Alfred Nakache
Alfred „Artem“ Nakache (* 18. November 1915 in Constantine; † 4. August 1983 in Cerbère) war ein französischer Schwimmer und Wasserballspieler. Er ist der einzige Sportler, der an Olympischen Spielen vor sowie nach einer Gefangenschaft im KZ Auschwitz teilnahm. In Frankreich erhielt er den Beinamen „nageur d’Auschwitz“ („Schwimmer von Auschwitz“).
Biographie
Kindheit und Jugend in Algerien
Der Großvater von Alfred Nakache, ein sephardischer Jude, war im 19. Jahrhundert aus Marokko nach Algerien gekommen, damals Teil von Französisch-Nordafrika. Dort wurde Nakache in Constantine als eins von zehn Kindern einer traditionellen jüdischen Familie geboren.[1] Die Stadt trug damals wegen des jüdischen Bevölkerungsanteils von 20 Prozent bei insgesamt rund 100.000 Einwohnern den Beinamen petit Jerusalem.
Der Vater David Nakache brachte seinem Sohn, der anfangs panische Angst vor Wasser hatte, im Piscine Sidi M’Cid nahe der gleichnamigen Brücke das Schwimmen bei.[2] Bald jedoch schwamm dieser so gut, dass er den Beinamen „Artem“, hebräisch für „Fisch“, bekam.[3] Mit seinem Vater und seinen Brüdern spielte er gemeinsam auch Wasserball. Im Alter von 17 Jahren startete er erstmals für seinen Verein bei einer Meisterschaft und gewann kurz darauf die Coupe de Noël de Constantine, einen Schwimmwettbewerb im offenen Meer bei Philippeville (heute Skikda).[4][1]
Erfolge als Schwimmer bis 1942
1933 nahm Nakache an französischen Meisterschaften im Piscine des Tourelles in Paris teil und lernte dort sein Idol Jean Taris kennen, mit dem ihn anschließend eine lebenslange Freundschaft verband. Er blieb in Paris, wurde Mitglied des Racing Club de France und begann am Institut national du sport et de l’éducation physique (INSEP) eine Ausbildung zum Sportlehrer, die er 1939 abschloss.[5]
1935 errang Nakache bei der Makkabiade in Tel Aviv die Silbermedaille im Freistil. Im Jahr darauf startete er bei den Olympischen Spielen in Berlin in der 4×200-Meter-Staffel im Freistil. Die Mannschaft aus Nakache, Jean Taris, Christian Talli und René Cavalero belegte Rang vier.[4] Aufgrund seiner sportlichen Leistungen sollte er 1937 an einem Vergleich zwischen einer europäischen und einer US-Mannschaft teilnehmen, musste aber, wahrscheinlich weil er Jude war, seinen Platz einem Schwimmer aus Deutschland überlassen. 1938 wurde er in der 4×200-m-Kraulstaffel gemeinsam mit Talli, Cavalero und Roland Pallard Vize-Europameister, und 1939 errang er bei den französischen Studentenmeisterschaften vier Goldmedaillen.
Nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht und den damit verbundenen Restriktionen für Juden ab 1940 floh Nakache mit seiner Familie nach Toulouse in Vichy-Frankreich und schloss sich dem Toulouse Olympique Etudiants Club (TOEC) an, dessen Schwimmabteilung sich Dauphins du TOEC nannte.[3] Dort eröffnete er mit seiner Frau Paule ein Sportstudio und trainierte auch Angehörige des jüdischen Widerstandes.[3][5] Am 6. Juli 1941 verbesserte er in Marseille den 200-m-Weltrekord des US-Amerikaners Jack Kasley im Brustschwimmen auf 2:36,8 Minuten. Bei den folgenden französischen Meisterschaften in Villeurbanne errang er acht von insgesamt zwölf Titeln. 1943 übten die Behörden Druck auf die Organisatoren der französischen Meisterschaften in Toulouse aus, dass Nakache nicht starten dürfe. Daraufhin traten aus Solidarität mit ihm alle Schwimmer seines Vereins TOEC sowie mehrere Schwimmer anderer Vereine nicht an.[4]
Ein früherer sportlicher Rivale hingegen, Jacques Cartonnet (auch Ulysse Cartonnet genannt[6]), war überzeugter Faschist und Milizionär, der in der Zeitung Le Grand Écho du Midi gegen die Juden und insbesondere Nakache hetzte.[5] Andere Zeitungen schrieben, dieser jüdische Schwimmer „verschmutze das Wasser in französischen Schwimmbecken“.[1]
Cartonnet soll auch derjenige gewesen sein, der die Familie Nakache später bei der Gestapo denunzierte. Im November 1947 schrieb der Der Spiegel: „Jacques Cartonnet, der frühere französische Meisterschwimmer, nach dem Kriege als Kollaborateur zum Tode verurteilt und entkommen, weilte bis jetzt unter falschem Namen in dem italienischen Kapuzinerkloster Foligno. Die italienische Polizei verhaftete ihn.“[7][Anm. 1]
In Auschwitz
Im Dezember 1943 wurde Nakache gemeinsam mit seiner Frau Paule und seiner zweijährigen Tochter Annie inhaftiert und über die Lager Drancy und Buna-Monowitz nach Auschwitz deportiert. Im Konvoi befanden sich 1368 Menschen, von denen letztlich 47 das Kriegsende erlebten. Ebenfalls in diesem Konvoi befanden sich der tunesische Boxer Victor Perez sowie der französische Sportjournalist Noah Klieger, mit denen er sich anfreundete, wie auch mit weiteren Lagerinsassen, darunter der US-amerikanische Filmausstatter Willy Holt und der italienische Schriftsteller Primo Levi. Nakaches Frau und Tochter[8] wurden sofort nach Ankunft in den Gaskammern ermordet, wovon Nakache bis nach Kriegsende keine Kenntnis hatte.[9][10] Perez wurde im Januar 1945 auf einem Todesmarsch erschossen, Levi, Klieger und Holt überlebten die Shoah. Holt erinnerte sich in seinen Memoiren an Nakache als an jemanden, der „vielen von uns Hoffnung gegeben“ habe.[11]
Im Lager, wo er im Lazarett arbeitete, hielt Nakache seine Moral aufrecht, indem er gemeinsam mit anderen Gefangenen heimlich in den Löschwasserbecken schwimmen ging. Die Behauptung eines Nakache-Biografen, die Wachen hätten sich einen „Spaß“ daraus gemacht, Nakache zu demütigen, indem sie ihn wie ein „dressiertes Tier“ nach Gegenständen tauchen ließen, wurde jedoch von Klieger als „Erfindung“ abgetan.[12] Letztlich überstand Nakache die Torturen im KZ dank seiner starken körperlichen und psychischen Konstitution, und er überlebte auch den Todesmarsch von Auschwitz nach Buchenwald im Januar 1945. Nach der Befreiung des Lagers durch die 3. US-Armee am 11. April 1945 blieb er zunächst dort, um Mithäftlinge im Krankenhaus zu betreuen.[5] Als er nach Toulouse zurückkehrte, wog der ehemals 85 Kilogramm schwere Mann noch 42 Kilogramm.[4] Dort war am 9. Oktober 1944[13] das städtische Schwimmbad nach ihm benannt worden, da man ihn tot glaubte.[1][14]
Nach dem Krieg
Alfred Nakache fand zunächst Aufnahme bei der Familie eines seiner Schwimmkameraden, bei Jean Taris oder Alex Jany.[5] Monatelang ging er noch zum Bahnhof in der Hoffnung, die Namen von Frau und Tochter auf Listen von Überlebenden zu finden; er erfuhr erst später von deren Tod.[3] Mit eisernem Lebenswillen begann er umgehend wieder mit dem Training, so dass er acht Monate später drei französische Meistertitel im Schwimmen errang und mit der Wasserball-Mannschaft im nationalen Finale stand. 1946 holte er über 200 Meter Brust seinen letzten Meistertitel, 1947 und 1948 wurde er Vize-Meister. 1948 wurde er für die Olympischen Spiele in London nominiert, wo er das Halbfinale des 200-Meter-Wettbewerbs im Brustschwimmen erreichte.[4] Dabei schwamm er im Schmetterlingsstil, den er schon als einer der ersten praktiziert hatte und als eine Spielart des Brustschwimmens galt, bis er 1953 als eigene Disziplin anerkannt wurde.[15] Verschiedenen Quellen zufolge[16] soll er auch Mitglied im französischen Wasserball-Team, das den sechsten Platz belegte, gewesen sein.[17]
Anschließend beendete Nakache seine sportliche Laufbahn und arbeitete als Sportlehrer und Schwimmtrainer. So war er einer der Trainer des späteren Olympiasiegers Jean Boiteux. 1946 versteckte er in seinem Sportstudio Waffen für den ehemaligen Widerständler und zionistischen Aktivisten Abraham Polonski, der später ein Kommandeur in der Hagana und Mitbegründer der israelischen Armee wurde.[5] 1950 heiratete er zum zweiten Mal.
1961 verließen die letzten Angehörigen seiner Familie, darunter seine Eltern, Algerien und kamen zu Nakache nach Toulouse, nachdem der jüdische Musiker Cheikh Raymond in Constantine Opfer eines Attentats von algerischen Nationalisten geworden war.[1] Schon 1934 waren 27 Menschen, 25 davon Juden, bei einem Pogrom in Constantine von Muslimen getötet geworden.[18]
Von 1972 bis 1976 lebte Nakache mit seiner Frau auf Réunion, wo er einen Schwimmclub gründete und an der neugegründeten Universität Sportunterricht erteilte. Sein erklärtes Ziel war die Förderung von Schwimmerinnen und Schwimmern aus den Französischen Überseegebieten.
Als Ruheständler ließ sich Alfred Nakache in der Nähe der Mittelmeerküste zwischen Sète und Cerbère nieder, da seine Frau Marie dorther stammte und ihn Klima und Landschaft an Algerien erinnerten. Er starb 1983 an einem Herzinfarkt, als er im Hafen von Cerbère sein tägliches Schwimmtraining absolvierte. Auf seinem Grabstein auf dem Friedhof Le Py in Sète stehen auf seinen Wunsch hin auch die Namen seiner ersten Frau Paule und seiner Tochter Annie, an die als „Opfer der deutschen Barbarei“ erinnert wird.[3]
Rezeption
In Frankreich sind weitere Schwimmbäder nach Alfred Nakache benannt, unter anderem in Paris, Montpellier und in Nancy.[19] 2014 wurde im Rathaus von Sète eine Ausstellung über Nakache gezeigt.[1]
1993 wurde Nakache in die International Jewish Sports Hall of Fame aufgenommen.[20]
2001 wurde ein Dokumentarfilm über Nakache produziert (Christian Meunier: Alfred Nakache, le nageur d'Auschwitz); 2009 publizierte Denis Baud das Buch Alfred Nakache. Le nageur d’Auschwitz (Nouvelles Editions Loubatières. ISBN 978-2-86266-591-7). Im selben Jahr wurde bekannt, dass ein Spielfilm über Nakaches Leben mit den beiden Schwimmern Laure Manaudou und Frédérick Bousquet geplant sei, der bisher nicht zustande kam, weil die Familie von Nakache dieses Projekt ablehnte.[21]
2019 wurde Alfred Nakache in die International Swimming Hall of Fame in Fort Lauderdale in Florida aufgenommen.[22]
Familie
Die bekannten französischen Filmschaffenden Olivier Nakache und seine Schwester Géraldine Nakache sowie die ehemalige französische Parlamentsabgeordnete Yvette Benayoun-Nakache aus Toulouse sind Nachkommen von Geschwistern von Alfred Nakache.[23]
Literatur
- Lutz Krusche: Boxershorts mit Judenstern. In: Der Spiegel. Nr. 50, 1999 (online).
- Christian Eichler: Der Freischwimmer, in: FAZ Nr. 265, 14. November 2015, S. 44 (online).
- Sebastian Moll: Das Wasser als Zukunft und Leidenschaft. Der Franzose Alfred Nakache hat Auschwitz überlebt und an zwei Olympischen Spielen teilgenommen, in: F.A.S., 18. August 2019, S. 32.
- Denis Baud: Alfred Nakache : Le nageur d’Auschwitz. Nouvelles Éditions Loubatières, Toulouse 2009, ISBN 978-2-86266-591-7.
Weblinks
- Alfred Nakache in der Datenbank von Olympedia.org (englisch)
- Alfred Nakache. constantine-hier-aujourdhui.fr (mit mehreren Fotos), abgerufen am 29. April 2014.
- Nina Schönmeier: Pionier des Schmetterlings. Jüdische Allgemeine, 27. Mai 2010, abgerufen am 29. April 2014.
- Foto des Grabes von Nakache. landrucimetieres.fr, abgerufen am 29. April 2014.
- Films-Documentaires: Alfred Nakache, le nageur d'Auschwitz – Video. In: Dailymotion. Abgerufen am 15. November 2015 (französisch).
Einzelnachweise und Anmerkungen
- Weitere präzise Informationen über ihn gibt es nicht. Siehe auch: Cartonnet (Ulysse dit Jacque). Galaxie Natation, 9. September 2013, abgerufen am 30. April 2014 (französisch).
- Alfred Nakache, le nageur d’Auschwitz. Véronique Chemla, abgerufen am 29. April 2014.
- A l’est... Eden: Bains de Sidi M'cid à Constantine. vitaminedz.com, abgerufen am 30. April 2014 (französisch).
- Alfred Nakache: le triomphe de la vie. natationpourtous.com, abgerufen am 29. April 2014 (französisch).
- Alfred Nakache. Memoire Afrique du Nord, abgerufen am 29. April 2014 (französisch).
- Bernard Gensane: Daniel Baud: Alfred Nakache, le nageur d’Auschwitz. Le Grand Soir, 28. Februar 2010, abgerufen am 29. April 2014 (französisch).
- Ulysse Cartonnet in der Datenbank von Sports-Reference (englisch; archiviert vom Original), abgerufen am 30. April 2014.
- Jacques Cartonnet. In: Der Spiegel. Nr. 46, 1947 (online – 15. November 1947).
- https://twitter.com/auschwitzmuseum/status/1425804261212839937. Abgerufen am 12. August 2021.
- Paule Nakache. Yad Vashem, abgerufen am 29. April 2014.
- Annie Nakache. Yad Vashem, abgerufen am 29. April 2014.
- Alain Buisson: Willy Holt: comment j’ai survécu à la Shoah. La Depeche, 8. Oktober 2000, abgerufen am 30. April 2014 (französisch).
- Christian Eichler: Der Freischwimmer. S. 3. bei faz.net, 17. November 2015 (abgerufen am 17. November 2015).
- Denis Baud: Alfred Nakache le nageur d’Auschwitz, éd. Loubatières. (Nicht mehr online verfügbar.) Francis Pornon, 2010, archiviert vom Original am 27. Mai 2014; abgerufen am 16. September 2019 (französisch, Originalwebseite nicht mehr verfügbar).
- Das Bad wurde anschließend nicht umbenannt und trägt noch heute seinen Namen.
- Swimming at the 1948 London Summer Games: Men’s 200 metres Breaststroke. Sports-Reference.com, abgerufen am 30. April 2014.
- (Beispiel natationpourtous.com)
- Diese Angabe lässt sich nicht verifizieren. Im Offiziellen Amtlichen Bericht der Olympischen Spiele 1948 ist Nakache nicht als Mitglied der Wasserball-Mannschaft aufgeführt.
- Siehe: Pogrom de Constantine. latorturenalgerie.free.fr, abgerufen am 14. Mai 2014 (französisch).
- Piscine Olympique Alfred Nakache Nancy-Gentilly. Abgerufen am 29. April 2014 (französisch).
- Alfred Nakache. jewishsports.net, abgerufen am 29. April 2014 (englisch).
- Laure Manaudou: La Famille Nakache n’en veut pas. Voici, 28. September 2009, abgerufen am 29. April 2014 (französisch).
- Alfred Nakache au Hall of Fame Fort-Lauderdale : en souvenir du nageur d'Auschwitz. In: lequipe.fr. 19. Mai 2019, abgerufen am 22. Mai 2019.
- Yvette Benayoun-Nakache arrêté la politique. (Nicht mehr online verfügbar.) Voix du Midi, 12. Januar 2014, archiviert vom Original am 2. Mai 2014; abgerufen am 30. April 2014 (französisch). Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.