Otto Stamfort
Otto Stamfort (* 26. November 1901 in Stemmen; † 14. April 1981 in Jena) war ein deutscher Pädagoge und Hochschullehrer. Als verfolgter Jude emigrierte er 1933 nach Frankreich. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er Studienrat in Ludwigshafen und gehörte für einige Zeit zu den Lehrern von Helmut Kohl. 1948 übersiedelte er in die Sowjetische Besatzungszone, wo er zunächst im Ministerium für Volksbildung des Landes Thüringen arbeitete und dann zum Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena berufen wurde.
Leben
Otto Stamforts Eltern, der jüdische Kaufmann Bernhard Stamfort (* 9. März 1865 in Stemmen – † 27. Januar 1943) und seine Frau Ida (* 19. Februar 1868 in Bad Driburg – † 23. November 1942) waren beide am 23. Juli 1942 von Hannover aus in das Ghetto Theresienstadt deportiert worden und fanden dort den Tod.[1] Zur Familie gehörten neben Otto noch weitere Geschwister. Bruder Paul (* 1904)[2], ein gelernter Drucker und Mitglied im Internationalen Sozialistischen Kampfbund (I.S.K.)[3], emigrierte 1934 nach Italien und von hier aus 1936 über die Schweiz nach Frankreich. Hier wurde er im April 1938 zusammen mit Willi Eichler verhaftet. Die beiden wurden der Sabotage der französischen nationalen Verteidigung beschuldigt und sollten ausgewiesen werden.[4] 1939 konnte Paul Stamfort nach England einreisen, wo er jedoch von 1939 bis 1941 interniert wurde. Anschließend diente er bis 1947 in der British Army und wurde Mitglied der Labour Party.[3] Mit der Einbürgerung änderte er 1946 Vor und Nachnamen und nannte sich fortan Peter Henry Stamford.[5] Pauls Zwillingsbruder Arthur emigrierte ebenfalls nach Frankreich und überstand dort die Zeit der deutsche Besatzung.[6] Die beiden verheirateten Schwestern, Hilde Löwenstein geb. Stamfort (* 1903) und Käthe Sundheimer geb. Stamfort (* 1907), wurden 1941 aus Borgholz bei Höxter bzw. aus Hannover mit ihren Familien nach Riga deportiert und nach Ende des Krieges für tot erklärt.[3]
Otto Stamfort machte im niedersächsischen Rinteln 1922 sein Abitur.[7] Anschließend studierte er in Würzburg und Göttingen Mathematik und Physik mit dem Abschluss des Staatsexamens und legte danach das Pädagogische Examen in Hannover ab. Von 1927 unterrichtete er Mathematik an verschiedenen Schulen in Göttingen, Hannover, Linden und Aurich. 1931 wurde er in Braunschweig mit der Schrifft „Die philosophischen und pädagogischen Grundansichten Erhard Weigels“ zum Dr. phil.[3] promoviert.
Im April 1933 wurde Stamfort aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums fristlos aus dem Staatsdienst entlassen und emigrierte nach Frankreich, wie er 1963 behauptete, um einer bevorstehenden Verhaftung durch die Gestapo zu entgehen. In Paris schloss sich Stamfort dem Verband deutscher Lehreremigranten an und wurde, wie schon sein Bruder Paul, Mitglied im I.S.K.[8] Ab 1935 absolvierte er in Paris eine Ausbildung zum Feinmechaniker und arbeitete danach als Hilfsschlosser bei der Eisenbahn und in der Materialausgabe einer Fabrik. Im November 1940 wurde er zum Dienst in einer französischen Arbeitskompanie verpflichtet, deren Angehörige später an die Deutschen ausgeliefert wurden. Stamfort gelang Anfang 1943 die Flucht und er lebte bis zur Befreiung Frankreichs 1944 im Untergrund.
Bereits 1936 heiratete er in Paris Hilde Ahrens (eigentlich Ahron), geboren am 20. Juli 1910 in Hannover. Sie arbeitete in Marseille als Übersetzerin im Büro des von Noel Field geleiteten Unitarian Service Committees und in Toulouse auch im Büro von Hertha Jurr-Tempi (geborene Sommerfeld, 1907–198?), der früheren Sekretärin von Willi Münzenberg.[9] Nach eigenen Angaben und belegt durch eine Bestätigung offizieller französischer Stellen war sie geheimdienstlich im Interesse der französischen Republik tätig.[10]
Otto Stamfort arbeitete noch während der Besetzung Frankreichs im Komitee Freies Deutschland (CALPO) mit und wurde nach dessen offizieller Anerkennung als Bewegung des französischen Widerstandes durch das Französische Komitee für die Nationale Befreiung im September 1944 in Toulouse Mitglied in dessen Präsidium.[3] Nebenher unterrichtete er als Nachhilfelehrer.
Im Jahre 1946 kehrte Stamfort nach Deutschland zurück. Er wurde Studienrat in Ludwigshafen. Nach Helmut Kohl initiierte er in der Französischen Besatzungszone die Freie Deutsche Jugend (FDJ) und war ab 1947 deren Landesleiter in Rheinland-Pfalz. Hilde Stamfort habe der pfälzischen Bezirksleitung der KPD angehört.[11] Helmut Kohl, der zu dieser Zeit Stamforts Schüler war, erinnert sich sehr wohlwollen über ihn.
„Eine der seltsamsten Erfahrungen meines Lebens ist, dass in dieser Nachkriegszeit, in der alles wie umgestülpt schien, eines Tages in unserem Gymnasium ein neuer Lehrer auftauchte, der großen Eindruck auf mich machte: Dr. Otto Stamfort, Jude und Kommunist, Mathematiker und Physiker. Er wohnte von 1946, als er aus dem Exil nach Deutschland kam, bis 1948, als er in die Sowjetische Besatzungszone übersiedelte, nur hundert Meter entfernt von meinem Elternhaus, neben dem langen Garten. Ich besuchte meinen Mathelehrer, den überzeugten Marxisten, wöchentlich in seiner Wohnung, um mit ihm und einem kleinen Kreis von anderen Schülern über Politik und Philosophie zu diskutieren — parallel zu meinen Besuchen bei Finck im Pfarrhaus. Bei Stamfort lernte ich übrigens Max Reimann kennen, den Vorsitzenden der KPD.“
Im Mai 1948 wurde Stamfort in Weimar Oberreferent im Ministerium für Volksbildung des Landes Thüringen und ab 1949 Leiter der Schulabteilung. Noch vor der Auflösung des Landes wurde er ab dem 15. Januar 1951 mit seinem Einverständnis als Dozenten für Mathematik und Physik an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) der Friedrich-Schiller-Universität versetzt. Bis zu deren Auflösung im Jahre 1963 gehörte er der ABF an, zuletzt als deren zweiter Studiendirektor. Mit Verschärfung der staatlichen Kontrolle der Universitäten nach dem Ungarn-Aufstand 1956 ließ sich Otto Stamford als GI (Geheimer Informator) anwerben und berichtete ab 1957 der Staatssicherheit unter dem Decknamen "Akademie".[12]
1959 war er zum Professor mit Lehrauftrag für das Fach „Methodik des Mathematikunterrichts“ ernannt worden, 1961 zum Direktor der Abteilung für Unterrichtsmethodik am Institut für Pädagogik. Parallel dazu war er in dieser Zeit auch einer der Prorektoren der Universität. 1967 wurde er emeritiert, übernahm aber noch bis in die 1970er Jahre hinein Lehrverpflichtungen, insbesondere zur Geschichte der Mathematik und Philosophie. Außerdem setzte er sich für die Einrichtung der Mathematik-Olympiaden an Schulen ein.
Stamfort wurde nach seinem Tod auf dem Nordfriedhof in Jena beigesetzt. Seine Witwe, Hilde Stamfort, übersiedelte danach zu der in Leipzig lebenden Adoptivtochter.
Ehrungen und Würdigungen
Otto Stamfort war SED-Mitglied, Mitglied in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, trug den Titel „Verdienter Lehrer des Volkes“ und war seit 1961 Träger des Vaterländischen Verdienstordens. Im Neuen Deutschland waren immer wieder Glückwünsche des Zentralkomitees der SED zu runden Geburtstagen zu finden. Am 26. November 1976 wurde er von der Universität Jena zum Ehrensenator ernannt.[13] In einer Rede am 21. Juli 2015 bedauerte dagegen Ludwig Elm, dass „die Autoren der Universitätsgeschichte von 2009 [es] nicht mehr für notwendig oder angebracht hielten“ Stamfort überhaupt noch zu erwähnen.[14] Dass er in dem Zusammenhang ausgerechnet auf Stamforts Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung in der Aula der Universität Jena im Jahre 1963 anlässlich des 20. Jahrestages der Ermordung der Geschwister Scholl verwies, wirkt im Nachhinein eher peinlich. Stamfort soll damals gesagt haben, „das Vermächtnis des Geschwisterpaares sei in der DDR erfüllt“.[15]
Veröffentlichungen
- Die philosophischen und pädagogischen Grundansichten Erhard Weigels, Dissertation, Wettig Verlag, Gelnhausen, 1931.
- Staatsbürgerliche und weltanschauliche Bildung und Erziehung durch den Mathematikunterricht, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe der Fakultät für Mathematik und Informatik, Abteilung Didaktik des Mathematik- und Informatikunterrichts, der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jg. 16 (1967), Heft 1, S. 425–432.
Quellen
- Otto Stamfort, in: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Vol. 2.: The Arts, Sciences, and Literature, Part 2.: L – Z, Saur, München 1983, ISBN 3-598-10089-2.
- Hildegard Feidel-Mertz/Hermann Schnorbach: Lehrer in der Emigration. Der Verband deutscher Lehreremigranten (1933–39) im Traditionszusammenhang der demokratischen Lehrerbewegung, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 1981, ISBN 3-407-54114-7.
- Barbara Glasser: Der frühere Jenaer Prorektor Otto Stamfort im Porträt, Ostthüringer Zeitung, 4. September 2019.
- Helmut Kohl: Erinnerungen: 1930 bis 1982 (Online auf Google-Books).
Weblinks
- Otto Stamfort im DRAFD-Wiki
Einzelnachweise
- Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945
- In der Zeitschrift Sozialistische Warte schrieb er unter dem Namen Paul Stamford und verwendete zudem verschiedene Pseudonyme: u. a. GIOV-, GIOVA, P. Giova, P. G. In der Online-Bibliothek finden sich mehrere Aufsätze von Paul Stamford, ohne dass nachzuverfolgen ist, ob es sich dabei um Paul Stamfort, den Bruder von Otto, handelt.
- Bundesarchiv, Gedenkbuch für die "Opfer der Verfolgung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933 - 1945"
- Ursula Langkau-Alex: Geschichte zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront (Band 2 von Deutsche Volksfront 1932-1939. Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau), Akademie Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-05-004032-7, S. 271
- The National Archives, Kew vom 5. Oktober 1946, Certificate AZ 19906
- Niedersächsisches Landesarchiv Abt. Hildesheim, Bestand 720 Acc 41/82 Nr. 573
- Die nachfolgende Darstellung von Stamforts Leben basiert, soweit keine anderen Quellen benannt werden, auf Barbara Glassers Artikel Der frühere Jenaer Prorektor Otto Stamfort im Porträt (siehe: Quellen).
- Das Eintrittsjahr 1933 ist im Biographischen Handbuch mit einem Fragezeichen versehen, wodurch nicht gesichert ist, ob Stamfort vor oder nach seiner Emigration I.S.K.-Mitglied wurde.
- Mario Keßler: Die SED und die Juden – zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967, Akademie Verlag, Berlin 1995, ISBN 3-05-003007-0, S. 77, & Ursula Langkau-Alex: The Woman in the Background. In Search of Babette Gross and the Others in Münzenberg’s Networks in the 1930s, in: Bernhard H. Bayerlein, Kasper Braskén und Uwe Sonnenberg (Hg.): Globale Räume für radikale transnationale Solidarität. Beiträge zum Ersten Internationalen Willi-Münzenberg-Kongress 2015 in Berlin, Internationales Willi Münzenberg Forum, Berlin 2018, ISBN 978-3-00-059381-9, S. 396 und 484. Ausführlicher noch zu Jurr-Tempi, die auch noch den Vornamen Johanna und dessen Abkürzung Jo führte: Bernd-Rainer Barth und Werner Schweizer: Der Fall Noel Field. Schlüsselfigur der Schauprozesse in Osteuropa. Gefängnisjahre 1949-1954, BasisDruck, Berlin 2005, ISBN 3-86163-102-4, S. 410 ff.
- Sächsisches Landesarchiv Leipzig, Bestand 20237 Nr. 26968
- Helmut Kohl: Erinnerungen: 1930 bis 1982, Online-Ausgabe auf Google-Books, keine Angabe von Seitenzahlen.
- Fritsch/Nöckel, Vergebliche Hoffnung auf einen politischen Frühling, Verlag Jena1800, Berlin 2006, S. 48
- Bauer, J./Hartung, J./Schäfer P./Dicke, K. (Hrsg.): Ehrenmitglieder, Ehrenbürger und Ehrensenatoren der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Geisteswissenschaften). Hain Verlag, Bad Zwischenahn 2008, S. 92.
- Rede von Ludwig Elm zum Magnus-Poser-Gedenken 2015
- Gregor Pelger: Rezeption der Weißen Rose in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR. Zwischen verordneter Erinnerung und Vorbild zum Widerstand, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildung: Einsichten + Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, München, Ausgabe 3/16, S. 72
Kategorie:Person (Widerstand gegen den Nationalsozialismus)