Paraneoplastisches Syndrom
Unter einem paraneoplastischen Syndrom, auch Paraneoplasie (para – griechisch neben, neo – griechisch neu, plasie – griechisch Bildung) oder paraneoplastische Erkrankung genannt, versteht man Begleitsymptome einer Krebserkrankung (Neoplasie), die nicht primär durch die Neoplasie (solide Tumoren oder Leukämien) entstehen. Der Begriff fasst alle Symptome zusammen, die weder durch den Raumbedarf des Tumors, noch durch die Zerstörung von Gewebe durch Einwachsen von neoplastischen Zellen entstehen und gleichzeitig oft typisch für eine Krebserkrankung sind.
Klassifikation nach ICD-10 | |
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C80 | Bösartige Neubildung ohne Angabe der Lokalisation Paraneoplastisches Syndrom |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Paraneoplastische Syndrome treten meist im Bereich von Drüsen (wie bei einer Endokrinopathie), des Nervensystems (etwa wie bei Polyneuropathie), der Haut, der Gelenke oder des blutbildenden Systems bzw. Gerinnungssystems auf. Krebserkrankungen, bei denen häufiger ein paraneoplastisches Syndrom auftaucht sind: kleinzelliges Bronchialkarzinom, Brustkrebs, Krebserkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane, Blutkrebs.[1]
Ursache kann eine Immunreaktion des Körpers sein, die durch den Krebs provoziert wurde, oder eine durch den Tumor veranlasste Freisetzung von Botenstoffen (Zytokine und Hormone).
Einige paraneoplastische Syndrome sind so charakteristisch, dass bei ihrem Auftreten ohne bestehende Tumordiagnose mit allen zur Verfügung stehenden diagnostischen Methoden nach der Neoplasie gesucht werden sollte, bei manchen Syndromen kann zum Beispiel ein Tumor in der Lunge vermutet werden.
Mittlerweile ist eine Vielzahl von paraneoplastischen Erkrankungen bekannt. Die Zusammenstellung in diesem Artikel ist deshalb bei weitem nicht vollständig.
Geschichte
Der Begriff "paraneoplastisch" wurde erstmals von Guichard und Vignon 1949 benutzt, um multiple Nervenausfälle bei einer Patientin mit Zervixkarzinom zu beschreiben.[2]
Allgemeine paraneoplastische Symptome
Nicht selten werden Krebsleiden von Symptomen wie Anorexie, Tumorkachexie, Hyperthermie, Störungen des Geschmacksempfindens, Nachtschweiß (siehe B-Symptomatik) sowie Anämie, Leukozytose und Thrombosen begleitet. Insofern diese einzeln auftreten, muss man hier korrekterweise von paraneoplastischen Symptomen sprechen, da Syndrome immer ein Zusammenspiel mehrerer Symptome ausmachen.
Spezielle Paraneoplasien
Spezielle Paraneoplasien werden verursacht durch die Produktion von hormonähnlichen Substanzen oder immunologische Mechanismen. Spezielle paraneoplastische Syndrome treten bei 2 bis 15 % der Karzinom-Patienten auf, am häufigsten beim kleinzelligen Bronchialkarzinom (bis 40 %).
Endokrinologische paraneoplastische Syndrome
Die Produktion eines Hormons oder von Hormonvorstufen durch Tumorgewebe simuliert das Vorliegen einer endokrinologischen Erkrankung. Die genauen Ursachen sind noch unbekannt.
Beispiele für endokrinologische Paraneoplasien
- PTH (Bronchialkarzinom) (häufigste endokrinologische Paraneoplasie)
- ACTH (Bronchialkarzinom, Leberzellkarzinom, Nierenkarzinom). Dies kann zu einem Cushing-Syndrom führen.
- ADH (kleinzelliges Bronchialkarzinom, Pankreaskarzinom, Prostatakarzinom)
- TSH (Bronchialkarzinom, Hodenkarzinom, Chorionkarzinom)
- Insulin (Leberzellkarzinom, Pankreaskarzinom, Magenkarzinom, Insulinom)
- Erythropoetin (Bronchialkarzinom, Uteruskarzinom, Hämangioblastom)
- Kalzitonin (Bronchialkarzinom, medulläres Schilddrüsenkarzinom, Mammakarzinom)
- Serotonin (Karzinoid, Ovarialkarzinom, Bronchialkarzinom)
Antikörper-vermittelte Paraneoplasien
Antikörper-vermittelte Paraneoplasien entstehen, wenn das Immunsystem Antikörper gegen den Tumor produziert, diese Antikörper aber gleichzeitig auch gesundes Gewebe angreifen (Kreuzreaktivität). Wird der Tumor entfernt, stoppt dies die Immunreaktion nicht zwangsläufig, und die weiterhin produzierten Antikörper können auch weiterhin gesundes Gewebe schädigen. Allerdings ist die Prognose von Patienten mit antikörperassoziierten paraneoplastischen Syndromen in vielen Fällen besser als die Prognose von Patienten ohne Antikörper gegen den Tumor, weil die Antikörper zwar auf der einen Seite einen eigenen Krankheitswert entwickeln, auf der anderen Seite aber auch den Tumor bekämpfen. Mit immunsuppressiven Therapien wird derzeit experimentiert.
Beispiele für antikörpervermittelte Paraneoplasien
Blut
- Aplastische Anämie
- Hemmkörper-Hämophilie (Gerinnungsstörung)
- Phlebitis migrans
- Dermatomyositis
- Paraneoplastischer Pemphigus
- Subakute nekrotisierende Myopathie
Gastrointestinal-Trakt
- Limbische Enzephalitis
- Lambert-Eaton-Syndrom
- Myasthenie
- Subakute zerebelläre Degeneration
- Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom
- Rhombenzephalitis
- Paraneoplastische Myelitis (Entzündung des Rückenmarks)
- Stiff-Man-Syndrom
- Subakute sensible Polyneuropathie (Denny-Brown-Syndrom)
- Autonome Neuropathie
- Neuromyotonie (Isaacs-Syndrom)
- Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis
- Paraneoplastische Kleinhirnatrophie (bei kleinzelligem Bronchialkarzinom, Mamma-Ca., Ovarial-Ca., Lymphomen)
Augen
- Paraneoplastische Retinopathie (Cancer-associated-retinopathy-Syndrom, CAR)
Weitere Paraneoplasien
Die Haut kann unter anderem durch Hyperpigmentierung, Hyperkeratose, Hypertrichose, Acanthosis nigricans, Erythema gyratum oder Bullöses Pemphigoid sowie Hypertrichose wie beim Herzberg-Potjan-Gebauer-Syndrom, das Herz durch „nichtbakterielle thrombotische Endokarditis“, das Gefäßsystem durch wiederholte Thrombosen (beim Pankreaskarzinom) und die Niere durch Glomerulonephritis betroffen sein. Am Skelett ist die Hypertrophe Osteoarthropathie häufig paraneoplastischer Natur.
Behandlung
Die Therapie der paraneoplastischen Syndrome besteht vor allem in der Behandlung des zugrundeliegenden Tumorleidens. Es können auch, wenn keine oder keine ausreichend rasche Therapiemöglichkeit besteht, zusätzliche oder alternative, die Symptome lindernde Behandlungsformen eingesetzt werden.[3]
Siehe auch
Literatur
- S1-Leitlinie Paraneoplastische neurologische Syndrome der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. In: AWMF online (Stand 2012)
- Roland Kath, Irmhild Keil, Hans-Jörg Fricke, Eberhard Aulbert, Klaus Höffken: Behandlung paraneoplastischer Syndrome. In: Eberhard Aulbert, Friedemann Nauck, Lukas Radbruch (Hrsg.): Lehrbuch der Palliativmedizin. Schattauer, Stuttgart (1997). 3., aktualisierte Auflage 2012, ISBN 978-3-7945-2666-6, S. 681–690.
Einzelnachweise
- Lorraine C. Pelosof, David E. Gerber: Paraneoplastic syndromes: an approach to diagnosis and treatment. In: Mayo Clinic Proceedings. Band 85, Nr. 9, 1. September 2010, S. 838–854, doi:10.4065/mcp.2010.0099, PMID 20810794, PMC 2931619 (freier Volltext).
- A. Guichard, G. Vignon: La polyradiculonévrite cancéreuse métastatique; paralysies multiples des nerfs craniens et rachidiens par généralisation microscopique d'un épithélioma du colutérin. In: Journal De Médecine De Lyon. Band 30, Nr. 700, 5. März 1949, S. 197–207, PMID 18115298.
- Roland Kath und andere: Behandlung paraneoplastischer Syndromen. 2012.