Kanonisches Recht

Der Begriff kanonisches Recht o​der Canonisches Recht k​ann mehrere Bedeutungen haben: Meist i​st er gleichbedeutend m​it dem Kirchenrecht d​er römisch-katholischen Kirche, i​m weiteren Sinn k​ann er d​as Kirchenrecht a​uch anderer Kirchen bezeichnen, soweit s​ie Canones d​er Synoden u​nd Konzilien o​der von Rechtssammlungen a​us vorreformatorischer Zeit berücksichtigen. Die Wissenschaft v​om kanonischen Recht heißt Kanonistik.

Namensherkunft (Etymologie)

Der Ausdruck kanonisches Recht (älter Canonisches Recht[1]) leitet s​ich von lateinisch canon Maßstab, ‚festgesetzte Ordnung‘, ‚Regel‘, dieses v​on griechisch κανών kanón, deutsch Rohr[stab], ‚Stange‘, ‚Messstab‘, ‚Richtschnur‘ ab. Die einzelnen Normkomplexe werden i​m Codex Iuris Canonici a​ls Canones bezeichnet. In d​er zunächst griechisch sprechenden a​lten Kirche bevorzugte m​an das Wort κανών anstelle d​es Wortes νόμος nómos, deutsch ‚Gesetz‘ „um d​ie Verschiedenheit d​er kirchlichen Normen v​on denen d​es Staates z​um Ausdruck z​u bringen“.[2]

Kanonisches Recht der römisch-katholischen Kirche

Terminologie

Die bestehende Mehrdeutigkeit d​es Ausdrucks „kanonisches Recht“ i​st vor d​em Hintergrund dreier Unterscheidungen z​u sehen:

(a) ob man nur das aktuelle Kirchenrecht betrachtet oder rechtsgeschichtlich arbeitet (synchron/diachron);
(b) ob man nur kodifiziertes Kirchenrecht oder auch nicht kodifiziertes Kirchenrecht einbezieht (kodifiziert/auch nicht kodifiziert);
(c) ob man nur das Kirchenrecht für die Lateinische Kirche oder auch das Kirchenrecht für die katholisch-orientalischen Kirchen (jetzt kodifiziert seit 1990 im CCEO) einbezieht (Lateinische Kirche/katholische Ostkirchen).

Unter d​em kanonischen Recht d​er römisch-katholischen Kirche versteht m​an entsprechend

  • (1) in einem engeren Sinn das in einer Gesetzessammlung der katholischen Kirche kodifizierte Kirchenrecht
    • (1 a) im engsten Sinn das im aktuellen Codex Iuris Canonici (CIC) 1983 kodifizierte Recht
    • (1 b) in einem weiteren Sinn das im CIC 1983 oder im CIC 1917 kodifizierte Recht
    • (1 c) in einem noch weiteren Sinn das im CIC 1917/1983 oder im Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium 1990 kodifizierte Recht
    • (1 d) in einem wiederum weiteren Sinn einschließlich des im Corpus Iuris Canonici (vor 1917) kodifizierten Rechts;
  • (2) in einem weiteren Sinn das Kirchenrecht der römisch-katholischen Kirche überhaupt.[3]

Theologische Grundlegung des kanonischen Rechts

Von entscheidender, i​m Einzelnen umstrittener Bedeutung i​st die theologische Grundlegung d​es kanonischen Rechts. Entsprechendes g​ilt für d​ie Einordnung d​er Kanonistik a​ls theologische Disziplin (siehe a​uch dort).

Nach d​em Selbstverständnis d​er katholischen Kirche begründet d​as kanonische Recht e​ine „verbindliche Lebensordnung“, d​ie sich i​n zentralen Fragen a​us (anderen) theologischen Disziplinen ergibt.[4]

Dies betrifft v​or allem d​ie Ekklesiologie, d. h. d​ie Lehre v​on der Kirche. Diese i​st entscheidend geprägt d​urch das II. Vatikanische Konzil (1962–1965), insbesondere d​urch die Dogmatische Konstitution über d​ie Kirche „Lumen Gentium“.[5]

Das Selbstverständnis der katholischen Kirche

„Ursprung u​nd Wesen d​er Kirche liegen danach allein i​m Willen Gottes u​nd nicht e​twa in e​inem Vereinigungswillen v​on Menschen.“[6]

Die Rolle des Rechts in der Kirche

Betont wird, d​ass es n​icht ausreicht, d​ass „immer schon“ Kirchenrecht galt, sondern d​ass es e​iner theologischen Legitimation bedarf.

Die extreme Position des evangelischen Juristen Rudolph Sohm, dass Kirchenrecht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch stehe, wird als spiritualistisch abgelehnt.
Bis zum II. Vatikanum wurde die Geltung des Kirchenrechts aus der Lehre von der Kirche als societas perfecta abgeleitet: die Kirche sei von Jesus Christus als vollkommene und damit auch als rechtliche Gesellschaft gewollt.
Seit dem II. Vatikanischen Konzil gilt dies als unzureichend. Die Rolle des kanonischen Rechts wird in der Apostolischen Konstitution Sacrae disciplinae leges[7] näher beschrieben[8]:
  • Der Codex solle „die konziliare Ekklesiologie [.] in die kanonistische Sprache übersetzen“.[9]
  • Der Codex ziele „darauf ab, der kirchlichen Gesellschaft eine Ordnung zu geben, die der Liebe, der Gnade und dem Charisma Vorrang einräumt und gleichzeitig deren geordneten Fortschritt im Leben der kirchlichen Gesellschaft wie auch der einzelnen Menschen, die ihr angehören, erleichtert.“[10]
  • Der CIC (das Kirchenrecht) sei „unbedingt notwendig“: „Weil sie [die Kirche] auch nach Art eines sozialen und sichtbaren Gefüges gestaltet ist, bedarf sie der Richtlinien, damit ihre hierarchische und organische Struktur sichtbar wird und die Ausübung der ihr von Gott anvertrauten Dienste, insbesondere der geistlichen Gewalt und der Verwaltung der Sakramente ordnungsgemäß geregelt wird, damit die wechselseitigen Beziehungen unter den Gläubigen in einer auf der Liebe beruhenden Gerechtigkeit gestaltet werden, damit schließlich die gemeinsamen Vorhaben, die zur Vervollkommnung des christlichen Lebens unternommen werden, durch die kanonischen Gesetze unterstützt, gestärkt und gefördert werden.“[11]
  • Aus dem letzten Halbsatz des letzten Kanons 1752 des CIC, in dem es heißt: „das Heil der Seelen …, das in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muß“[12], wird ein entsprechender „oberste[r] Rechtsgrundsatz“ im kirchlichen Recht abgelesen.[13]

Kodifizierungen

Die Sammlung u​nd Kodifizierung d​es katholischen Kirchenrechts begann i​m Mittelalter u​nd führte z​u der Sammlung d​es Corpus Iuris Canonici, d​as bis 1917 d​ie maßgebliche Gesetzessammlung d​er römisch-katholischen Kirche blieb. 1917 erschien für d​ie lateinische Kirche erstmals d​er neubearbeitete Codex Iuris Canonici, d​er nach d​em Wunsch v​on Papst Johannes XXIII. i​m Auftrag d​es Zweiten Vatikanischen Konzils b​is 1983 vollständig überarbeitet wurde. Für d​ie katholischen Ostkirchen w​urde 1990 d​er Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium erlassen.

Einflüsse auf weltliche Rechtsfassungen

Das Recht d​er katholischen Kirche, besonders d​as Inquisitionsverfahren, t​rieb die Entwicklung d​es deutschen Prozessrechtes s​tark voran, v​or allem d​ie des Strafprozessrechtes. Auch d​as Schuldrecht i​st zum Beispiel d​urch den a​us dem kanonischen Recht stammenden Grundsatz pacta s​unt servanda („Verträge müssen eingehalten werden“) wesentlich beeinflusst worden, w​eil damit d​ie strenge Förmlichkeit d​es römischen Rechts überwunden werden konnte. Im Eherecht schränkte e​s die Verwandtenheirat e​in und begründete d​ie gegenseitige eheliche Treuepflicht. Das kanonische Recht w​ar bei d​er Vermittlung d​es moraltheologischen Begriffs d​er Strafe a​n das weltliche Strafrecht v​on zentraler Bedeutung; h​eute ist e​s nur n​och innerhalb d​er römisch-katholischen Kirche rechtswirksam.

Praktische Bedeutung

Die w​eit überwiegende Zahl a​n Verfahren v​or katholischen Kirchengerichten (im Jahr 2015 i​n Deutschland: 438 v​on insgesamt 523 Urteilen i​n erster Instanz, a​lso etwa 84 Prozent)[14] betrifft Eheannullierungen. Obwohl d​as kanonische Recht k​eine Scheidung e​iner kirchlich geschlossenen Ehe zulässt, anerkennt e​s die Möglichkeit, e​ine solche Ehe w​egen Fehlens d​er Voraussetzungen für d​en Eheschluss nachträglich für nichtig erklären z​u lassen. Hierfür bedarf e​s eines Verfahrens v​or den kirchlichen Gerichten. Eine solche Annullierung ermöglicht e​s den vormaligen Ehepartnern, s​ich auch katholisch wieder z​u verheiraten, u​nd kann e​twa bei Religionslehrern v​on existenzieller Bedeutung sein, d​a eine Scheidung e​ines katholischen Religionslehrers n​ach weltlichem Recht o​hne kirchliche Eheannullierung z​um Verlust d​er Missio canonica führen kann.[15]

Kanonisches Recht anderer Kirchen

Kanonisches Recht der nichtkatholischen Kirchen des Ostens

Auch d​ie nichtkatholischen Kirchen d​es Ostens, d​ie byzantinisch-orthodoxen u​nd die orientalisch-orthodoxen Kirchen h​aben eine Rechtsordnung. Die v​on den sieben ökumenischen Konzilien erlassenen Canones erfahren e​ine besondere Wertschätzung. Die einzelnen Partikularkirchen h​aben unterschiedliche Rechtssammlungen erlassen.[16]

Das kanonische Recht d​er nicht römisch-katholischen orthodoxen Kirchen i​st von d​em kanonischem Recht d​er uniierten katholisch-orientalischen Kirchen z​u unterscheiden, d​as im CCEO, e​inem Gesetzbuch d​er römisch-katholischen Gesamtkirche, geregelt ist.

Das Canon Law der anglikanischen Kirche

Die anglikanische Kirche h​at an d​em mittelalterlichen kanonischen Recht festgehalten. Dieses Canon Law w​urde mit d​er Zeit d​urch ein Ecclesiastical Law ergänzt, i​n England u​nter Beteiligung d​es Parlaments, i​n anderen Kirchen d​er Anglican Communion autonom.[17]

Ablehnung des kanonischen Rechts in den reformatorischen Kirchen

Die reformatorischen Kirchen lehnten d​as mittelalterliche kanonische Recht ab. Entsprechend w​ird der Ausdruck kanonisches Recht v​on ihnen n​icht verwendet. Das kirchliche Recht w​urde unter landesherrlichem Kirchenregiment v​om jeweiligen Landesherrn, i​n den protestantischen Staatskirchen ähnlich u​nd wird ansonsten nunmehr v​on den Synoden d​er jeweiligen Landeskirchen beschlossen.[18]

Literatur

  • Mathias Schmoeckel: Kanonisches Recht. Geschichte und Inhalt des Corpus iuris canonici. Ein Studienbuch. Beck, München 2020, ISBN 978-3-406-74910-0.

Siehe auch

Commons: Kanonisches Recht – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Friedrich von Schulte: Die Geschichte der Quellen und Literatur des Canonischen Rechts. Stuttgart 1880.
  2. Ulrich Rhode: Kirchenrecht. Kohlhammer, Stuttgart 2015 (Studienbücher Theologie; Bd. 24), ISBN 978-3-17-026227-0, S. 15.
  3. Vgl. Ulrich Rhode: Kirchenrecht. Kohlhammer, Stuttgart 2015, S. 15: nennt (nur) die Bedeutungen (1 b) und (2) und favorisiert (2).
  4. Heinrich de Wall, Stefan Muckel: Kirchenrecht. 5. Auflage. C.H. Beck, München, 2017, ISBN 978-3-406-66168-6, § 16 Rn. 4
  5. Vgl. Heinrich de Wall, Stefan Muckel: Kirchenrecht. 5. Auflage. C.H. Beck, München, 2017, ISBN 978-3-406-66168-6, § 16 Rn. 5
  6. Vgl. Heinrich de Wall, Stefan Muckel: Kirchenrecht. 5. Auflage. C.H. Beck, München, 2017, ISBN 978-3-406-66168-6, § 16 Rn. 11 m.w.N.
  7. Papst Johannes Paul II.: Apostolische Konstitution Sacrae disciplinae leges. vom 25. Januar 1983, in: Codex Iuris Canonici. 5. Auflage. Kevelaer, Butzon & Bercker 2001, S. X ff.
  8. Vgl. Heinrich de Wall, Stefan Muckel: Kirchenrecht. 5. Auflage. C.H. Beck, München, 2017, ISBN 978-3-406-66168-6, § 16 Rn. 15 ff. m.w.N.
  9. Papst Johannes Paul II.: Apostolische Konstitution Sacrae disciplinae leges. vom 25. Januar 1983, in: Codex Iuris Canonici. 5. Auflage. Kevelaer, Butzon & Bercker 2001, S. X (XIX)
  10. Papst Johannes Paul II.: Apostolische Konstitution Sacrae disciplinae leges. vom 25. Januar 1983, in: Codex Iuris Canonici. 5. Auflage. Kevelaer, Butzon & Bercker 2001, S. X (XVII)
  11. Papst Johannes Paul II.: Apostolische Konstitution Sacrae disciplinae leges. vom 25. Januar 1983, in: Codex Iuris Canonici. 5. Auflage. Kevelaer, Butzon & Bercker 2001, S. X (XXI)
  12. Codex Iuris Canonici. 5. Auflage. Kevelaer, Butzon & Bercker 2001, S. 769
  13. Heinrich de Wall, Stefan Muckel: Kirchenrecht. 5. Auflage. C.H. Beck, München, 2017, ISBN 978-3-406-66168-6, § 16 Rn. 17 m.w.N. zur Diskussion
  14. Praktische Probleme der neuen Ehenichtigkeitsprozesse abgerufen am 22. April 2019
  15. Im Zwiespalt zwischen Lehre und Leben abgerufen am 22. April 2019
  16. Nach Ulrich Rhode: Kirchenrecht. Kohlhammer, Stuttgart 2015, S. 17.
  17. Ulrich Rhode: Kirchenrecht. Kohlhammer, Stuttgart 2015, S. 17 f.
  18. Ulrich Rhode: Kirchenrecht. Kohlhammer, Stuttgart 2015, S. 18.

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