Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern
Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern (russisch Об историческом единстве русских и украинцев Ob istoritscheskom edinstwe russkich i ukrainzew) ist ein Essay von Wladimir Putin, der am 12. Juli 2021 auf der Website der russischen Regierung veröffentlicht wurde, kurz nach dem Ende einer Eskalationsphase der russisch-ukrainischen Krise 2021 und ein halbes Jahr vor dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022.[1] Er wurde in russischer, ukrainischer und englischer Sprache veröffentlicht. Damit erschien auf der Website des russischen Präsidenten erstmals ein Dokument in ukrainischer Sprache.[1][2]
In dem Aufsatz beschreibt Putin seine Sicht auf die Ukraine und die Ukrainer.[3] Er stellt die Existenz der Ukraine als eigene Nation infrage und vertritt die Auffassung, dass die gegenwärtige Regierung des Landes von westlichen Verschwörungen gesteuert sei.[1]
Der Essay wurde im Westen vielfach kritisiert und als imperialistisch und geschichtsrevisionistisch eingeordnet.[1]
Inhalt
In dem Essay vertritt Putin die These, Russen und Ukrainer seien gemeinsam mit Belarussen ein Volk und sie gehörten zur historischen „dreieinigen russischen Nation“.[4] Nach einem Blick auf die Geschichte Russlands und die Geschichte der Ukraine[5] gelangt er zur Schlussfolgerung, dass Russen und Ukrainer ein gemeinsames Erbe und Schicksal teilen.[6]
Der Essay bestreitet die Existenz der Ukraine als einer unabhängigen Nation.[1][7] Angesichts der hohen Zahl ethnischer Russen in der Ukraine vergleicht Putin die „Bildung eines ethnisch reinen ukrainischen Staates, der gegenüber Russland aggressiv“ sei, mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen Russen, den er als „Brudermord“ bezeichnet.[8]
Putin bezweifelt die Legitimität der gegenwärtigen Grenzen der Ukraine.[9] Die heutige Ukraine liege, so die Darstellung Putins, auf historisch russischen Gebieten[9] und ihre Grenzen seien ein Produkt externer Kräfte und Verwaltungs- und politischer Entscheidungen während der Sowjetunion.[4] Der Aufsatz erwähnt auch einen Passus der sowjetischen Verfassung von 1924 (Kap. II, Art. 4), worin es um das freie Recht der Republiken auf Austritt aus der Sowjetunion ging, was Putin als Zeitbombe für das Fundament der Staatlichkeit der Sowjetunion bezeichnete.[2][10]
Er thematisiert auch den Krieg im Donbass und behauptet, dass Kiew den Donbass „einfach nicht braucht“.[11]
Putin macht ausländische Intrigen und anti-russische Verschwörungen für die Krise verantwortlich.[9] Die Entscheidungen der ukrainischen Regierung seien getrieben von westlichen Verschwörungen und von „Anhängern von Bandera“.[12]
Zum Ende des langen Essays betont Putin die Rolle Russlands in gegenwärtigen ukrainischen Angelegenheiten.[1][9]
Bezugnehmende Texte
Im Oktober 2021 stimmte der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew, in einem Artikel zur Ukraine Putins Essay zu und erklärte, dass es keine Verhandlungen mit der Ukraine geben werde, bevor die ukrainische Regierung ersetzt sei.[13]
Wladislaw Surkow, der von 2013 bis 2020 persönlicher Berater von Putin war, veröffentlichte ebenfalls einen Artikel zur Ukraine und anderen ehemaligen Gebieten der Sowjetunion. In dem Artikel stellt er die Legitimität der westlichen Grenze Russlands (inklusive der Grenzen zur Ukraine und zu den baltischen Staaten) in Frage, und argumentiert, dass Russland den „bösen Frieden“ beenden solle, durch den es an seine gegenwärtigen Grenzen gebunden sei.[14][15]
Reaktionen
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kritisierte den Essay und verglich Putins Vorstellungen von der Bruderschaft der beiden Völker mit der Geschichte von Kain und Abel.[16] Der ehemalige Präsident Petro Poroschenko übte ebenfalls scharfe Kritik und beschrieb den Essay als Gegenstück zu Adolf Hitlers Sudetenland-Rede.[17] Der ukrainische UN-Botschafter sagte, „Fabeln über das ‚eine Volk‘ […] wurden auf den Schlachtfeldern des Donbass widerlegt“.[18]
Laut dem Institut der Geschichte der Ukraine bei der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine stellt der Aufsatz die historischen Ansichten des Russischen Kaiserreichs dar.[19] Der Weltkongress der Ukrainer verglich Putins Ansicht, die Ukraine sei „eine nicht-Nation“ mit der Josef Stalins, unter dessen Herrschaft mindestens fünf Millionen Ukrainer während des Holodomor starben.[5] Die Plattform Vox Ukraine beschrieb den Essay als eine „Mischung historischer Mythen, Lügen über die Krim, den Donbass und als Manipulation von ukrainischen ökonomischen Daten“.[20]
Das Carnegie Endowment for International Peace nannte den Essay ein „historisches, politisches und sicherheitsmäßiges Prädikat für eine Invasion der Ukraine“.[8] Anders Åslund vom Stockholm Free World Forum bezeichnete den Aufsatz als „einen Schritt von einer Kriegserklärung entfernt“.[9]
Laut dem lettischen Journalisten Kristaps Andrejsons (Foreign Policy) ist der Aufsatz ein „Leitfaden zu den historischen Geschichten, die die Haltung Putins und vieler Russen prägen“.[21]
Der Historiker Timothy Snyder beschrieb Putins Ideen als imperialistisch.[22] Der britische Journalist Edward Lucas beschrieb sie als revisionistisch.[23] Andrew Wilson und Peter Dickinson (Atlantic Council) äußerten, die russische Führung habe eine verdrehte Sichtweise auf die Ukraine und ihre Geschichte.[4][9]
Mark Galeotti merkte ironisch an, dass es ein „Fallstrick als Autokrat“ sei, dass niemand Putin sage, dass der Essay „keine gute Idee ist“.[1][24] Sergei Radtschenko von der Johns Hopkins University nannte den Aufsatz „völlig geistesgestört“.[1] Leonid Bershidsky schrieb: „Geschichte ist ein Minenfeld und Putin, ein Amateur, tritt auf jede Mine, während er versucht, den Ukrainern zu sagen, dass ihre Staatlichkeit ein Unfall, ihr Widerstand gegen die russische Aggression zwecklos und ihr Schicksal als Volk untrennbar mit dem Russlands verbunden ist.“[25]
Ulrich Schmid nannte Putin einen „selbsternannten Chefhistoriker“ und wies auf die absichtlich verwendete religiöse Metaphorik hin.[2] Russland sei „beraubt“ worden bei der Schaffung der Sowjetrepublik, was Putin als Verbrechen bezeichnete. Aus solchen Äußerungen spreche „der beleidigte grossrussische Nationalist, der weniger der Sowjetunion als dem Russischen Reich nachtrauert“, so eine Einschätzung in der NZZ. Oppositionell gesinnte russische Kommentatoren sähen im Aufsatz die „geistige Vorarbeit für eine neuerliche militärische Einmischung in der Ukraine“, was wiederum bei regimetreuen und nationalpatriotischen Kommentatoren und Politikern Frohlocken weckte: Endlich würde Putin das verlorene Territorium heimholen.[10] Klaus Gestwa warf Putin Geschichtsklitterung und das Vertreten von Verschwörungstheorien vor.[26] Der ukrainische Präsident Selenskyj hatte sich in der Zeit vor der Publikation um ein Treffen mit Putin bemüht und bemerkte, nun wisse er, womit sich Putin beschäftigt habe, als er keine Zeit für ein Treffen hatte.[27]
In Rumänien sorgte ein Teil des Aufsatzes, demzufolge das Königreich Rumänien 1918 die geographische Region Bessarabien, die heute teilweise zur Ukraine gehört, „besetzt“ und sich nicht mit ihr vereinigt habe, für Empörung. Rumänische Medien wie Adevărul und Digi24 kommentierten und kritisierten Putins Aussagen. Auch in Bezug auf die nördliche Bukowina, ein weiteres ehemaliges rumänisches Gebiet, das heute zur Ukraine gehört, wurden Bemerkungen gemacht.[28][29] Der rumänische Abgeordnete Alexandru Muraru entgegnete auf Putins Aufsatz, Bessarabien sei nicht besetzt, sondern „demokratischen Prozessen und historischen Realitäten“ folgend „wiedereingebunden“ und „wiedereingegliedert“ worden. Muraru äußerte sich auch zu Nordbukowina.[30]
Sonstiges
Laut RBK Daily ist der Essay in der Liste der Werke enthalten, die von Angehörigen des russischen Militärs studiert werden müssen.[31]
Literatur
- Friedrich Schmidt, Reinhard Veser: Wir sind doch ein Volk!, FAZ, 14. Juli 2021
Weblinks
- On the Historical Unity of Russians and Ukrainians auf kremlin.ru (englisch)
Einzelnachweise
- Steve Gutterman: The Week In Russia: Putin, Ukraine, And ‘Phantom Pain’. In: rferl.org. Radio Free Europe/Radio Liberty, 16. Juli 2021, abgerufen am 22. Februar 2022 (englisch).
- Putins Plan: Die Ukraine soll für den Westen zu einem toxischen Staat werden, NZZ, 27. Dezember 2021
- Dmitry Shlapentokh: Putin and Ukraine: Power and the construction of history. In: imrussia.org. Institute of Modern Russia, 8. September 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- Andrew Wilson: Russia and Ukraine: ‘One People’ as Putin Claims? In: rusi.org. 23. Dezember 2021, archiviert vom Original am 24. Januar 2022; abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- Christopher Guly: Ukrainian World Congress President Fears "Full Invasion of Ukraine". In: kyivpost.com. Kyiv Post, 13. Dezember 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- Sandy Tolliver: America’s ability and will to meet worldwide obligations is eroding rapidly. In: thehill.com. The Hill, 9. August 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- Richard Javad Heydarian: Why Taiwan is not the next Ukraine. In: asiatimes.com. Asia Times, 4. Februar 2022, abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- Andrew Roth: Putin’s Ukraine rhetoric driven by distorted view of neighbour. In: theguardian.com. The Guardian, 7. Dezember 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- Peter Dickinson: Putin’s new Ukraine essay reveals imperial ambitions. In: atlanticcouncil.org. Atlantic Council, 15. Juli 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- Das Pamphlet eines grossrussischen Nationalisten – Wladimir Putin erklärt die Ukrainer zu Russen und leitet daraus Besorgniserregendes ab, NZZ, 16. Juli 2021
- Maria Snegovaya: Why Is Putin Acting Now? In: foreignpolicy.com. Foreign Policy, 26. Januar 2022, abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- Vladimir Putin’s Ukraine Obsesssion. In: theglobepost.com. The Globe Post, 1. Februar 2022, abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- Почему бессмысленны контакты с нынешним украинским руководством. In: kommersant.ru. Kommersant, 11. Oktober 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (russisch).
- Сурков заявил, что России тесно в границах "похабного" Брестского мира. In: interfax.ru. Interfax, 15. Februar 2022, abgerufen am 21. Februar 2022 (russisch).
- Туманное будущее похабного мира. In: actualcomment.ru. 15. Februar 2022, archiviert vom Original am 15. Februar 2022; abgerufen am 21. Februar 2022 (russisch).
- Зеленский прокомментировал статью Путина. In: pravda.com.ua. Prawda, 13. Juli 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (russisch).
- Petro Poroschenko: Статья Путина не об истории. Это — политический манифест с угрозами соседям. In: 20khvylyn.com. 2. August 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (russisch).
- Ukraine’s envoy to UN: Claims of Russians, Ukrainians being “one people” refuted on Donbas battlefields. In: ukrinform.net. Ukrinform, 30. August 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- ВІДГУК УКРАЇНСЬКИХ ІСТОРИКІВ НА СТАТТЮ В.ПУТІНА "ПРО ІСТОРИЧНУ ЄДНІСТЬ РОСІЯН ТА УКРАЇНЦІВ" (2021). In: resource.history.org.ua. Abgerufen am 21. Februar 2022 (ukrainisch).
- Myroslava Markova, Svitlana Slipchenko, Kyrylo Perevoshchykov: On the Historical Unity of Lies and Vladimir Putin. In: voxukraine.org. Vox Ukraine, 21. Juli 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- Kristaps Andrejsons: Russia and Ukraine Are Trapped in Medieval Myths. In: foreignpolicy.com. Foreign Policy, 6. Februar 2022, abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- Timothy Snyder: How to think about war in Ukraine. In: snyder.substack.com. 18. Januar 2022, abgerufen am 21. Februar 2022 (englisch).
- Edward Lucas: Why Putin’s history essay requires a rewrite. In: thetimes.co.uk. The Times, 15. September 2020, archiviert vom Original am 25. Januar 2022; abgerufen am 21. Februar 2022 (russisch).
- Mark Galeotti: In Moscow’s Shadows. In: buzzsprout.com. 13. Juli 2021, abgerufen am 22. Februar 2022 (englisch).
- Leonid Bershidsky: Why Ukraine Lives Rent-Free in Putin’s Head. In: bloomberg.com. Bloomberg L.P., 15. Juli 2021, abgerufen am 22. Februar 2022 (englisch).
- Klaus Gestwa: Putin, der Cliotherapeut. Überdosis an Geschichte und politisierte Erinnerungskonflikte in Osteuropa. 17. Dezember 2021
- Putin formuliert Ukraine-Doktrin - und droht, Deutsche Welle, 15. Juli 2021
- Ion Gaidau: Propaganda de tip sovietic a lui Putin: România a “ocupat” Basarabia. In: adevarul.ro. Adevărul, 20. Juli 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (rumänisch).
- Marco Badea: Manifestul propagandistic al lui Putin: "Rușii și ucrainenii sunt un singur popor". România "a ocupat" Basarabia și Bucovina de Nord. In: digi24.ro. Digi24, 20. Juli 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (rumänisch).
- Marco Badea: Alexandru Muraru îi răspunde lui Putin: Bucovina și Basarabia au fost dintotdeauna ale României. In: digi24.ro. Digi24, 21. Juli 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (rumänisch).
- Шойгу обязал военных изучить статью Путина об Украине. In: rbc.ru. 15. Juli 2021, abgerufen am 21. Februar 2022 (russisch).