Historische Rechtsschule
Die historische Rechtsschule (auch: geschichtliche Schule der Rechtswissenschaft) ist eine rechtswissenschaftliche Lehrströmung, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts durch Friedrich Carl von Savigny mitbegründet wurde und als deren herausragender Vertreter er gilt. Kulturgeschichtlich entstand die Schule im Zeichen der Romantik und des Klassizismus. Sie versteht Recht als wandelbaren Teil der Kulturhistorie eines Volkes und wendet sich gegen das aufgeklärte Vernunftrecht, das das festgehaltene klassische römische Recht als Erkenntnisquelle für überzeitliche Wahrheiten durch die menschliche Vernunft verstand und in diesem Geiste die vorangegangenen zwei Jahrhunderte inspirierte. Mit ihrer Konzeption als philosophische Wissenschaft geriet die Rechtsschule ins Spannungsfeld zwischen dem allgemeingültigen Naturrecht und dem staatlich verordneten positiven Recht. Beide Rechtsantipoden wurden zwar abgelehnt, dennoch durften hergebrachte und gültige gewohnheitsrechtliche Regeln einfließen und Bestandteil von Aufzeichnungen werden, was bisweilen Inkonsequenzen zeitigte, denn Rückgriffe auf die naturrechtliche Lehren selbst sowie deren Systematik, dürfte die Rechtsschule nicht leugnen.
Die Einsicht der Geschichtlichkeit von Recht wirkte sich auf die Arbeiten mit den rezipierten Rechtsquellen aus. Da Savigny die Ansicht vertrat, dass die überlieferten Rechtstexte ab dem Mittelalter bis zur Unkenntlichkeit verderbt worden waren, wollte er sie von all diesen Eingriffen befreit sehen, um sie einer verständnisvolleren wissenschaftlichen Behandlung zu unterziehen. Rechtssystematisch folgte die Schule dem Pandektenrecht, wissenschaftliche Ausgangsgrundlage des bis heute geltenden deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB).
Wegbereiter und Protagonisten der historischen Rechtsschule waren einerseits die dominierenden Romanisten um Savigny, Gustav von Hugo und Georg Friedrich Puchta, andererseits die Anhänger der Strömung der Germanisten mit Karl Friedrich Eichhorn, Jacob Grimm und Georg Beseler. Der Streit zwischen den beiden Flügeln um das römische Recht war nationalpolitischer Art. Widerstand gegen die Schule regte sich aus den Lagern der Hegelianer und der Praktiker.
Begriff und Bedeutung
Geschichtlichkeit des Rechts
Im Zentrum der Idee der historischen Rechtsschule stand eine Rechtsentwicklung, die auf einem gemeinschaftlichen kultur- und geschichtsabhängigen Bewusstsein aufbaute, welches Savigny den Volksgeist nannte[1] – ein Begriff, den bereits Hegel in seiner Sicht der Weltgeschichte verwendet.[2] Savigny brachte damit sein Unbehagen gegen die naturrechtlich geprägte Dogmatik des Vernunftrechts zum Ausdruck, welches die beiden vorangegangenen Centennien, das 17. und 18. Jahrhundert, in der Form einer obrigkeitsstaatlichen Gesetzgebung geprägt hatte.[3] Das bedeutet, dass er sich von der vorherrschenden Einsicht abwandte, Recht sei zeitlos und absolut gültig. Seine Einsicht vermittelt stattdessen, dass Recht als historisches Produkt verstanden werden müsse. Quelle seiner (je aktuellen) Geltung sei der „Wille des Volkes“.[4] Die Reflexion auf die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz, bedeutete für die Rechtswissenschaft die Erkenntnis, dass eine Beziehung zwischen einer Rechtsnorm (dem „Sollen“) und der Wirklichkeit der Gesellschaft (dem „historischen Sein“) besteht. Die verständige Einlassung darauf, dass das Volk als Kulturnation und dessen epochale Schöpfungen als Teil einer Gesamtkultur begriffen wird, erhielt Bezeichnungen. Georg Beseler nannte es das Volksrecht und Gustav von Hugo bezeichnete es in Anlehnung an die römische Klassik, als das Juristenrecht. Hugo und Beseler wurden bedeutende Wegbereiter und final auch Mitbegründer der historischen Rechtsschule.[5]
Wieacker interpretiert Savigny im Lichte dessen Bekenntnis zur Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders, der Recht als Teil der Gesamtkultur und Rechtsgeschichte als Teil der Geschichte der Gesamtkultur verstand: Beider Ansicht nach, so Wieacker, vollstreckten die Völker einen „Entwicklungsplan der Menschheitsgeschichte“, der auf die „Heranbildung der vollen Humanität“ abziele.[6] Der evolutionstheoretische Charakter der Begrifflichkeiten von „Heranbildung“ und „Entwicklungsplan“ verleitet Uwe Wesel zu der Erkenntnis, dass Recht für Savigny Produkt „des stillen Wirkens eines Volksgeistes“ sein müsse, welcher sich gleichsam „organisch“ entwickle – wie eine Sprache. Er bezeichnet diesen für das Recht revolutionären Ansatz als evolutionstheoretisch, typisch für das 19. Jahrhundert insoweit, als Darwin, Marx und Durkheim für ihre jeweiligen Disziplinen methodisch ähnlich ansetzten und verfuhren.[7] Da Recht im Verständnis Savignys Bestandteil von Kultur sei, weitergehend Kultur noch Bestandteil von „geistiger Tradition“, noch weitergehend, „geistige Tradition“ bezüglich des schriftlich fixierten römischen Rechts gar „literarische Tradition“, warnt Wieacker zur Vermeidung von Missverständnissen davor, Savignys Volksgeist-Begriff außerhalb des kulturellen Kontextes zu betrachten. Eine (vordergründig naheliegende) biologische oder realsoziologische Kontextualisierung des Begriffs ginge nämlich fehl und würde zu programmatischen Inkonsequenzen führen.[6]
Kodifikationsstreit
Den Sockel einer Volksüberzeugung bildet nach Savigny das Gewohnheitsrecht. Unterstützt wird es von Wissenschaft und Rechtspraxis, aber nur im flankierenden Sinne.[8] Besonders streitig diskutierte Savigny die Bedeutung der Gesetzgebung für das Rechtsbewusstsein eines Volkes. Hervorzuheben ist der Disput mit einem intimen Vertrauten der Weimarer Klassiker und (traditionsfeindlichen) Vernunftrechtler, Anton Friedrich Justus Thibaut. Die wissenschaftliche Kontroverse der beiden ging als Kodifikationsstreit (1814) in die Annalen ein.[9]
In seiner Schrift Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland war Thibaut für eine umfassende Nationalkodifikation eingetreten, dies obgleich Gegner der Idee eines Zentralstaates. Die Rechtsordnungen des „Alten Reiches“ erschienen ihm jedoch unvollständig und teils überholt. Er stellte sich gegen die Not, dass laufend behelfsweise auf das römisch-kanonische Recht zurückgegriffen wurde. Das Rechtsensemble selbst hielt er für eine Kodifizierung jedoch für völlig ungeeignet, denn, so kommentierte er, sein kanonischer Rechtsteil böte sich als „ein Haufen dunkler, verstümmelter Bestimmungen“ dar und sein römischer Rechtsteil als ein „Wust jämmerlicher zerstückelter Fragmente“, aus welchem sich nicht ein einziger authentischer (klassisch-juristischer) Text isolieren ließe. Insgesamt präsentiere sich seiner Auffassung nach das römische Recht als Produkt der Verfallszeit der römischen Kultur und sei – in Anspielung auf die Aussortierung des Großteils und Umschreibung des kleinen verbliebenen Teils der klassischen Rechtsliteratur, nicht mehr als eine „flüchtig gearbeitete, dunkle Kompilation.“[10]
Mittels einer gezielt gegen Thibaut gerichteten Streitschrift (Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft) warb Savigny für Verständnis, die bevorstehende politische Restauration nicht mit einer zivilrechtlichen Kodifikation beantworten zu wollen und noch zu glauben, durch einen Gesetzeskatalog erfüllte sich „lebendiger politischer Besitz der Nation“.[6] Im Gegensatz zur Ratio der Aufklärung sieht Savigny nicht im Gesetz die ausschließliche Quelle des Rechts, insbesondere nicht in einer umfassenden Gesetzgebung, einer Kodifikation. Eine Kodifikation zerstöre die Mannigfaltigkeit stets wünschenswerter gemeinsamer Traditionen und bedeute – unter Überanstrengung der Aufgaben einer Gesetzgebung – legislatorische Gleichmacherei.[10] Tatsächlich könne eine Kodifikation nicht mehr leisten, als einzelne Reformen um- und durchzusetzen und darüber hinaus, die bewährten und bestehenden Gewohnheiten festzuhalten. Der Volkswille (Volksgeist) könne deshalb nicht aus einem demokratischen und damit gesellschaftlich verankerten Rechtsverständnis heraus interpretiert werden, vielmehr dränge sich auf, dass eigentliches Zentrum der Rechtsentfaltung die Wissenschaft sei. Diese habe gerade umgekehrt, die sich eröffnenden Handlungsspielräume zur Formulierung von Rechtssätzen zu nutzen. Die im Volk lebenden Grundvorstellungen füllten die Handlungsspielräume, die dem Recht vorzugeben seien. Damit formulierte Savigny sein Befremden gegenüber der staatlichen (insbesondere sozialen) Gesetzgebung und betonte mit einem Hauptsatz seiner Lehre, dass rechtspositivistische Vorstellungen sich vom Gesetzgeber als Rechtsquelle nicht ablösen dürften. Positiv gesetztes staatliches Recht sei gerade nicht frei von staatlicher Willkür, bedürfe zudem der Rechtsetzung als Notwendigkeit.[11][12][13] In prozessökonomischer Hinsicht sei nach Auffassung Savignys keine zusätzliche Rechtssicherheit und Prozessbeschleunigung zu erwarten, da auch die Anwendung eines Gesetzbuches, bei der reichhaltigen Fülle von unterschiedlichen Lebenssachverhalten, nicht von der Notwendigkeit der Rechtsauslegung entbinde und in vielen Fällen die Rechtsprechung bemüht werden müsse.[10]
Der Grundaussage der historischen Rechtsschule nach ist das Recht nicht ein willkürlich vom Gesetzgeber geschaffener Gesamttatbestand von Vorschriften, sondern ein Bündel von im „Bewusstsein des Volkes lebendigen Überzeugungen“, ähnlich der Sprache oder den Sitten und Gebräuchen eines Volkes. Solche Rechtsüberzeugungen können zwar durch einen Gesetzgeber festgehalten werden, entwickelten und veränderten sich aber „organisch im Laufe der Zeit“ und ohne sein Zutun. Tragend seien dabei die praktischen, dem Wandel unterzogenen, Notwendigkeiten und Bedürfnisse des betroffenen Volkes. Dem Juristenstand käme in einem entwickelten Rechtssystem – im Sinne einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung – die Aufgabe zu, das Volksbewusstsein dadurch zu repräsentieren, dass das geltende Recht wissenschaftlich dargelegt und dem Wandel angepasst wird, damit es anwendbar bleibt. Daraus lässt sich ein weiterer Hauptsatz der Rechtslehre ableiten: Der historische und der systematische Betrachtungswinkel müssen methodisch synthetisiert werden. Die bestehenden Rechtssätze sollen aus ihrer Geschichte heraus verstanden werden, was eine Zurückverfolgung ihrer Geschichte bis zur Wurzel verlangt. Von selbst würde der Sinn einer Norm klar und von selbst sonderten sich abgestorbene oder überkommene Bedeutungen des Rechtssatzes oder dessen Teile ab und es würde deutlich, welche Bedeutung der Rechtssatz für die Regelung der Gegenwart habe. Die auf dieses Verständnis sich beziehende systematische Einlassung orientiert sich nach Untersuchungen Helmut Coings nicht – wie etwa vom Naturrechtler Christian Wolff postuliert – an einer Deduktion des Sinnes des Rechtssatzes aus determinierten obersten Prinzipien, sondern an Oberbegriffen der für die Gesamtordnung relevanten „sozialen Phänomene“, wie das Institut der Ehe (aus dem Familienrecht) oder das Institut des Vertragswesen (aus dem Vermögensrecht).[14] Wer einen Vertrag schließe, begebe sich eines Teils seiner subjektiven Rechte auf Handlungsfreiheit (nach modernem Verständnis der Vertragsautonomie), denn er räumt einem Dritten eine Bestimmungsbefugnis ein, an die er als Vertragsantragender gebunden sei. Daraus ergebe sich für jedermann, dass Vertragsverhältnisse Verpflichtungsgeschäfte seien, die es einzuhalten gilt (Bestimmung des Volksgeistes im Lichte pandektistischer Einteilung).[15]
Savigny im Speziellen kritisierte die Statik positiver Gesetzgebung. Ausgehend von seinem Vorbild der weitgehend gesetzesfreien klassisch-römischen Jurisprudenz beanstandete er die jüngsten im großen Stil erlassenen naturrechtlichen Kodifikationen, so den Code civil, den er aufgrund seiner revolutionären Grundgesinnung für zeitgeistlich und minderwertig erachtete, etwas höher das altständische preußische Landrecht, denn er wendet gegen sie den Nützlichkeitsgeist der Aufklärung ein, behindernd den neuen Geist der (universitären) Erneuerung. Die Historische Rechtsschule stand letztlich im Spannungsfeld des Duells zwischen Thibaut und Savigny, deren Grundentscheidungen differierten. Der eine war Repräsentant demokratischer Politik im Geiste eines jungen Nationalgefühls, der andere Vertreter aristokratischer Kultur, die aus der europäischen Tradition erwachsen ist und sich in der Literatur der Weimarer Klassiker wiederholen.[6]
Romanisten und Germanisten
Innerhalb der historischen Rechtsschule konkurrierten die Romanisten mit den Germanisten. Die Romanisten vertraten die Auffassung, dass dem Volksgeist die Rezeption des römischen Rechts entspreche. Die Orientierung am hergebrachten antiken römischen Recht erlaube es, bisher nicht praktizierte Rechtssätze nachzurezipieren. Die Darstellung des Privatrechts erfolgte in Pandektenlehrbüchern. Bedeutende Pandektisten waren Rudolf von Jhering, Georg Arnold Heise, Adolph von Vangerow und Bernhard Windscheid. Sie obsiegten im Widerstreit zu den Germanisten im 19. Jahrhundert, bis zur Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuches in Deutschland.
Die Germanisten wie Karl Friedrich Eichhorn, Jacob Grimm, Georg Beseler oder Otto von Gierke sahen das mittelalterliche deutsche Recht schon vor der Rezeption als dem deutschen Volksgeist gemäß an. Die Lehre der Germanisten entwickelte sich im 18. Jahrhundert in Deutschland parallel zum römisch-kanonischen ius commune als ius Germanicum. Da es aber zu keiner Fusion des lokalen Gewohnheitsrechts mit dem gemeinen Recht gekommen war, zweiteilte sich die Privatrechtswissenschaft in den romanistischen und den germanistischen Flügel. Dass der germanistische Flügel sich nicht als eigenständige Lehre neben der historischen Rechtsschule etablierte, schließlich beurteilten die Germanisten die Rezeption des römischen Rechts als ein durch die gelehrten Juristen herbeigeführtes „Nationalunglück“, lag an den ursprünglichen Gemeinsamkeiten der Voraussetzungen der Denkansätze der beiden Disziplinen. Betont wurden diese insbesondere von K. F. Eichhorn. Sowohl das deutsche Recht als auch die Pandektistik verfolgten nicht nur nach seinem Verständnis die gleichen programmatischen Ansätze.[16] Recht sollte historisch und systematisch gedacht werden, auch das Verhältnis zur Theorie der „Begriffsjurisprudenz“ lief später synchron (insbesondere bei C. F. Gerber). Ursprünglich wurden die Disziplinen als einander ergänzend wahrgenommen, sie stellten sich erst im Laufe ihrer jeweiligen Entwicklungsgeschichte in einen Gegensatz zueinander.[17] Mit dem Werk „Volksrecht und Juristenrecht“[18] versuchte Georg Beseler die Folgen der römisch-rechtlichen Rezeption zu überwinden, indem er für die beiden im Titel genannten Rechtsgebiete von zwei Arten des „Gewohnheitsrechts“ ausging. Seiner Auffassung nach hätten die Juristen das Volksmandat zur Rechtsfortbildung fehlerhaft ausgeübt, weshalb er das reine Volksrecht an alte deutsche Rechtszustände angeknüpft wissen wollte, dies nebst Kodifikation des Rechts, damit auch das reine Juristenrecht wirkungslos würde. Das wurde allerdings mehrheitlich entschieden abgelehnt.[19] Ebenso drang die Auffassung A. L. Reyschers nicht durch, der die „Zurückführung des gesamten Rechts auf eine einheimische, der Volkseigentümlichkeit entsprechende Grundlage“ zur „Begründung einer vaterländischen Rechtswissenschaft“ postulierte.[17] Otto Giercke hob die soziale Komponente als Unterschied der Disziplinen hervor, die beim deutschen Recht betont, beim romanistischen Recht an einen individualistischen Manchesterliberalismus preisgegeben sah.[20]
Rechtliches Umfeld
Die historische Rechtsschule hatte maßgeblichen Einfluss auf die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Historisch folgte sie auf den von Savignys Rechtslehre weitgehend abgelehnten usus modernus pandectarum.[21] Dessen Bestrebungen im 18. Jahrhundert zur Verwissenschaftlichung des Rechts, fußten vornehmlich auf den mittelalterlichen Arbeiten der Postglossatoren und der Vertreter des mos italicus[22] und nicht – wie von der Historischen Rechtsschule gefordert – auf dem Corpus iuris civilis selbst („Zurück zu den Quellen.“).[23] Kaum Verständnis brachte die Rechtsschule auch für die Tradition des älteren gemeinen Rechts auf, das versucht hatte, alle rechtlichen Einflüsse zu vereinen. Die Rechtsschule wandte sich gegen die Fusion unterschiedlich rezipierten römischen Rechts mit Kirchenrecht und örtlichen Gewohnheitsrechten. Gegen die Tradition des gemeinen Rechts sprach aus dem Blickwinkel Savignys auch, dass der Corpus iuris nicht als Gewohnheitsrecht aufgefasst werden durfte, sondern als Gesetz. Das hatte für seine Lehre den Vorteil, dass die gemeinrechtliche Tradition als Gesetzesinterpretation und nicht etwa als eigenständige Entwicklung klassifiziert werden konnte. Ebenso stand die historische Schule den naturrechtlichen Strömungen ablehnend gegenüber. Savigny bevorzugte das römische Recht in seiner reinen und unverfälschten Form, denn es sollte aufgrund seiner hohen Autorität dem Bildungsanspruch seiner Zeit und dem Wertesystem der Weimarer Klassik gerecht werden. Unter Savignys Nachfolgern Georg Friedrich Puchta und Bernhard Windscheid ging aus dem romanistischen Zweig die Pandektenwissenschaft hervor, der eine methodische Kleinstarbeit an den Begriffsbestimmungen zu eigen war (Begriffsjurisprudenz). Rudolf von Jhering wiederum wandte sich von dieser Methode ab, um die realen sozialen Anforderungen bei der Rechtsanalyse zu untersuchen. Häufig wird sein Schaffen unter dem Begriff der „Soziologischen Rechtsschule“ gefasst.
Mächtiger Gegenspieler der historischen Schule war auf den öffentlich-rechtlichen Gebieten die Staats- und Rechtsphilosophie Hegels; mächtig, weil die „Rechte“ Hegels zur Staatsphilosophie der preußischen Monarchie geworden war und vermittels ihres staatsgeschäftlichen Intimus Julius Stahl die Theorie des Rechtsstaats wie des Kirchenrechts im Vormärz und in der preußischen Reaktion beherrschte.[6] So sie sich auch in der Dogmatik des Strafrechts – insbesondere gegen den dort zuletzt vorherrschenden Kantianismus – zu behaupten verstand, so vermochte sie es aber nicht, gegen die Stärke der zivilrechtlichen Theorie der Rechtsschule Savignys (insbesondere in der Auskleidung durch Puchta) anzukommen. Gleichwohl konnte über den Einfluss des Lübecker Appellationsgerichtspräsidenten J. Kierulff die Kritik der Hegelianer die Lehrer der historischen Rechtsschule zur „praktischen Verantwortung“ ermahnen.[24] Auch Julius von Kirchmann hielt im Revolutionsjahr 1848 eine vielbeachtete Rede, die sich gegen die von ihm als verbraucht erachtete Pandektenwissenschaft richtete mit dem Titel: Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Diese Rede stand letztlich am Ende der historischen Rechtsschule, die mit ihren romantisch-wissenschaftlichen Aspekten zunehmend als spekulativ und unvereinbar mit der justizpolitischen Praxis erachtet wurde. Die nationale Einheitsbewegung ging über von Kirchmanns Forderung nach einer Minimalgesetzgebung mit großzügigstem Ermessensspielraum hinaus und postulierte zum wiederholten Mal Kodifikationen, bis ein einheitliches Gesetzbuch zum Ende des Jahrhunderts mit dem BGB Wirklichkeit geworden sind.[25][26][27]
Während die auf der historischen Rechtsschule fußende Rechtswissenschaft für das 1896 vollendete Bürgerliche Gesetzbuch noch von großem Einfluss und Nutzen war, verschwand deren direkter Einfluss im 20. Jahrhundert zunehmend. Die Frage, auf welche Art sich das Recht aus dem Volksgeist entwickelt, diskutierten Juristen nochmals 1910 intensiv.[28] Hans Kelsen leitete seine „Allgemeine Staatslehre“ als rein juristische Theorie des positiven Staates von der Historischen Schule der Zeit des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts ab.[29]
Theoretische Kritikansätze
Helmut Coing kritisiert Savignys radikalen Gedankengang „Zurück zu den Wurzeln“ als Weg allein zurück zum Corpus iuris civilis. Dabei habe er nicht nur hilfreiche Entwicklungen, die seit der Zeit der Glossatoren eingesetzt hätten, beispielsweise im Bereich der Regelökonomie, ignoriert; er habe zudem an seiner Auffassung festhaltende Anschlusstheorien bedingt, die der Fortentwicklung des Privatrechts insgesamt nicht förderlich gewesen seien. Das zusammengetragene römische Recht habe nicht adäquat auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren können, was sich etwa bei den Lehn- und Hoheitsrechten, dem Handelsrecht der Kaufleute oder den Patent- und Urheberrechten widerspiegle. Die Pandektistik habe bedeutende Fortbildungen des römischen Rechts letztlich deshalb nicht übernommen. Die Pandektenwissenschaft selbst habe sich in der Folge schwer getan, wenn neuartige Rechtsprobleme aufgetreten seien, insbesondere auffällig bei der Behandlung der immer bedeutsamer werdenden Gebiete des Gesellschafts- und Arbeitsrechts. Letztlich sei man noch hinter das gemeine Recht zurückgefallen.[30]
Karl Marx hat Gustav von Hugo als den „Altvater“ der Historischen Rechtsschule kritisiert. Er warf ihm vor, die Vernunftkritik der bestehenden Verhältnisse zu ersetzen, indem er versuche, das Positive geradewegs durch dessen Unvernünftigkeit zu rechtfertigen.[31]
Max Weber[32] kritisiert Savigny, insoweit er vom Nationalökonomen Wilhelm Roscher zum Vorbild genommen wurde, insbesondere für die Begriffsbildung „Volksgeist“ als Hypostasierung des notwendig individuellen Charakters jedes wahrhaft volkstümlichen Rechts zu einem einheitlichen metaphysischen Wesen und Realgrund aller einzelnen Kulturäußerungen eines Volkes.
Franz Wieacker merkt kritisch an, dass die historische Schule „in System und Methode dem Vernunftzeitalter“ und „in ihrer Rechtsethik Kant verpflichtet blieb,“ weshalb sie „eine wahrhaft geschichtliche Rechtsauffassung nicht sein konnte.“[6] Die Problematik bestehe darin, dass der verwendete Volksbegriff (Volksgeist) nicht empirisch-soziologisch, sondern metaphysisch und kulturphilosophisch gebraucht würde. Damit sei die Rechtsschule selbst „Ausdruck und Mittel des Bruchs mit der Geschichte“ gewesen, „der für das 19. Jahrhundert kennzeichnend“ sei, folgerte Ernst-Wolfgang Böckenförde.[33]
Einflüsse auf die französische Rechtswissenschaft
In Frankreich wurde 1804 der Code civil (CC) erlassen, eine Kodifikation, die die Handlungsspielräume aller anderen traditionellen Rechtsquellen einengte beziehungsweise versiegen ließ. Die herausragende Errungenschaft der Aufklärung, die Lehre von der Gewaltenteilung, gab der Gesetzgebung und der Rechtsprechung klar voneinander getrennte Daseinsberechtigungen mit. Dem Richter kam eine geringe Restkompetenz zur Gestaltung von Recht noch insoweit zu, als er gemäß Art. 4 CC stets urteilen musste, dies auch dann, wenn das Gesetz zur zu entscheidenden Sache unzureichende Regelungen darbot oder gar schwieg („du silence, de l'obscurité ou de l'insuffisance de la loi“).[34] Er durfte insoweit Regeln entwickeln. Der Rechtswissenschaft andererseits war das Recht zur Rechtsfortbildung gänzlich genommen, sie war darauf verständigt worden, allein den Inhalt von Gesetzen darzustellen, diese gegebenenfalls auszulegen und die Zusammenhänge der Regeln festzustellen, nicht aber, als Rechtsquelle zu fungieren. In den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Frankreich eine schnell vorherrschende Auslegungssystematik („École de l’exégèse“), die mit den Gedanken der historischen Rechtsschule eine Gegenströmung erfuhr – bekannt geworden durch die 1819 gegründete Zeitschrift Thémis[35] – und noch darüber hinaus ging, weil sie sich mit vergleichender Rechtswissenschaft beschäftigte.[36]
Durch eine Vielzahl intereuropäischer Kontakte Savignys zu anderen rechtsgelehrten, breitete sich die historische Rechtsschule nicht nur nach Frankreich aus, sondern auch in gemeinrechtlich gebliebene Teile Italiens zur Zeit der Risorgimentobewegungen, besonders in der Toskana beziehungsweise im Kirchenstaat. Bedeutung erlangte die Lehre auch in den Niederlanden, ansatzweise sogar in Skandinavien und England.[37]
Primärliteratur
- Gustav von Hugo: Lehrbuch eines civilistischen Cursus, Band I: Lehrbuch der juristischen Encyclopädie. 1792, 8. Auflage 1835, Band II: Lehrbuch des Naturrechts. 1798, 4. Auflage 1819, Band III: Lehrbuch der Rechtsgeschichte. 1790, 11. Auflage 1832, Band IV: Lehrbuch des heutigen Römischen Rechts. 1790, 7. Auflage 1826, Band V: Philosophische Encyclopädie. 1802, Band VI: Civilistische Literärgeschichte. 1812, 3. Auflage 1830, Band VII: Chrestomathie von Beweisstellen für das heutige Römische Recht. 1802, Lehrbuch und Chrestomathie des classischen Pandecten-Rechts. 1. (einziger) Bd., 1790.
- Friedrich Carl von Savigny: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Mohr und Zimmer, Heidelberg 1814.
Literatur
- Hans-Peter Haferkamp: Die Historische Rechtsschule, Frankfurt (Main) 2018, ISBN 978-3-465-04332-4.
- Hans Hattenhauer: Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften. Vahlen, München 1973; 2. Auflage 2002, ISBN 3-8006-2783-3.
- Paul Koschaker: Europa und das römische Recht. 4. Auflage, München 1966. S. 254–290.
- Hans Schlosser: Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext. 10. Auflage. Heidelberg 2005. S. 143–169.
- Jan Schröder: Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933). 2. Auflage, Beck, München 2012, ISBN 978-3-406-63011-8.
- Jan Schröder: Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500–1850). Beck, München 2001, ISBN 978-3-406-47944-1. S. 191 ff.
- Gunter Wesener: Zu den Anfängen der Historischen Rechtsschule romanistischer Richtung in Österreich, vornehmlich zu Ludwig Arndts von Arnesberg (1803–1878), in: Grundlagen der österreichischen Rechtskultur. Festschrift für Werner Ogris zum 75. Geburtstag (Wien-Köln-Weimar 2010) S. 577–599.
- Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. 2. Auflage. Göttingen 1967. S. 348–430.
Weblinks
- Literatur von und über Historische Rechtsschule im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Hasso Hofmann: Das Zivilrecht zu Studienbeginn Radbruchs. Vom „heutigen römischen Recht“ zur Entstehung des BGB, S. 1–12.
- Thomas Rüfner: Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, 2009: Historische Rechtsschule. Abgerufen am 6. Juni 2020.
Einzelnachweise
- Friedrich Carl von Savigny: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814
- Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Beck, München 2006, ISBN 3-406-47543-4. Rn. 344. Kurzzusammenfassung danach: Hegel entwickelt das Recht als Form des „objektiven Geistes“ in drei Stufen – 1.) These, 2.) Antithese, 3.) Synthese. Stufe 1 (These): formal objektives, abstraktes Recht (wie Eigentum, Vertrag, Delikt). Dieses orientiert sich im zeitgemäßen Kontext am antiken römischen Recht. Stufe 2 (Antithese): der Volksgeist wird fromm im Christentum, das Recht wird moralisch. Aus diesem Gegeneinander entsteht ein Miteinander, 3.) Stufe 3 (Synthese): Sittlichkeit (Familie, Gesellschaft, Staat). Siehe Grundlinien der Philosophie des Rechts.
- Helmut Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen. 2., um einen „Nachtrag 1970“ erweiterte Auflage, Bertelsmann-Universitätsverlag, Düsseldorf 1971, ISBN 978-3-571-09167-7 (erste Ausgabe: Rowohlt (rowohlts deutsche enzyklopädie, Band 171/172), Reinbek bei Hamburg 1963). S. 31 ff.; 66 ff.
- Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1952, 2. Aufl. 1967. §§ 20, 21.
- Arno Buschmann: Naturrecht und geschichtliches Recht. Gustav Hugos Rechtsphilosophie und die Anfänge der geschichtlichen Rechtswissenschaft, in: Okko Behrends, Dietmar von der Pfordten, Eva Schumann, Christiane Wendehorst (Hrsg.), Elementa iuris, Schriftenreihe des Instituts für Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung, Nomos, Band 1, 2009, ISBN 978-3-8329-4473-5, S. 17–40.
- Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1952, 2. Aufl. 1967. S. 385.
- Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Beck, München 2006, ISBN 3-406-47543-4. Rn. 344.
- Mehrdad Payandeh: Judikative Rechtserzeugung. Theorie, Dogmatik und Methodik der Wirkungen von Präjudizien. Mohr Siebeck, Tübingen 2017, ISBN 978-3-16-155034-8. S. 61–65.
- Claudia Schöler: Deutsche Rechtseinheit: partikulare und nationale Gesetzgebung (1780-1866). (= Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte. Band 22.) Böhlau Verlag Köln u. a. 2004. ISBN 3-412-12503-2. S. 86 ff.
- Helmut Coing: Europäisches Privatrecht 1800–1914, München 1989. § 4, S. 16–23.
- Friedrich Carl von Savigny: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv), S. 14.
- Joachim Rückert: Die Historische Rechtsschule nach 200 Jahren – Mythos, Legende, Botschaft. In: JZ 2010, S. 1 ff. (5).
- Nachdrückliche Betonung aber, dass die Historische Rechtsschule einen rechtspositivistischen Rechtsbegriff verwende, vgl. Jan Schröder: Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500-1933). 2. Auflage, Beck, München 2012, ISBN 978-3-406-63011-8. S. 194 ff.
- Helmut Coing: Europäisches Privatrecht 1800–1914, München 1989. § 4, S. 41–46 (41 f.).
- Helmut Coing: Europäisches Privatrecht 1800–1914, München 1989. § 4, S. 41–46 (44).
- Stintzing: Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft. Herausgegeben und fortgeführt von Ernst Landsberg. Band III 2. Oldenbourg, München 1880–1910 u. Neudruck bei Scientia, Aalen 1978. 15.–20. Kapitel.
- Helmut Coing: Europäisches Privatrecht 1800–1914, München 1989. § 7, S. 49–51.
- Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv
- Deutsche Biographie: Beseler, Georg Karl Christoph
- Klaus Luig: Die Theorie der sozialethischen Werte des römischen und germanischen Rechts in der Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts bei Grimm, Stahl, Kuntze und Gierke. In: Wege europäischer Rechtsgeschichte. Festschrift Karl Kroeschell zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main u. a. 1987. S. 281.
- Neben den Romanisten, gehört dazu auch Carl Joseph Anton Mittermaier, bekennender Vertreter des germanistischen Flügels (Coing, S. 45).
- Reinhard Zimmermann: Heutiges Recht, Römisches Recht und heutiges Römisches Recht. In: Reinhard Zimmermann u. a. (Hrsg.): Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik. C.F. Müller, Heidelberg 1999, S. 1–39 (11).
- Helmut Coing: Europäisches Privatrecht 1800–1914, München 1989. § 4, S. 41–46 (45).
- Stintzing: Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft. Herausgegeben und fortgeführt von Ernst Landsberg. Band III 2. Oldenbourg, München 1880–1910 u. Neudruck bei Scientia, Aalen 1978. S. 492 ff.
- Stintzing: Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft. Herausgegeben und fortgeführt von Ernst Landsberg. Band III 2. Oldenbourg, München 1880–1910 u. Neudruck bei Scientia, Aalen 1978. S. 739 ff.
- Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen, 1951. S. 185.
- Erik Wolf: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. 1939, 4. Auflage Tübingen 1963. S. 625 f.
- H. Kantorowicz: Volksgeist und historische Rechtsschule
- Manfred Pascher: Einführung in den Neukantianismus. München 1997. UTB 1962. S. 155.
- Helmut Coing: Europäisches Privatrecht 1800–1914, München 1989. § 4, S. 41–46 (45 f.).
- Karl Marx: Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule. S. 4f. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 10000 (vgl. MEW Bd. 1, S. 79 f.): „Hugo mißdeutet den Meister Kant dahin, daß, weil wir das Wahre nicht wissen können, wir konsequenterweise das Unwahre, wenn es nur existiert, für vollgültig passieren lassen. Hugo ist ein Skeptiker gegen das notwendige Wesen der Dinge, um ein Hoffmann gegen ihre zufällige Erscheinung zu sein. Er sucht daher keineswegs zu beweisen, daß das Positive vernünftig sei; er sucht zu beweisen, daß das Positive nicht vernünftig sei. Aus allen Weltgegenden schleppt er mit selbstgefälliger Industrie Gründe herbei, um zur Evidenz zu steigern, daß keine vernünftige Notwendigkeit die positiven Institutionen, z.B. Eigentum, Staatsverfassung, Ehe etc. beseelt, daß sie sogar der Vernunft widersprechen, daß sich höchstens dafür und dagegen schwatzen lasse. Man darf diese Methode keineswegs seiner zufälligen Individualität vorwerfen; es ist vielmehr die Methode seines Prinzips, es ist die offenherzige, die naive, die rücksichtslose Methode der historischen Schule. Wenn das Positive gelten soll, weil es positiv ist, so muß ich beweisen, daß das Positive nicht gilt, weil es vernünftig ist, und wie könnte ich dies evidenter als durch den Nachweis, daß das Unvernünftige positiv und das Positive nicht vernünftig ist? daß das Positive nicht durch die Vernunft, sondern trotz der Vernunft existiert? Wäre die Vernunft der Maßstab des Positiven, so wäre das Positive nicht der Maßstab der Vernunft.“
- Max Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie 1903–06, In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 7. Aufl. 1988, UTB1492
- Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts. Schwabe, Basel, Stuttgart 1965. S. 24.
- François Laurent: Principes de droit civil français. Band I. Nr. 250 und 257.
- A. Jourdan, J. Blondeau (Hrsg.): Thémis; vgl. dazu Carl Joseph Anton Mittermaier: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes. Band 3. S. 435 ff.
- Helmut Coing: Europäisches Privatrecht 1800–1914, München 1989. § 6, S. 29–39 (31, 35 f.).
- Joël Emanuel Goudsmit: Pandecten-systeem. Leiden 1866 (Online); vgl. insoweit auch: Helmut Coing: Europäisches Privatrecht 1800–1914, München 1989. § 7, S. 55 f.