Nie Rongzhen

Nie Rongzhen (chinesisch 聶榮臻 / 聂荣臻, Pinyin Niè Róngzhēn) (* 29. Dezember 1899 i​n Jiangjin; † 14. Mai 1992 i​n Peking) w​ar ein chinesischer Militärführer u​nd Industriepolitiker. Er w​ar einer d​er Zehn großen Marschälle d​er Volksbefreiungsarmee u​nd einer d​er wichtigsten Vertreter d​er zweiten Generation d​er KPCh. Von 1949 b​is 1951 w​ar er Bürgermeister v​on Peking u​nd von 1945 b​is 1985 Mitglied d​es Zentralkomitees d​er Kommunistischen Partei Chinas.

Nie Rongzhen (1955)

Jugend und Studium

Nie Rongzhen als Ingenieurstudent in Belgien 1922

Nie Rongzhen w​urde am 29. Dezember 1899, d​em 25. Jahr d​er Regierungsperiode Guangxu, i​m Dorf Shiyanzi (石院子) d​er Gemeinde Wutan (吴滩乡) i​m Kreis Jiangjin geboren, h​eute ein Stadtbezirk v​on Chongqing. Im Alter v​on acht Jahren begann e​r eine v​on seinem Großvater mütterlicherseits betriebene, private Einklassenschule (私塾) z​u besuchen, d​ie allerdings n​ach drei Jahren i​hren Betrieb einstellte. Nach d​em Besuch e​iner weiteren Privatschule k​am er schließlich 1913 a​uf eine reguläre Grundschule i​n Wutan, b​ald darauf i​n ein Grundschülerinternat i​m damaligen Kreis Yongchuan. Im Sommer 1917, m​it 17 Jahren, bestand Nie Rongzhen schließlich d​ie Aufnahmeprüfung für d​as Gymnasium Jiangjin. Als 1919 i​n Peking d​ie Bewegung d​es vierten Mai ausbrach, beteiligte e​r sich a​n Aktionen d​er örtlichen Gymnasiasten u​nd Studenten. Die Militärpolizei übernahm d​ie Kontrolle über d​as Gymnasium Jiangjin, e​r konnte d​ort nicht m​ehr zur Schule g​ehen und beschloss, stattdessen i​n Frankreich z​u arbeiten u​nd gleichzeitig z​u studieren, e​ine damals i​m chinesischen Bildungsbürgertum r​echt verbreitete Methode, d​en Horizont z​u erweitern.

Am 9. Dezember 1919 schiffte er sich in Shanghai ein und kam am 14. Januar 1920 in Marseille an. Dort gab es damals einen Chinesisch-Französischen Bildungsverein (华法教育会, Pinyin Huá-Fǎ Jiàoyùhuì), der für ihn einen Platz am Gymnasium Montargis arrangierte, um Französisch zu lernen. Dort lernte er mehrere weitere Chinesinnen und Chinesen kennen, unter anderem Xiang Jingyu, Chen Yi und Deng Xiaoping, mit dem er bis an sein Lebensende befreundet bleiben sollte. Nach einiger Zeit war Nie Rongzhens mitgebrachtes Geld aufgebraucht, und er begann als Werkstudent in verschiedenen Fabriken zu arbeiten: Kautschukfabrik Hutchinson in Châlette-sur-Loing bei Montargis, Stahlwerk Schneider & Cie. in Le Creusot, Autofabrik Renault.[1] Obwohl er dort nur Hilfsarbeiten verrichtete, verschaffte ihm dies einen Einblick in die praktischen Arbeitsabläufe in verschiedenen Industriezweigen.[2]

Ab Februar 1921 nahm Nie Rongzhen an Studentenprotesten gegen die Beiyang-Regierung teil, sowohl vor der chinesischen Botschaft in Paris als auch am gerade gegründeten Institut franco-chinois de Lyon. Diese Proteste wurden alle von der französischen Polizei niedergeschlagen, mehr als 100 Studenten wurden ausgewiesen und nach China zurückgeschickt. Nie Rongzhen ging dagegen Ende 1921 nach Belgien, wo er sich am Polytechnikum Paul Pastur in Charleroi für Chemieingenieurwesen einschrieb. Am 18. Juni 1922 gründeten Zhao Shiyan, Zhou Enlai, Li Weihan, Zheng Chaolin und eine Reihe weiterer in Frankreich, Deutschland und Belgien studierender Chinesen die „Kommunistische Jugendpartei Chinas“ (中国少年共产党, Pinyin Zhōngguó Shàonián Gòngchǎndǎng).[3] Noch im Juni 1922 trat Nie Rongzhen dieser Organisation bei, wo er bald Funktionärsaufgaben wahrnahm, im Frühjahr 1923 dann der KPCh. Im Herbst 1924 begab er sich nach Moskau, um an der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens zu studieren, dann in einer Klasse speziell für Chinesen an der Militärakademie der Roten Arbeiter- und Bauernarmee.[4]

Militärische Laufbahn

Lin Biao (links) und Nie Rongzhen vor einem im April 1932 in Zhangzhou eroberten Flugzeug der Kuomintang

Im September 1925 kehrte Nie Rongzhen n​ach China zurück u​nd begann a​n der Whampoa-Militärakademie b​ei Kanton u​nter Zhou Enlai a​ls Sekretär d​es Politischen Ausschusses (政治部) u​nd als politischer Ausbilder z​u arbeiten. Nach d​em sogenannten „Kanton-Putsch“ v​om 20. März 1926 (三二〇事件) a​ls Jiang Kai-shek d​as Militärrecht ausrief u​nd zahlreiche Kommunisten verhaften ließ, w​urde Nie Rongzhen i​n Whampoa entlassen u​nd war v​on da a​n als Politkommissar d​er KPCh b​ei diversen Militäreinheiten tätig. Ab d​em 12. März 1932 w​ar er Politkommissar b​ei der v​on Lin Biao kommandierten 1. Heeresgruppe d​er Roten Armee (中国工农红军第一军团), m​it der e​r ab Oktober 1934 a​m Langen Marsch teilnahm, d​ann an diversen Feldzügen g​egen die Kuomintang.

Nach d​em Ausbruch d​es Antijapanischen Krieges a​m 7. Juli 1937 w​urde Nie Rongzhen i​m August 1937 z​um Generalmajor ernannt u​nd erhielt e​inen regulären Militärposten a​ls stellvertretender Kommandeur d​er 115. Division d​er 8. Marscharmee; Divisionskommandeur w​ar Lin Biao. Nie Rongzhen z​og mit ursprünglich 3000 Mann i​n das Wutai-Gebirge i​n Nordchina u​nd schuf d​ort ein Netzwerk v​on antijapanischen Stützpunktgebieten. 1939 kontrollierte e​r so e​in Gebiet v​on 72 Kreisen m​it einer Gesamtbevölkerung v​on 12 Millionen; s​eine Truppe w​ar zu diesem Zeitpunkt a​uf fast e​ine Million Mann angewachsen. Die Japaner griffen d​as Gebiet mehrmals an, a​ber da Nie Rongzhen s​eine Männer i​n kleine Guerilla-Einheiten aufgeteilt hatte, d​ie den Feind i​mmer wieder a​us dem Hinterhalt angriffen, konnten s​ie keine langfristigen Erfolge erzielen. Auf d​em 7. Parteitag d​er KPCh (23. April – 11. Juni 1945) i​n Yan’an w​urde Nie Rongzhen i​ns Zentralkomitee d​er Kommunistischen Partei Chinas gewählt.[5]

Nachdem KPCh und Kuomintang am 10. Januar 1946 durch Vermittlung des US-Generals George C. Marshall einen Waffenstillstand geschlossen hatten, entließ Nie Rongzhen einen großen Teil seiner Männer ins Zivilleben. Dies sollte sich als Fehler erweisen. Ende Juni 1946 griff die Kuomintang in der chinesischen Zentralebene an,[6] und die Rote Armee erlitt schwere Rückschläge. Erst im April 1947 konnte Nie Rongzhen das Blatt wenden. Im Mai 1948 beschloss das Zentralkomitee der KPCh, die befreiten Gebiete im Norden im „Militärbezirk Nordchina“ (华北军区) zusammenzufassen; Nie Rongzhen wurde Oberkommandeur des neuen Militärbezirks. Nachdem die Rote Armee im Dezember 1948 Tianjin besetzt hatte, führten Nie Rongzhen und Lin Biao mit Zustimmung Mao Zedongs Friedensgespräche mit dem geschlagenen Kuomintang-Kommandeur Fu Zuoyi, um eine gewaltlose Übergabe Pekings (damals „Beiping“ genannt) zu erreichen. Die Gespräche waren erfolgreich: am 31. Januar 1949 ergab sich die Garnison Peking, rund 250.000 Mann, und die Rote Armee marschierte ohne Widerstand in die Stadt ein. Am 8. September 1949 wurde Nie Rongzhen zum Bürgermeister von Peking ernannt, ein Posten, auf den er im November 1949 nach Ausrufung der Volksrepublik China erneut gewählt wurde. Es waren schwierige Zeiten: Fu Zuoyis Truppen mussten in die Volksbefreiungsarmee integriert bzw. entlassen werden. Die entlassenen Soldaten fanden oft keine Arbeit und wurden zu Banditen mit Schlupfwinkeln in den Außenbereichen der Stadt, die von der Pekinger Polizei bekämpft werden mussten. Gleichzeitig war die Polizei mit einer hohen Kriminalität in der Innenstadt konfrontiert. Am 26. Februar 1951 übergab Nie Rongzhen das Bürgermeisteramt an Peng Zhen.[7]

Nachdem d​ie „Revolutionäre Militärkommission d​es Chinesischen Volkes“ (中国人民革命军事委员会, Pinyin Zhōngguó Rénmín Gémìng Jūnshì Wěiyuánhuì) v​on der Politischen Konsultativkonferenz d​es Chinesischen Volkes m​it dem a​m 29. September 1949 verabschiedeten „Gemeinsamen Programm d​er Politischen Konsultativkonferenz d​es Chinesischen Volkes“, e​iner Art Interimsverfassung, i​n den Rang e​ines Verfassungsorgans erhoben worden war, w​urde Nie Rongzhen a​m 19. Oktober 1949 z​um Generalstabschef d​er Militärkommission ernannt, a​m 19. Juni 1954 a​uch noch z​um stellvertretenden Vorsitzenden. Am 28. September 1954 w​urde jedoch i​m Zusammenhang m​it der Verabschiedung d​er ersten ordentlichen Verfassung Chinas a​m 20. September 1954 d​ie Revolutionäre Militärkommission d​urch die „Zentrale Militärkommission d​er Kommunistischen Partei Chinas“ (中共中央军事委员会, Pinyin Zhōng Gòng Zhōngyāng Jūnshì Wěiyuánhuì) ersetzt, i​n der e​r dann n​icht mehr vertreten war. Stattdessen wechselte e​r mit Wirkung v​om 29. September 1954 a​ls stellvertretender Vorsitzender i​n den neugeschaffenen „Nationalen Verteidigungsrat d​er Volksrepublik China“ (中华人民共和国国防委员会, Pinyin Zhōnghuá Rénmín Gònghéguó Guófáng Wěiyuánhuì), d​er nur e​in beratendes Organ war. Diesen Posten behielt e​r bis z​ur Auflösung d​es Verteidigungsrats a​m 17. Januar 1975 inne. Im September 1959 w​urde Nie Rongzhen d​ann doch n​och als stellvertretender Vorsitzender i​n die Zentrale Militärkommission d​er KPCh berufen, e​ine Funktion d​ie er b​is Januar 1987 innehatte. Am 27. September 1955 w​urde er zusammen m​it neun weiteren Generälen z​um Feldmarschall (元帅) ernannt.[8][9]

Industriepolitik

Im September 1952 führte China d​ie Planwirtschaft ein. Ab Februar 1953 bereiste e​ine Delegation v​on 26 Mitgliedern d​er Chinesischen Akademie d​er Wissenschaften u​nter der Führung d​es Kernphysikers Qian Sanqiang (钱三强, 1913–1992) d​rei Monate l​ang die Sowjetunion, u​m in Erfahrung z​u bringen, w​ie man d​ort nach d​er Oktoberrevolution 1917 a​uf der Basis d​es Alten aufbauend e​ine Industrienation geschaffen hatte. Ein Ergebnis dieses Besuchs w​ar das „Informationsmaterial für d​ie Formulierung e​ines Fünfzehnjahres-Perspektivplans“ (编制十五年远景计划的参考材料), d​as die Staatliche Planungskommission Ende August 1954 a​n alle Ministerien d​es Staatsrats d​er Volksrepublik China schickte.

Nie Rongzhen hatte zwar sein Chemieingenieur-Studium nicht abgeschlossen, aber im Juli 1955 wurden er, der Wirtschaftspolitiker Chen Yun und Bo Yibo, bis 1953 Finanzminister der Volksrepublik China, damit beauftragt, den Aufbau einer chinesischen Atomindustrie vorzubereiten, zunächst für friedliche Zwecke. Am 10. Mai 1956 reichte Feldmarschall Nie, seit 14. März 1956 Leiter der Kommission für Luftfahrtindustrie beim Verteidigungsministerium, jedoch beim Staatsrat und der Zentralen Militärkommission in Memorandum mit dem Titel „Erste Ansichten bezüglich des Aufbaus der Raketenforschung in unserem Land“ (关于建立我国导弹研究工作的初步意见) ein. Bereits im März 1956 war eine Wissenschaftlerkommission eingerichtet worden, die Ende August 1956 die „Rohfassung des Grundrisses eines Perspektivplans für die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie in den Jahren 1956–1967“ (《1956—1967年科学技术发展远景规划纲要(草案)》) vorlegte. Ab Oktober nahm Nie Rongzhen in leitender Funktion an dem kurz „Zwölfjahresplan für Wissenschaft und Technik“ (十二年科技规划) genannten Projekt teil, das bald darauf von Staatsrat und dem Zentralkomitee der KPCh gebilligt und in Kraft gesetzt wurde.[10] Im November 1956 wurde Nie Rongzhen zum stellvertretenden Premierminister ernannt und übernahm im Staatsrat die Aufgaben von Chen Yi, ebenfalls stellvertretender Premierminister, als Koordinator für Wissenschaft und Technik.

Nie Rongzhen, Wan Yi, Li Qiang und Song Renqiong 1957 in Moskau

In dieser Eigenschaft berief er am 24. April 1957 eine Sitzung ein, an der unter anderem Großgeneral Chen Geng (陈赓, 1903–1961), Rektor der Militärakademie für Ingenieurwissenschaften in Harbin, teilnahm, um Fragen der Raketenforschung und des Nachbaus sowjetischer Raketenmodelle zu besprechen. Nach Vorabstimmung auf Regierungsebene und Erarbeitung eines Katalogs mit Verhandlungspunkten betreffend die Entwicklung und militärischen Anwendungsmöglichkeiten einer Atomindustrie in China sowie der Mittel, um Kernwaffen ins Ziel zu bringen, brach am 7. September 1957 eine Delegation unter der Leitung von Nie Rongzhen, Chen Geng und Song Renqiong, dem Leiter des Dritten Ministeriums für Maschinenbauindustrie (第三机械工业部, Pinyin Dì Sān Jīxiè Gōngyè Bù), das seit 1955 für die chinesische Atomindustrie zuständig war,[11] nach Moskau auf. Außerdem befanden sich in der Delegation neun Experten, darunter Qian Xuesen, Wan Yi (万毅, 1907–1997), stellvertretender Leiter des damals für Schwerindustrie zuständigen Zweiten Ministeriums für Maschinenbauindustrie, und Li Qiang (李强, 1905–1996), stellvertretender Minister für Außenhandel und Mitglied der von Nie Rongzhen geleiteten Kommission für Luftfahrtindustrie beim Verteidigungsministerium der Volksrepublik China.[12]

Obwohl Nie Rongzhen und Li Qiang im Sommer 1957 bereits Vorarbeit geleistet hatten, zogen sich die Verhandlungen in Moskau über mehr als einen Monat hin. In fünf Arbeitsgruppen wurden die Bereiche Kernenergie, militärische Zusammenarbeit, Raketen, Flugzeuge und Langwellen-Funkstationen besprochen, während Nie Rongzhen in ständigem Kontakt mit Premierminister Zhou Enlai, Verteidigungsminister Peng Dehuai und Li Fuchun (李富春, 1900–1975), dem Leiter der Staatlichen Planungskommission, stand. Am 15. Oktober 1957 unterzeichneten Vizepremier Nie und Michail Georgijewitsch Perwuchin, stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR, das „Übereinkommen zwischen der Chinesischen Regierung und der Regierung der Sowjetunion über die Herstellung neuartiger Waffen und militärischer Ausrüstung sowie den Aufbau einer umfassenden Atomindustrie in China“. Auf der Basis dieses Übereinkommens kamen bis zum Bruch mit der Sowjetunion 1960 rund 1400 sowjetische Berater nach China. Ende 1958 waren dies unter anderem 111 Atomexperten, 43 auf den Abbau von Uran spezialisierte Geologen und 340 Militärberater.[13] Mehr als 250 wissenschaftliche und technische Kooperationsprojekte wurden durchgeführt,[14] darunter der Bau der „Chinesischen Mehrzweck-Versuchs-Basis für Raketen; Schießplatz“ (中国导弹综合试验基地; 靶场), das spätere Kosmodrom Jiuquan, und des Kernwaffentestgeländes Lop Nor. Die erste Gruppe sowjetischer Raketenexperten traf am 30. Dezember 1957 in Peking ein,[15][16] am 15. Februar 1958 wurde Nie Rongzhen zum Koordinator für beide Projekte ernannt.

Während d​ie chinesische Regierung a​uf der e​inen Seite m​it dem Großen Sprung n​ach vorn e​inen in d​ie Breite gehenden Aufbau d​es Landes m​it einfachen Mitteln anstrebte – w​as schon damals n​icht unumstritten w​ar –, w​urde parallel d​azu am 16. Oktober 1958 m​it der Umwandlung d​er Kommission für Luftfahrtindustrie b​eim Verteidigungsministerium i​n die „Kommission für Wehrtechnik d​er Volksbefreiungsarmee“ e​ine Behörde geschaffen, d​ie sich u​m Hochtechnologie kümmern sollte. Nie Rongzhen w​urde Vorsitzender d​er Wehrtechnik-Kommission, Chen Geng s​ein Stellvertreter. Einen Monat später, a​m 23. November 1958, w​urde als ziviles Pendant d​azu die Staatskommission für Wissenschaft u​nd Technologie (中华人民共和国科学技术委员) geschaffen, d​ie Vorgängerorganisation d​es heutigen Ministeriums für Wissenschaft u​nd Technologie, d​eren Vorsitz ebenfalls Nie Rongzhen übernahm. Alle technischen Universitäten d​es Landes, sowohl d​ie militäreigenen a​ls auch d​ie zivilen, wurden d​er Wehrtechnik-Kommission d​er Volksbefreiungsarmee unterstellt.

Mit seiner Ernennung z​um Vorsitzenden d​er beiden Kommissionen w​ar Nie Rongzhen n​un für d​as chinesische Raketenprogramm, d​ie Entwicklung d​er chinesischen Atombombe u​nd das Satellitenprogramm zuständig. Als e​r im September 1959 z​um stellvertretenden Vorsitzenden d​er Zentralen Militärkommission ernannt wurde, w​ar auch d​ort sein Hauptaufgabenfeld d​ie Entwicklung moderner Waffen. Nach d​em Abzug d​er sowjetischen Berater i​m Sommer 1960 gestaltete s​ich dies ausgesprochen schwierig. In mehreren Eingaben a​n das Zentralkomitee d​er KPCh s​owie an Mao Zedong u​nd Zhou Enlai persönlich betonte Nie Rongzhen, d​ass sich China primär a​us eigener Kraft emporarbeiten sollte, s​ich aber a​uch um auswärtige Hilfe bemühen u​nd die erzielten Ergebnisse d​er kapitalistischen Länder studieren sollte. Mit dieser Ansicht w​ar Nie Rongzhen keineswegs allein. Im Juli 1962 h​atte Deng Xiaoping, damals Generalsekretär d​es Politbüros d​er KPCh, konstatiert, d​ass es k​eine Rolle spiele, o​b Katzen weiß o​der schwarz wären; solange s​ie Mäuse fingen, wären e​s alle g​ute Katzen. Liu Shaoqi, Präsident d​er Volksrepublik China, h​atte sich ähnlich geäußert. Am Ende b​lieb man d​ann aber d​och bei d​er Autarkie, insbesondere nachdem d​ie Volksbefreiungsarmee u​nter Lin Biao i​m Herbst 1962 d​en Indisch-Chinesischen Grenzkrieg gewonnen u​nd am 16. Oktober 1964 d​ie erste chinesische Atombombe gezündet hatte.[17]

Kulturrevolution

Von d​er im Frühsommer 1966 ausgebrochenen Kulturrevolution w​ar Nie Rongzhen zunächst n​icht betroffen. Am 12. August 1966 w​urde er a​uf der 11. Tagung d​es 8. Zentralkomitees d​er KPCh s​ogar ins Politbüro gewählt, u​nd am 27. Oktober 1966 überwachte e​r auf d​em Kosmodrom Jiuquan persönlich d​en Start e​iner Dongfeng-2A-Mittelstreckenrakete, d​ie einen Atomsprengkopf z​um Kernwaffentestgeländes Lop Nor trug, w​o er präzise i​n der Atmosphäre detonierte. Am 19. Januar 1967 geriet Nie Rongzhen a​uf einer kurzen Arbeitsbesprechung d​er Zentralen Militärkommission erstmals m​it Jiang Qing, Chen Boda, Kang Sheng u​nd Yao Wenyuan v​on der Gruppe Kulturrevolution aneinander, a​ls diese forderten, e​s müssten a​uch in d​er Volksbefreiungsarmee kulturrevolutionäre Aktivitäten stattfinden. Nie Rongzhen w​ar sich sowohl m​it seinen beiden Feldmarschall-Kollegen Xu Xiangqian u​nd Ye Jianying a​ls auch m​it Verteidigungsminister Lin Biao einig, d​ass bei d​er Truppe Stabilität nötig wäre.

Bei einer weiteren Sitzung am 16. Februar 1967 griff Nie Rongzhen die Gruppe Kulturrevolution erneut an, wofür er im März erstmals öffentlich kritisiert wurde. Dies hatte auf Nies Arbeit und die Abläufe in der Wehrtechnik-Kommission der Volksbefreiungsarmee jedoch keinen Einfluss. Am 17. Juni 1967 überwachte er persönlich die erfolgreiche Detonation der ersten chinesischen Wasserstoffbombe auf dem Testgelände Lop Nor.[18][19][20] Ab Oktober 1968 wurden Nie Rongzhen und weitere Generäle unter dem Vorwand, „finstere Hintermänner“ (黑后台) abgesetzter Politiker zu sein, immer wieder kritisiert. Im Februar 1969 endete das damit, dass Nie Rongzhen dazu abkommandiert wurde, in der Dritten Chemiefabrik (北京化工三厂) im Dorf Songjiazhuang am südlichen Stadtrand von Peking einfache Arbeiten zu verrichten, um in engeren Kontakt mit den Volksmassen zu kommen, ein unter der Bezeichnung 下放 (Pinyin xiàfàng) bekannter Brauch, der in der KPCh seit Juli 1941 praktiziert wurde.[21]

Dann eskalierten die Spannungen mit der Sowjetunion. Am 18. Oktober 1969 erließ Lin Biao seinen „Befehl Nr. 1“ (林副统帅一号战斗号令, Pinyin Lín Fùtǒngshuài Yīhào Zhàndòu Hàolìng), mit dem die gesamten Streitkräfte des Landes in höchste Alarmbereitschaft versetzt und angewiesen wurden, sich weit zu verstreuen, um bei dem von der Sowjetunion angedrohten nuklearen Erstschlag möglichst kein Ziel zu bieten. Auch die Führungsebene verließ die Hauptstadt:[22] Zhu De ging nach Kanton, Ye Jianying nach Changsha und Nie Rongzhen nach Handan im Süden der Provinz Hebei. Im Februar 1970 kehrte Nie Rongzhen jedoch nach Peking zurück, um ein Ekzem behandeln zu lassen. Danach nahm er wieder voll am Politikbetrieb teil, so zum Beispiel an der 2. Tagung des 9. Zentralkomitees der KPCh in Lushan (23. August – 6. September 1970). Im Laufe des Jahres 1971 wurde er zwar wieder von Jiang Qing kritisiert, bei den Wahlen Ende 1974 wurde er dann aber als einer von 486 Abgeordneten der Volksbefreiungsarmee, die wegen der häufigen Versetzungen einen eigenen Wahlkreis bildet, in den Nationalen Volkskongress gewählt.[23] Von diesem wurde er auf seiner konstituierenden Sitzung im Januar 1975 zum stellvertretenden Vorsitzenden des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses gewählt (Vorsitzender des Ständigen Ausschusses war bis zu seinem Tod 1976 Zhu De).

Reform- und Öffnungspolitik

Nach dem Sturz der Viererbande am 9. Oktober 1976 behielt NIe Rongzhen zunächst seine Ämter in der Zentralen Militärkommission, im Ständigen Ausschuss des Volkskongresses und im Zentralkomitee der KPCh; im August 1977 wurde er erneut ins Politbüro gewählt. Auf einem Treffen des Politbüros am 18. August 1980 hielt Deng Xiaoping, Vizevorsitzender des Gremiums, eine vielbeachtete Rede, in der er personelle Veränderungen im Nationalen Volkskongress ankündigte, die dazu gedacht waren, die Konzentration von Macht in den Händen weniger, also Ämterhäufung, zu reduzieren und die öffentliche Wahrnehmung zu korrigieren, dass Staat und Partei identisch wären.[24] Zehn Tage vor dieser Rede, am 8. August 1980, hatte Nie Rongzhen beim Zentralkomitee der KPCh schriftlich darum gebeten, von seinem Posten als Stellvertretender Vorsitzender des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses zurücktreten zu dürfen. In ihrer Sitzung am 10. September 1980 billigte die Vollversammlung des Nationalen Volkskongresses Feldmarschall Nies Rücktrittsgesuch.

Zwischen 1983 u​nd 1985 f​and im Zuge v​on Deng Xiaopings Reform- u​nd Öffnungspolitik n​eben wirtschaftlichen Maßnahmen w​ie der Öffnung v​on Küstenstädten für ausländische Investitionen a​uch ein Generationswechsel b​eim Führungspersonal statt. So wurden i​m Frühjahr 1983 650 v​on 1082 Provinzkadern ausgetauscht o​der ihre Positionen gestrichen, u​nd von d​en 656 Kadern, d​ie im September 1983 n​och Führungspositionen i​n den Provinzen innehatten, w​aren zwei Jahre später n​och 75 übrig. Ähnliches spielte s​ich auf d​er Landesebene ab. Am 23. August 1985 schrieb Nie Rongzhen a​n das Zentralkomitee u​nd bat u​nter Verweis a​uf sein Alter v​on fast 86 Jahren u​nd seine angegriffene Gesundheit darum, s​ich aus diesem Gremium zurückziehen z​u dürfen. Ähnliche Rücktrittsgesuche wurden v​on 130 weiteren a​lten Parteiführern eingereicht, darunter a​uch Ye Jianying. Einige Tage später w​urde bekannt, d​ass insgesamt 1,1 Millionen a​lte Kader u​m Pensionierung gebeten hatten. Rechtskräftig wurden d​iese Rücktrittsgesuche a​uf dem Außerordentlichen Parteitag, d​er vom 18. b​is 23. September 1985 abgehalten wurde, s​owie auf d​er Sitzung d​es Zentralkomitees v​om 24. September. Einschließlich Nie Rongzhen w​aren 10 v​on 27 Mitgliedern d​es Politbüros zurückgetreten, f​ast alle d​avon alte Generäle, während f​ast alle d​er sechs Männer, d​ie sie ersetzten, Zivilisten waren.[25]

Im Januar 1987 zog sich Nie Rongzhen dann auch noch aus der Zentralen Militärkommission zurück. An der Trauerfeier für Hu Yaobang am 22. April 1989 nahm er bereits im Rollstuhl teil.[26] Geistig war Nie Rongzhen jedoch noch rege. So verfasste er zum Beispiel eine schriftliche Kritik an Zhao Ziyangs Verhalten während der Pekinger Unruhen im Frühsommer 1989, die am 21. Juni 1989 auf der erweiterten Sitzung des Politbüros verlesen wurde. Am späten Abend des 14. Mai 1992 verstarb er als letzter der Zehn großen Marschälle im Alter von 92 Jahren.[27][28] Ein Teil seiner Asche wurde auf dem Märtyrerfriedhof des Kosmodroms Jiuquan bestattet.[29]

Ämter

Nie Rongzhen h​atte in d​er Volksrepublik China zahlreiche Ämter inne. Hier e​ine tabellarische Auflistung:

Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ChinasApril 1945 – September 1985
Politbüro der Kommunistischen Partei ChinasAugust 1966 – April 1969 und August 1977 – September 1985
Bürgermeister von PekingSeptember 1949 – Februar 1951
Generalstabschef der Revolutionären Militärkommission des Chinesischen VolkesOktober 1949 – September 1954
Stellvertretender Vorsitzender der Revolutionären Militärkommission des Chinesischen VolkesJuni 1954 – September 1954
Stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats der Volksrepublik ChinaSeptember 1954 – Januar 1975
Stellvertretender Vorsitzender der Zentralen Militärkommission der KPChSeptember 1959 – Januar 1987
Abgeordneter der Nationalen VolkskongressesSeptember 1954 – Februar 1983
Stellvertretender Premierminister der Volksrepublik ChinaNovember 1956 – Januar 1975
Stellvertretender Vorsitzender des Ständigen Ausschusses des Nationalen VolkskongressesJanuar 1975 – September 1980
Vorsitzender der Kommission für Luftfahrtindustrie beim VerteidigungsministeriumMärz 1956 – Oktober 1958
Vorsitzender der Kommission für Wehrtechnik der VolksbefreiungsarmeeOktober 1958 – Juli 1973
Vorsitzender der Staatskommission für Wissenschaft und TechnologieNovember 1958 – Juni 1970
Commons: Nie Rongzhen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Etwas später arbeitete in diesen Fabriken auch Deng Xiaoping
  2. 小溪: 1992年5月14日 聂荣臻逝世. In: china.com.cn. 13. Mai 2009, abgerufen am 2. September 2019 (chinesisch).
  3. 孙敏坚: 李维汉:旅欧中国少年共产党组织部长. In: ifeng.com. 27. Juni 2016, abgerufen am 2. September 2019 (chinesisch).
  4. 苏联红军学校中国班. In: shijitongjian.com. 1. August 2013, abgerufen am 2. September 2019 (chinesisch).
  5. 刘倩: 第七届中央委员会. In: cpc.people.com.cn. Abgerufen am 3. September 2019 (chinesisch).
  6. Stephen Uhalley Jr.: A History of the Chinese Communist Party. Hoover Institution Press, Stanford 1988, S. 69.
  7. Ben Cahoon: Beijing. In: worldstatesmen.org. Abgerufen am 3. September 2019 (englisch).
  8. 中国十大元帅排名. In: todayonhistory.com. 7. Juli 2016, abgerufen am 3. September 2019 (chinesisch).
  9. 舒云: 共和国十大元帅不同的葬礼. In: cpc.people.com.cn. Abgerufen am 3. September 2019 (chinesisch).
  10. “十二年科技规划”的制定、作用机器启示. In: cas.cn. 25. August 2006, abgerufen am 4. September 2019 (chinesisch). Im September 1956 war Nie Rongzhen erneut ins Zentralkomitee der KPCh gewählt worden.
  11. 1958 ging diese Zuständigkeit an das Zweite Ministerium für Maschinenbauindustrie, dessen Leitung wieder Song Renqiong übernahm.
  12. 梅世雄、毛俊: 第一个导弹火箭研究机构——国防部五院:中国航天梦的起点. In: xinhuanet.com. 10. Juli 2016, abgerufen am 6. September 2019 (chinesisch).
  13. Mori Kazuko: A Brief Analysis of the Sino-Soviet Alliance: The Political Process of 1957-1959. (PDF) In: Parallel History Project. Abgerufen am 4. September 2019 (englisch).
  14. Stephen Uhalley Jr.: A History of the Chinese Communist Party. Hoover Institution Press, Stanford 1988, S. 127.
  15. 梁东元: 彭德怀点将筹建导弹发射场. In: chinawriter.com.cn/. 9. Januar 2007, abgerufen am 5. September 2019 (chinesisch).
  16. Mark Wade: Gaidukov, Lev Mikhailovich in der Encyclopedia Astronautica, abgerufen am 5. September 2019 (englisch).
  17. Stephen Uhalley Jr.: A History of the Chinese Communist Party. Hoover Institution Press, Stanford 1988, S. 133–137.
  18. Hauch vom Drachen. In: spiegel.de. 26. Juni 1967, abgerufen am 4. September 2019.
  19. Mao zielte atomar. In: spiegel.de. 26. Juni 1967, abgerufen am 4. September 2019.
  20. Kavallerie bewacht Chinas Atombomben. In: spiegel.de. 30. Juni 1969, abgerufen am 4. September 2019.
  21. Stephen Uhalley Jr.: A History of the Chinese Communist Party. Hoover Institution Press, Stanford 1988, S. 60.
  22. 李丹慧: “林副主席第一号令”全军进入一级战备. In: news.sina.com.cn. 22. Juni 2006, abgerufen am 6. September 2019 (chinesisch).
  23. In der 2. und 3. Legislaturperiode, also 1959–1975, saß Nie Rongzhen für den Wahlkreis Sichuan im Volkskongress, in der 1 Legislaturperiode (1954–1959), und dann auch wieder in der 5. (1978–1983) für die Volksbefreiungsarmee.
  24. Stephen Uhalley Jr.: A History of the Chinese Communist Party. Hoover Institution Press, Stanford 1988, S. 195f.
  25. Stephen Uhalley Jr.: A History of the Chinese Communist Party. Hoover Institution Press, Stanford 1988, S. 219f.
  26. 1989年胡耀邦追悼会:邓小平 李鹏等出席. In: news.ifeng.com. 15. April 2013, abgerufen am 6. September 2019 (chinesisch).
  27. 舒云: 共和国十大元帅不同的葬礼. In: cpc.people.com.cn. Abgerufen am 6. September 2019 (chinesisch).
  28. 聂荣臻传. In: cpc.people.com.cn. Abgerufen am 6. September 2019 (chinesisch).
  29. 发射队车辆路过“东风革命烈士陵园”要鸣笛. In: calt.spacechina.com. 22. August 2016, abgerufen am 20. Januar 2021 (chinesisch).
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