als integraler Bestandteil der finnischen Kultur aufgefasst. Das Hauptwerk der schwedischsprachigen finnischen Nationalromantik war das Versepos Fähnrich Stahl (1848/60) von Johan Ludvig Runeberg, der auch den Text der finnischen Nationalhymne dichtete (auf Schwedisch).[9]
Zu den bekanntesten finnlandschwedischen Schriftstellern der neueren Zeit gehört Tove Jansson (1914–2001), die Schöpferin der Mumins, der wahrscheinlich bekanntesten literarischen Figuren Finnlands. Dabei handelt es sich um erfundene nilpferdartige Trollwesen, die heute meist besser bekannt sind als Comics oder in Form von Karikaturen.
Als jüngerer finnlandschwedischer Autor wurde auch Philip Teir (* 1980) durch seinen historischen Roman Winterkrieg[10] bekannt.
- Siehe auch: Finnlandschwedische Literatur
Sami-Literatur
Kirste Paltto (* 1947) beschreibt in ihrem Roman „Zeichen der Zerstörung“ die Verluste, die ihr Volk im Krieg erlitten hatte. Es war das erste Buch, das 1997 aus dem Samischen ins Deutsche übersetzt wurde.[11]
- Siehe auch: Samen (Volk) und Skandinavische Literatur (Sami-Literatur).
Siehe auch
- Finnischsprachige Schriftsteller (Liste)
- Linkliste: Finnische Literatur
- Akademie zu Turku
- Åbo Akademi
- Finnisch-Ugrische Gesellschaft
- Finnische Altertumsgesellschaft
Literatur
- Jaakko Ahokas: A History of Finnish Literature. Indiana University Press, Bloomington USA, 1973, ISBN 978-0-87750-172-5.
- Finland: A Cultural Encyclopedia (Finnish Literature Society Editions). 2000.
- George C. Schoolfield: A History of Finland's Literature (History of Scandinavian Literatures, vol. 4) 1998 (Online-Teilansicht).
- Gisbert Jänicke (Herausgeber): Finnland. – Erkundungen. 22 Erzähler aus Finnland. Aus dem Finnischen von Gisbert Jänicke, Regine Pirschel und Peter Uhlmann. Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek und Widerun Rehwaldt. Mit einer Nachbemerkung des Herausgebers, 2. Auflage, Verlag Volk und Welt, Berlin (Ost) 1988.
- Manfred Peter Hein (Hrsg.): Moderne Erzähler der Welt: Finnland. (Anthologie) Erdmann, Tübingen 1974.
- Erich Kunze: Finnische Literatur in deutscher Übersetzung 1675–1975. Eine Bibliographie. Painatusjaos, Helsinki 1982.
- Hans Grellmann: Finnische Literatur. Ferdinand Hirt, Breslau 1932.
- Eino Leino: Die Hauptzüge der finnischen Literatur [1918]. Klett-Cotta, Stuttgart 1980.
- Horst Bien: Nordeuropäische Literaturen. VEB Verlag, 1980 (Inhalt: Dänische, Norwegische, Finnische Literatur u.v.m.).
- Johann Jakob Meyer: Vom Land der tausend Seen – Eine Abhandlung über die neuere finnische Literatur und eine Auswahl aus mehreren finnischen Novellisten, Georg Wigand, Leipzig 1910.
- Kai Laitinen: Finnlands moderne Literatur. Aus dem Finnischen von C.-A. von Willebrand. – Schriften aus dem Finnland-Institut in Köln. Band 8, Verlag Christoph von der Ropp, Hamburg 1969.
- Pirkko Liisa Rausmaa: A catalogue of anecdotes in the Folklore Archives of the Finnish Literature Society. Turku: Nordic Inst. of Folklore / Helsinki: Suomalaisen Kirjallisuuden Seuran.
- Emil Setälä: „Die finnische Literatur“. In: Die osteuropäischen Literaturen und die slawischen Sprachen, hrsg. von Adalbert Bezzenberger u. a., Berlin und Leipzig 1908, S. 309–332 (Digitalisat).
- Kai Laitinen: Literature of Finland: In Brief. 2001.
- Kai Laitinen: Finnische Literatur im Überblick. Otava Verlag, Helsinki 1989.
- Pertti Lassila: Geschichte der finnischen Literatur. A. Francke Verlag, Tübingen und Basel 1996.
- Pekka Tarkka: Finnische Literatur der Gegenwart. Fünfzig Autoren-Porträts. Otava Verlag, Keuruu 1983.
- Runar Schildt: Zoja und andere Erzählungen (Armas Fager, Der Hexenwald (Häxskogen), Der Schwächere (Den svagare), Der Fleischwolf (Köttkvarnen)). Geschichten aus Finnland. Aus dem Finnlandschwedischen von Gisbert Jänicke. Auswahl und Nachwort von Aldo Keel. Manesse, Zürich 2001, ISBN 3-7175-1972-7.
Weblinks
- Kleines Abc der finnischen Literatur: Alles, was man wissen muss (Stefan Moster, NZZ, 7. Oktober 2014)
- Finnische Literatur in Deutscher Übersetzung (Botschaft von Finnland, Berlin)
- Finnisch (Ingrid Schellbach-Kopra)
- Die Finnen kommen, TAZ (Katharina Granzin)
- Finnische Literatur : Ein flüchtiges Leuchten (DLF)
- finland.fi: Finnish contemporary literature: A wealth of voices
- Lesebegeisterte Finnen. In: Zeit Online. 13. Dezember 2006, archiviert vom Original am 17. August 2014 .
Einzelnachweise und Fußnoten
- Jürg Glauser (Hrsg.): Skandinavische Literaturgeschichte. J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016 (2. aktualisierte und erweiterte Aufl.)
- Vgl. den Artikel von Hans Fromm in der Enzyklopädie des Märchens, Band 7, 1993 (Online-Teilansicht).
- Kalewala, das National-Epos der Finnen (de.wikisource.org)
- siehe auch Finnische Musik
- siehe unter skvr.fi
- Vgl. Annette Sabban, Jan Wirre (Hrsg.): Sprichwörter und Redensarten im interkulturellen Vergleich. Westdeutscher Verlag, Opladen 1991, S. 37 (Volksdichtungsarchiv&f=false Online-Teilansicht). Siehe darin auch den Beitrag zu dem finnischen Märchenforscher Antti Aarne (1867–1925) von Pirkko-Liisa Rausmaa (Volksdichtungsarchiv&f=false Online-Teilansicht); vgl. Aarne-Thompson-Index
- Ingrid Schellbach-Kopra: Finnisch; vgl. Offizielle Website( englisch (Memento des Originals vom 22. Februar 2006 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. ) & Archives of the Finnish Literature Society (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Finnische Volksmärchen. Diederichs, München 1993, S. 315
- In einem nach dem finnlandschwedischen Dichter Johan Ludvig Runeberg benannten Projekt Runeberg in Schweden werden Texte mit abgelaufenem Urheberrecht aus den nordischen Ländern digitalisiert und sind frei verfügbar im Internet zugänglich.
- siehe auch Winterkrieg
- Buch- und Autoreninfo auf der Website des Persona-Verlags