Ōmu Shinrikyō
Ōmu Shinrikyō (jap. オウム真理教; zu Deutsch etwa „Om-Lehre der Wahrheit“), heutiger Name Aleph (アレフ, Arefu), in der deutschsprachigen Presse häufig als Aum-Sekte bezeichnet, ist eine ursprünglich in Japan entstandene neureligiöse Gruppierung, die insbesondere in Russland stark vertreten war. Sie wurde der weltweiten Öffentlichkeit durch ihren Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn am 20. März 1995 bekannt. Im Januar 2000 benannte sich Ōmu Shinrikyō in Aleph um.
Geschichte
Entstehung (1983 bis 1987)
In Japan sind (per 31. Dezember 2006) 182.868 Religionsgesellschaften (宗教法人, shūkyō hōjin), also Religionsgemeinschaften (宗教団体, shūkyō dantai) mit dem Status juristischer Personen nach dem Gesetz über die Religionsgesellschaften (宗教法人法, shūkyō hōjinhō) von 1951 anerkannt; davon sind 182.468 einzelne, unabhängige Tempel, Schreine, Kirchen und sonstige Gemeinschaften.[1] Nach der Etablierung der „klassischen“ buddhistischen und Shintō-Sekten und einer Welle von Gründungen jüngerer Kultgruppen in den 1950ern und 1960ern kam es ab Mitte der 1970er Jahre zu einer dritten Gründungswelle von Glaubensgemeinschaften.[2] Die dritte Gründungswelle, zu der auch Ōmu Shinrikyō gezählt wird, unterscheidet sich dabei von der zweiten Welle durch den höheren Status und größeren Reichtum der Sektenmitglieder.[2]
1984 gründete der stark sehbehinderte Chizuo Matsumoto unter dem Namen Ōmu Shinsen no Kai (オウム神仙の会; „Versammlung der Om-Einsiedler“) mit zunächst 15 Mitgliedern einen Verein für Yoga-Übungen, die psychische Kräfte aktivieren sollen.[3] Zu dieser Zeit ändert Matsumoto auch seinen Namen in Shōkō Asahara.[3] Nachdem er 1986 nach eigenen Angaben im Himalaja „die höchste Wahrheit“ erhalten habe, nannte er im Folgejahr den Verein in Ōmu Shinrikyō (Om-Lehre der Wahrheit) um.[3] Ōmu Shinrikyō nahm nun allmählich die Form einer religiösen Gruppierung an.
1985 traf Asahara in Dharamsala zum ersten Mal den Dalai Lama, welcher ihm offizielle Empfehlungsschreiben gegeben haben soll. Dieses Treffen und die Dokumente wurden als Referenz bei der Anwerbung von neuen Mitgliedern und bei den Bemühungen um den steuerfreien Status einer Religionsgemeinschaft benutzt.[4]
Konsolidierung, internationale Expansion und Radikalisierung (1987 bis 1995)
In den Jahren nach der Entstehung expandierte Ōmu Shinrikyō sowohl innerhalb Japans als auch über seine Grenzen hinaus. Gleichzeitig fand eine ideologische Radikalisierung statt.
Konsolidierung in Japan
In Japan etablierte sich Ōmu Shinrikyō als kleinere Minderheitenreligion. Im August 1989 erkannte die Präfektur Tokio Ōmu Shinrikyō als Religionsgesellschaft nach dem Gesetz über die Religionsgesellschaften von 1951 an,[5][6] obwohl Eltern von Mitgliedern vor der Organisation warnten.
Bereits in dieser Zeit begann die Organisation zu Gewalt zu greifen. Im November 1989 wurde in Yokohama der japanische Rechtsanwalt Tsutsumi Sakamoto, der Angehörige von Anhängern vertrat, zusammen mit seiner Frau und seinem einjährigen Sohn getötet.[7] Im Folgejahr gründete Asahara unter dem Namen Shinritō („Wahrheit“) eine politische Vertretung Ōmu Shinrikyōs und kandidierte zusammen mit 24 Anhängern für das japanische Parlament.[8] Während der Wahlkampagne trugen die Shinritō-Kandidaten ungewöhnliche Kleidung, so zum Beispiel Kapuzen, die Elefantenköpfe darstellten.[8] Bei der Wahl selbst erhielten Asahara und seine Anhänger in ihren Wahlkreisen jeweils die wenigsten Stimmen, woraufhin Asahara den Behörden Wahlbetrug vorwarf.[8] Nach der Wahl geriet Ōmu Shinrikyō in finanzielle Probleme, viele Mitglieder verließen die Organisation.
Internationale Expansion
Ab Herbst 1987 expandierte Ōmu Shinrikyō über die Grenzen Japans hinaus. Zunächst ließ man sich in New York unter dem Namen Aum USA Company Ltd. als steuerbefreite religiöse Organisation registrieren[5] und publizierte 1988 unter diesem Verlagsnamen Shoko Asahara: "Supreme Initiation".[9] Später wurden eine Niederlassung in Bonn unter dem Namen „Buddhismus- und Yoga-Center“ sowie in Sri Lanka weitere Dependancen eröffnet.[10] Hauptrekrutierungsfeld wurde jedoch Russland, wo Asahara 1992 mit einigen seiner Mitstreiter vom damaligen Parlamentspräsidenten Ruslan Chasbulatow empfangen wurde. Nach dem Ende der Sowjetunion hatte die Sekte eine beachtliche Medienkampagne in Russland begonnen, zu der u. a. eigene Fernseh- und Radioprogramme, über die sich Asahara direkt an seine Untergebenen wandte, oder Flugblattaktionen gehörten.[11] Genau wie in Japan wurden die Anhänger in landesweite Sektionen aufgeteilt. Nach gängigen Schätzungen wuchs Ōmu Shinrikyō bis 1995 auf etwa 40.000 Anhänger an, von denen ca. 10.000 auf Japan und ca. 30.000 auf Russland entfielen. Außerdem gab es zu diesem Zeitpunkt noch einige Dutzend Anhänger in Deutschland, Australien und den USA.[12]
Radikalisierung
In der Expansions- und Konsolidierungsphase radikalisierte sich Ōmu Shinrikyō sowohl auf der ideologischen als auch auf der Handlungsebene. Zunächst radikalisierte Ōmu Shinrikyō sich in Hinblick auf eine apokalyptische Ideologie; Asahara, der sich als Reinkarnation von Shiva und Jesus Christus bezeichnete, datierte den Weltuntergang auf 1997.[13][14] Ein Nuklearangriff der USA würde Japan verwüsten und 90 % der Bevölkerung töten, so Asahara.[14] Im Zuge dessen begann die Organisation mit der Vorbereitung terroristischer Handlungen.
Forschungen für die Produktion biologischer Kampfstoffe wurden aufgenommen. Anfangs versuchten Chemiker der Sekte Botulinumtoxin aus dem fermentierten Schlamm des Ishikari zu gewinnen, was jedoch scheiterte. Trotzdem versuchten Sektenanhänger mit ebendiesem Schlamm im April 1990 erfolglose Anschläge auf den Flughafen Tokio-Narita, den Kaiserpalast und Flottenstützpunkte der United States Forces Japan.[15] Im Jahr 1992 reiste Asahara mit einigen Untergebenen nach Zaire, um Proben des Ebolavirus zu sammeln, was ihnen aber schließlich nicht gelang. Ein versuchtes Attentat auf die Hochzeit von Prinz Naruhito 1993 und weitere Anschlagsversuche mit Milzbranderregern scheiterten ebenfalls.[16]
1993 reisten einige Sektenmitglieder nach Australien ein, wobei Zollbeamte Schwefelsäure und andere Chemikalien bei ihnen sicherten und konfiszierten. Richard Danzig vermutet, dass die Sekte zu diesem Zeitpunkt versuchte, Chemiewaffen zu produzieren und auf einer Farm in Western Australia an Schafen zu testen.[17] 1994 stellte Ōmu Shinrikyō erstmals erfolgreich das Nervengas Sarin her. Ein Anschlag auf das Parlamentsviertel in Tokio im April schlug jedoch fehl. Am 27. Juni erfolgte in Matsumoto ein Sarin-Anschlag auf die Richter eines Grundstücksprozesses, in den die Organisation verwickelt war. Bei diesem ersten zivilen Sarin-Attentat der Welt starben 7 Menschen, ohne dass der Verdacht zunächst auf Ōmu Shinrikyō fiel. Im September 1994 folgten weitere Anschläge mit selbstproduzierten VX-Gas auf Aussteiger der Sekte, wobei 20 Menschen getötet wurden. Es folgten weitere Anschlagsversuche mit Sarin, VX und Botulinumtoxin auf ehemalige Mitglieder, deren Anwälte, Journalisten und rivalisierende religiöse Anführer. Die Sekte experimentierte außerdem mit der Produktion von Soman, Tabun, Senfgas sowie Cyanwasserstoff. Dafür wurde auch Equipment aus den Beständen der US-Streitkräfte entwendet.[18]
Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn (1995)
Die größte Zäsur in der Geschichte der Organisation ereignete sich 1995: Durch ein Attentat auf die Tokioter U-Bahn wurde Ōmu Shinrikyō global bekannt.
Tathergang
Am 20. März 1995 wurden von fünf Ōmu-Shinrikyō-Mitgliedern zur morgendlichen Hauptverkehrszeit in fünf im U-Bahnhof Kasumigaseki zusammentreffenden Pendlerzügen von drei Tokioter U-Bahn-Linien in Zeitungspapier eingewickelte Kunststoffbeutel deponiert, die das Nervengift Sarin enthielten.[19] Unmittelbar vor dem Aussteigen bohrten die Täter mit Regenschirmen Löcher in die elf verteilten Beutel, um das flüssige Sarin freizusetzen.[20] Die Attentäter entkamen zunächst mittels an ihren Aussteigestationen bereitgestellten Fluchtautos samt Fahrer.[21] Die austretenden Dämpfe verbreiteten sich in den betroffenen U-Bahnen und circa 15 U-Bahn-Stationen.[22] Durch den Anschlag starben insgesamt 13 Menschen (neun sofort, einer später am selben Tag, einer zwei Tage später, zwei weitere nach einigen Wochen), es gab etwa 1.000 Verletzte, 37 davon schwer (5.000 meldeten sich in Krankenhäusern).[23][24] 2010 wurde die Zahl der Opfer durch die Polizei auf 6.252 revidiert.[25]
Die Gründe für die verhältnismäßig geringe Anzahl von Todesopfern waren die relativ schlechte Qualität des Sarins und die wenig effektive Methode der Ausbreitung.
Unmittelbare Folgen
Die japanische Polizei verhaftete infolge des Attentats zahlreiche Mitglieder Ōmu Shinrikyōs. Zudem wurden landesweit Razzien in den Niederlassungen der Sekte durchgeführt. Dabei fanden Polizeibeamte u. a. im Hauptquartier im Dorf Kamikuishiki am Berg Fuji unterernährte Gefangene der Sekte sowie riesige Mengen an Chemikalien für die Herstellung von Chemiewaffen, LSD und Methamphetamin. Zudem wurde Bargeld und Gold im Wert von mehreren Millionen US-Dollar, Sprengstoff und Material für den Bau von Sturmgewehren vom Typ AK-47 sichergestellt.[26] Am 23. April wurde Hideo Murai, „Wissenschafts- und Technologieminister“ Ōmu Shinrikyōs, vor der Tokioter Niederlassung vor laufenden Fernsehkameras von einem 29-Jährigen erstochen. Am 16. Mai wurde auch schließlich Asahara von den Behörden festgenommen.
Verurteilungen
In der Folge des Sarin-Attentats wurden zwölf Mitglieder Ōmu Shinrikyōs zum Tode verurteilt.[27] Darunter befanden sich die Attentäter sowie Masato Yokoyama und Yasuo Hayashi.[28] Des Weiteren wurden die Hersteller des Sarins, die beiden Forscher Seiichi Endō und Masami Tsuchiya,[29] sowie der Mediziner Tomomasa Nakagawa zum Tod verurteilt.[30] Schließlich wurde Shōkō Asahara als Drahtzieher sowohl in diesem Attentat als auch bei dem Gasanschlag in Matsumoto verurteilt.[27]
Die Todesurteile gegen Asahara sowie sechs weitere Mitglieder der Sekte wurden am 6. Juli 2018 vollstreckt, gegen die restlichen sechs Verurteilten am 25. Juli 2018.[31]
Eine Reihe anderer Tatbeteiligter wurde zu geringen Strafen verurteilt.
Einige weitere Todesurteile standen nicht direkt in Zusammenhang mit dem Attentat, sondern die beurteilten Tatumstände wurden erst infolge weiterer Ermittlungen offenbar. Dies betrifft insbesondere den 1989 begangenen Mord an der Familie des Anti-Ōmu-Shinrikyō-Rechtsanwalts, für den drei führende Ōmu-Shinrikyō-Mitglieder zum Tode verurteilt wurden. Neben Satoru Hashimoto und Kiyohide Hayakawa, die im Juli 2000 in getrennten Verfahren verurteilt wurden,[7] betrifft dies das geständige Gründungsmitglied Kazuaki Okazaki, der am 22. Oktober 1998 ebenfalls für den Mord an einem Ōmu-Shinrikyō-Mitglied, das die Organisation verlassen wollte, verurteilt wurde.[32]
Am 15. Juni 2012 nahm die japanische Polizei mit Katsuya Takahashi den letzten flüchtigen Verdächtigen des Anschlags in Tokio fest. Wenige Tage zuvor war ein weibliches Sektenmitglied festgenommen worden, das an der Produktion des Giftgases beteiligt gewesen sein soll.[33]
Nach dem Giftgasanschlag: Untergrundarbeit und Wiederaufbau (seit 1995)
Unter dem Eindruck des weltweit verurteilten Attentats verlor Ōmu Shinrikyō die Mehrzahl seiner Mitglieder und wurde staatlicherseits streng überwacht.
Von Ōmu Shinrikyō zu Aleph
Die Organisation verlor infolge des Attentats einen Großteil ihrer Mitglieder und ihres Vermögens, das von staatlichen Stellen konfisziert wurde. Russland fror bereits am 28. März 1995, drei Tage nach dem Attentat, sämtliche liquiden Mittel der Organisation ein und konfiszierte ihr Eigentum.[34]
In Japan sank die Mitgliederzahl Ōmu Shinrikyōs von etwa 10.000 am Tag des Attentats bis auf 5.000 im Jahr 1998.[35]
Ōmu Shinrikyō sagte sich zwar im Jahr 2000 offiziell von ihrem Gründer und Gewalt los, hält nach Meinung der Journalistin Shōko Egawa allerdings weiterhin an seinen Lehren fest.[36] Tatsuko Muraoka wurde zur neuen Repräsentantin. Erst Ende 1999 bat Muraoka im Namen Ōmu Shinrikyōs öffentlich für das Giftgasattentat um Entschuldigung.[37]
Im Januar 2000 benannte sich Ōmu Shinrikyō in Aleph um. Sie steht unter ständiger Überwachung durch die Staatsbehörden und hat noch ca. 1.500 bis 2.000 Anhänger. Am 16. Februar 2004 durchsuchte die japanische Polizei bei der größten Razzia seit der Umbenennung in Aleph elf Anwesen der Organisation; die Mitgliederzahl wurde von offizieller Seite auf 1.650 in Japan und 300 in Russland geschätzt.
2007 gründete Fumihiro Jōyū eine Abspaltung von Aleph namens Hikari no Wa (ひかりの輪, wörtlich: „Rad des Lichts“, engl. Eigenname: The Circle of Rainbow Light) und nahm dabei etwa ein Viertel aller Aleph-Mitglieder mit.[38]
Reaktionen von staatlicher Seite
Die Reaktionen verschiedener Staaten auf das Attentat waren recht unterschiedlich und keinesfalls proportional zur tatsächlichen Betroffenheit der Staaten: Während viele Staaten die Gruppe verboten, konfiszierte Japan lediglich ihr Eigentum. Allgemein waren die Reaktionen von staatlicher Seite zunächst sehr repressiv, erlaubten aber eine Neuorientierung und den Wiederaufbau der Organisation.
Japan
In Japan entzog das Tokioter Bezirksgericht (東京地方裁判所, Tōkyō chihō saibansho) in der Folge des Attentats Ōmu Shinrikyō auf Grund von Artikel 81 des Gesetzes über die Religionsgesellschaften am 30. Oktober 1995 zunächst den Religionsstatus und konfiszierte das Eigentum des Vereins.[35][39] Diese Entscheidung wurde am 19. Dezember desselben Jahres zunächst vom Obergericht Tokio und in letzter Instanz am 31. Januar 1996 vom Obersten Gerichtshof bestätigt.[39]
Parallel zu den gerichtlichen Folgen erließ das japanische Parlament am 15. Dezember 1995 zum ersten Mal eine Novelle des Gesetzes über die Religionsgesellschaften. Die neue Fassung des Gesetzes, die in der Phase ihrer Entstehung auf massiven Widerstand sowohl von den etablierten als auch den neuen religiösen Gruppierungen in Japan stieß, sah nun unter anderem vor, das Bildungsministerium als zentralstaatliche Registrierungsinstanz einzuschalten, sobald eine Religionsgesellschaft über eine Präfektur hinaus aktiv tätig wird; strengere Untersuchungsbestimmungen in Bezug auf die finanziellen Unterlagen einer Religionsgesellschaft; erweiterte staatliche Befugnisse zur Hinterfragung und Untersuchung von Religionsgesellschaften bei Verdacht auf Verstoß gegen das Gesetz. Diese Änderungen gelten aber nicht nur als Antwort auf die Terroranschläge von Ōmu Shinrikyō, sondern auch als politisches Instrument zur Steuerung von Gruppen wie Sōka Gakkai, die zu dieser Zeit gerade im Verbund mit der Partei Shinshintō an politischer Macht gewann.[39]
1997 beschloss die „Prüfungskommission für Öffentliche Sicherheit“ (kōan shinsa iinkai), Ōmu Shinrikyō nicht auf Grundlage des Gesetzes gegen subversive Aktivitäten zu verbieten, da keine Gefahr mehr von ihr ausginge. Seizaburo Satō, Forschungsdirektor des Japanischen Instituts für Internationale Politikstudien, glaubt, dass Politiker aufgrund des hohen Wählermobilisierungspotenzials japanischer Sekten vor harscheren Maßnahmen zurückschrecken.[35]
Im Jahr 1999 verabschiedete das Parlament das „Gesetz in Bezug auf die Kontrolle von Gruppierungen, die Akte wahllosen Massenmords verübt haben“ (無差別大量殺人行為を行った団体の規制に関する法律), wegen seiner offenbaren Bezugnahme auf Ōmu Shinrikyō auch als „Neues Ōmu-Gesetz“ (オウム新法)[40] bezeichnet. Auf dessen Grundlage genehmigte die „Prüfungskommission“ im Jahr 2000 die Überwachung von Ōmu Shinrikyō, im selben Jahr in Aleph umbenannt, durch die Public Security Intelligence Agency (PSIA).[41] Die Erlaubnis zur Überwachung wurde dreimal um je drei weitere Jahre verlängert, zuletzt im Januar 2009. Die Beobachtung durch die PSIA erstreckt sich auch auf die 2007 gegründete Abspaltung Hikari no Wa.[42][43]
Im erzwungenen Insolvenzverfahren von Ōmu Shinrikyō wurden die Vermögenswerte der Organisation ab 1996 liquidiert. Sondergesetze aus den Jahren 1998[44] und 1999[45] räumten der Entschädigung der Opfer Priorität vor staatlichen Ansprüchen ein und stellten sicher, dass auch das Eigentum der Nachfolgeorganisationen von Ōmu Shinrikyō in das Verfahren einbezogen werden konnten. Das Ende des Verfahrens wurde im November 2008 verkündet: Insgesamt wurden 1,54 Milliarden Yen (rund 12 Mio. Euro) als Entschädigung ausgezahlt, das entspricht 40 % der den Opfern zugesprochenen Summe von 3,8 Milliarden Yen. Ein neues Sondergesetz soll ermöglichen, den verbleibenden Betrag aus Steuermitteln bereitzustellen.[46]
Als indirekte Folgen wurden hauptsächlich in Ostjapan öffentliche Mülleimer entfernt.[47] Damit soll eine Wiederholung des Anschlags verhindert werden.
Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion
Russland – wie auch die Ukraine und Kasachstan – verboten die Organisation gänzlich, sie konnte aber, auch unter Rückgriff auf verschlüsselte Internetkommunikation, im Untergrund überleben.[35]
Europäische Union
Die Europäische Union führte die Organisation 2010 bis 2011 auf ihrer Liste terroristischer Vereinigungen.[48][49]
USA
In den USA ist die Organisation seit dem 8. Oktober 1997 als „Foreign Terrorist Organization“ aufgelistet.[50]
Organisationsstruktur
Ōmu Shinrikyō besteht aus kleinen Freiwilligengruppen, die sich weitgehend von der Außenwelt abschotten.[51] Auch nach der Umbenennung und Neuausrichtung der Sekte leben auch heute noch zahlreiche Mitglieder untereinander in isolierten Wohnprojekten.[52] Die Anhänger wurden in landesweite Sektionen aufgeteilt. Die Organisation finanzierte sich von Anfang an von horrenden Mitgliederbeiträgen, so besaß die Sekte im Jahre 1992 ein Vermögen von etwa einer Milliarde US-Dollar.[53] Dazu kamen Einnahmen durch Spenden oder die Möglichkeit für Mitglieder, religiöse Dienstleistungen gegen Geld zu erwerben.
Rekrutierungspool
Wie viele neuere religiöse Bewegungen in Japan und Russland hat Ōmu Shinrikyō seine Mitglieder vornehmlich aus den neuen Mittelschichten rekrutiert, insbesondere ist die Zahl der Jungakademiker überdurchschnittlich groß.[54] Ōmu Shinrikyō rekrutierte dabei vor allem naturwissenschaftliche Studierende an den Universitäten, alle fünf Attentäter von Tokio hatten Abschlüsse von den prestigeträchtigsten Universitäten Japans.[21]
Ideologie
Ōmu Shinrikyōs eklektische Lehre bezieht sich primär auf hinduistische Yoga-Traditionen und Tibetischen Buddhismus.[55] Außerdem benutzt die apokalyptische Ideologie Elemente aus pseudowissenschaftlichen Traditionen, Large Group Awareness Training, Nostradamus-Weissagungen, chiliastischem Christentum, Hinduismus sowie dem Foundation-Zyklus des Science-Fiction-Schriftstellers Isaac Asimov. Einige Ideen waren auch aus der Anime-Serie Uchū Senkan Yamato entnommen.[14][56][57] Die zentrale Gottheit für die Sekte ist der Hindugott Shiva, und wahre Erleuchtung ist nur innerhalb der abgeschlossenen Gemeinschaft möglich. Die „äußere Welt“ wird als korrupt und verdorben betrachtet und muss notfalls gewaltsam bekämpft werden.
Rezeption
Ōmu Shinrikyō wird als ein herausragendes Beispiel charismatischer Führung und blinder Gefolgschaft betrachtet; dabei entstehe eine quasi-totalitäre Gruppenstruktur.[58] Robert J. Lifton beschrieb Ōmu Shinrikyō als Beispiel eines neuen, von nichtstaatlichen Gruppen ausgehenden internationalen Terrorismus.[59] Durch gezielte Anwendung von Meditationstechniken wie schnellem Atmen seien die Mitglieder in einen Zustand religiöser Erregung versetzt und an die Gruppe gebunden worden. Sie hätten mit der Zeit eine „Aum-Identität“ entwickelt, zu der es gehört habe, Gewaltanwendung der Gruppe nicht wahrzunehmen und mögliche, von ihrer „Nicht-Aum-Identität“ ausgehende Fragen zu unterdrücken. Von den Versuchen Asaharas, Chemie- und Nuklearwaffen zu beschaffen, hätten sie deshalb keine Kenntnis gehabt.[60]
Der Giftgasanschlag in Tokio wird, zusammen mit dem Massenselbstmord Heaven’s Gates 1997 und den (Selbst-)Morden der Sonnentempler 1994–97, als wichtigster Auslöser einer Reihe administrativer und legislativer Maßnahmen gegen nicht-etablierte religiöse Gruppierungen in den späten 1990er Jahren in mehreren europäischen Ländern, insbesondere Belgien,[61] angesehen.[62] Unterstützt wird diese Gesetzgebung durch Studien, die im apokalyptischen Teil des „kultischen Milieus“ eine Reihe gewaltbereiter Personen konstatieren.[63]
Auch die Vereinigten Staaten reagierten auf den Giftgasanschlag, aber nicht mit einer Verschärfung des Religionsrechts; stattdessen wurde die Forschung nach Gegenmitteln gegen Biowaffen intensiviert, obwohl der Anschlag gezeigt hatte, dass terroristische Gruppen wie Ōmu Shinrikyō auch mit viel Geld keine besonders effektiven Biowaffen herstellen können.[64]
Das Attentat wurde von dem Schriftsteller Haruki Murakami mit einer Serie von Interviews mit Überlebenden, Angehörigen der Toten und Mitgliedern der Sekte literarisch aufgearbeitet.[65]
Literatur
- Kaplan, David E. & Andrew Marshall. 1998. AUM, Eine Sekte greift nach der Welt. Hamburg: Ullstein. ISBN 3-548-35717-2.
- Lifton, Robert J.: Terror für die Unsterblichkeit. Erlösungssekten proben den Weltuntergang. München & Wien: Hanser Verlag. ISBN 3-446-19879-2.
- Reader, Ian. 2000. Religious Violence in Contemporary Japan: The Case of Aum Shinrikyo. Honolulu, HI: University of Hawaii Press. ISBN 0-8248-2340-0.
- Repp, Martin. 1997. Aum Shinrikyō: Ein Kapitel krimineller Religionsgeschichte. Marburg: DiagonalVerlag. ISBN 3-927165-46-8.
Weblinks
- Homepage Alephs (englisch)
- Extensive Ōmu-Shinrikyō-Bibliographie (dänisch, PDF; 354 kB)
- Mit Giftgas wollte die Aum-Sekte den Weltuntergang vorbereiten
Einzelnachweise
- Agency for Cultural Affairs: Religious Juridical Persons and Administration of Religious Affairs (Memento vom 25. Oktober 2007 im Internet Archive) (PDF-Datei, 52 KB, Englisch)
- Metraux, Daniel A. (1996): "Religious Terrorism in Japan: The Fatal Appeal of Aum Shinrikyo", Asian Survey 35(12): 1140-1154, S. 1141.
- Metraux, Daniel A. (1996): "Religious Terrorism in Japan: The Fatal Appeal of Aum Shinrikyo", Asian Survey 35(12): 1140-1154, S. 1147.
- Klaus Antoni: Rituale und ihre Urheber: Invented Traditions in der japanischen Religionsgeschichte, 21.-23. März 1996, S. 270.
- Ballingrud, David: "An Unheeded Warning?" St. Petersburg Times 14. Oktober 2001, S. 1D.
- Jackie Fowler: “Aum Shinrikyo (Memento vom 29. August 2006 im Internet Archive)” im Religious Movements Homepage Project der University of Virginia - Englisch
- N.N.: "Court sentences Aum's Hayakawa to death", The Daily Yomiuri, 29. Juli 2000.
- Kin, Kwan Weng: "From religious group to public enemy No. 1", The Straits Times 4. Juni 1995, S. 12.
- An Empirical Spiritual Science for the Supreme Truth, Translated from the Japanese by Jaya Prasad Nepal and Yoshitaka Aoki; Edited by Fumhiro Joyu, Aum USA Company Ltd, New York ISBN 0-945638-00-0.
- Haworth, Abigail: "Cults: Aum Shinrikyo", The Observer 14. Mai 1995, S. 16.
- Sven Felix Kellerhoff: Mit Giftgas wollte die Aum-Sekte den Weltuntergang vorbereiten. In: welt.de. 20. März 2020
- Kaplan, David A. (2000): “Aum Shinrikyo,” S. 207–226 in Jonathan B. Tucker (Hrsg.): Toxic Terror. Cambridge, MA: MIT Press, S. 209.
- Ken Rafferty: Shoko Tactics. In: The Guardian, 16. Mai 1995.
- Arthur Goldwag. Cults, conspiracies, and secret societies: the straight scoop on Freemasons, the Illuminati, Skull & Bones, Black Helicopters, the New World Order, and many, many more. Vintage, New York 2009, ISBN 978-0-307-39067-7, S. 15–17.
- Chronology of Aum Shinrikyo’s CBW Activities. In: nonproliferation.org, 2001
- Daniel Oberhaus: Die Geschichte der japanischen Sekte, die mit Yoga, Schlamm und Giftgas gegen den Weltuntergang kämpfte. In: Vice.de, 11. Juli 2018
- Julian Morgans: Dieser Mann hat Mitglieder einer japanischen Terror-Sekte interviewt. In: Vice.de, 4. Oktober 2017
- Chronology of Aum Shinrikyo’s CBW Activities. In: nonproliferation.org, 2001
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- Fazackerley, Anna. "A Graphic Warning From Japan", The Times Higher Education Supplement, 15. Juli 2005, S. 16.
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- Daniel Oberhaus: Die Geschichte der japanischen Sekte, die mit Yoga, Schlamm und Giftgas gegen den Weltuntergang kämpfte. In: Vice.de, 11. Juli 2018
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- Robert J. Kisala: “Living in a Post-Aum World (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive)”, in: Bulletin of the Nanzan Institute for Religion & Culture 20/1996, pp. 7–18.
- Liste der Gesetzesabkürzungen bei der staatlichen Onlinedatenbank für Gesetzestexte (Memento vom 20. Dezember 2008 im Internet Archive) (Japanisch)
- Kōanchōsa-chō: 無差別大量殺人行為を行った団体の規制に関する法律の施行状況 (Japanisch: „Stand der Anwendung des Gesetzes in Bezug auf die Kontrolle von Gruppierungen, die Akte wahllosen Massenmords verübt haben“, enthält die Überwachungsanträge der PSIA, die Entscheidungen der Kommission und jährliche Berichte an das Parlament)
- オウム観察処分、3回目の更新請求 公安調査庁. In: Nihon Keizai Shimbun. 1. Dezember 2008, abgerufen am 13. Dezember 2008 (japanisch).
- オウム観察処分、3度目の更新…「ひかりの輪」も対象. (Nicht mehr online verfügbar.) In: Yomiuri Shimbun Online. 23. Januar 2009, ehemals im Original; abgerufen am 29. Januar 2009 (japanisch). (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- オウム真理教に係る破産手続における国の債権に関する特例に関する法律 (Memento vom 11. Juni 2008 im Internet Archive)
- 特定破産法人の破産財団に属すべき財産の回復に関する特別措置法 (Memento vom 28. Dezember 2007 im Internet Archive)
- Bankruptcy process at Aum ends; taxpayers to foot rest of redress. In: Japan Times. 27. November 2008, abgerufen am 13. Dezember 2008 (englisch).
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- Beschluss 2010/386/GASP des Rates vom 12. Juli 2010 zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, auf die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus Anwendung finden. In: Amtsblatt der Europäischen Union. L 178, 13. Juli 2010, S. 0028–0030 (Online bei EUR-Lex).
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