Harmonium
Das Harmonium (Plural Harmonien [Betonung auf dem o] oder Harmoniums[1]) ist ein Tasteninstrument, bei dem der Ton durch verschieden lange Durchschlagzungen erzeugt wird, die von Luft umströmt in Schwingung versetzt werden. Damit gehört das Harmonium zu den Aerophonen. Ein ähnliches System der Tonerzeugung haben z. B. das Akkordeon oder die Mundharmonika.
Harmonium | |
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engl.: reed organ, harmonium / franz.: harmonium | |
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Klassifikation | Aerophon |
Verwandte Instrumente |
Im Gegensatz zu den Pfeifen der Orgel produzieren die Zungen des Harmoniums mehr unharmonische Obertöne, wodurch ein weniger reiner Klang entsteht. Diesen versuchte man besonders beim Saugwindharmonium durch enge Kanzellen abzudämpfen, wodurch das Saugwindharmonium einen weichen, summenden, teilweise orgelartigen Klang erhält. Dagegen ist das Druckwindharmonium kräftiger und schärfer im Ton und in der Klangfarbe mit einem guten Akkordeon vergleichbar.
Bauweise und Technik
Grob lassen sich zwei Systeme beim Harmonium unterscheiden: das französische System (Druckwindharmonium) und das amerikanische System (Saugwindharmonium).
Bei beiden Systemen wird das Gebläse mit den Füßen durch abwechselndes Niedertreten zweier nebeneinander liegender sogenannter Tretschemel (auch: Schöpfpedale) betätigt.
Beim französischen System betätigen die Schemel Blasebälge, die Schöpfbälge, die direkt oder über den Kanal einen Druckspeicher, das Windmagazin, aufpumpen. Das Windmagazin (Magazinbalg) steht mit der Windlade, einem luftdichten Holzkasten, in Verbindung, deren oberer Deckel das Zungenbrett bildet, an dessen Löchern die auf Metallplatten befestigten Zungen liegen. Die Spielventile oder Tonventile verschließen die Löcher im Zungenbrett und stehen mit den Tasten des Manuals in mechanischer Verbindung, mit denen sie geöffnet werden können. Durch den in der Windlade entstandenen Überdruck strömt die Luft nach außen, muss dabei an den Zungen vorbei und versetzt diese in Schwingung, was den Ton erzeugt. Der Magazinbalg kann durch ein Register (Expression) abgeschaltet werden, so dass der Spieler über die Schöpfbälge die Lautstärke des Tones (crescendo/decrescendo) direkt beeinflussen kann.
Das amerikanische System funktioniert entgegengesetzt: Mit Hilfe der Schöpfbälge wird Luft aus dem Windmagazin und der Windlade herausgepumpt, also ein Unterdruck erzeugt. Öffnet man jetzt ein Tonventil, strömt Luft ein und versetzt die Zungen in Schwingung.
Sowohl beim französischen als auch beim amerikanischen System sind die Zungen freischwingend in einem Metallrahmen befestigt. Während beim französischen System eine ganze Reihe von Zungen auf einer Platte befestigt sein können, liegen beim amerikanischen System die Zungen in einzelnen Kanzellen. Diese Bauweise erleichtert die Reinigung der Zungen, die beim Saugluftsystem eher verstauben. Weltweit und anzahlmäßig durchgesetzt hat sich nur das einfacher zu produzierende amerikanische System: Auch in Deutschland waren die meisten seit Ende des 19. Jahrhunderts angefertigten Harmonien Saugwind-Instrumente.
Eine besondere Rolle spielt das Kunstharmonium. Bei diesen Instrumenten wurden in Deutschland und Frankreich vor allem die Druckwindsysteme verwendet. Das Kunstharmonium erfüllt gehobene künstlerische Ansprüche. Für dieses Instrument komponierten u. a. César Franck, Sigfrid Karg-Elert, Max Reger, August Reinhard. Karg-Elert war es auch, der in seiner Harmoniumschule, op. 99, den Begriff Harmonist für Virtuosen auf dem Harmonium einführte.
Register
Pro Taste können eine oder mehrere Zungen vorhanden sein, daraus ergeben sich ggf. verschiedene mögliche Klangfarben. Wie bei einer Orgel können Register einzeln oder gemeinsam gezogen werden und auch Spielhilfen wie Oktavkoppeln sind vorhanden.
Register kommen vom 32′ bis zum 2′ vor. Der 32′ (eingeführt von Mustel mit dem Namen Baryton) begegnet allerdings nur als Diskantregister. Bei wenigen Instrumenten, deren Klaviaturen mit F beginnen, repetieren 16′-Register nicht in der untersten Oktave (wie bei der Mehrzahl der Instrumente), sondern sind bis zum F der 32′-Lage ausgebaut (Mason & Hamlin, Liszt-Organ, F-Scale, Estey, Philharmonic, Cornish & Co., Modell Corniscean, Karn, 6-oktavige Modelle, Kotykiewicz, Konzertharmonium Nr. 20). Bei wenigen Pedalharmoniums ist ein 32′ als Pedalregister vorhanden (Mason & Hamlin Style 1200, Instrumente von John Holt und von Balthasar Florence). Der 2′ repetiert zumeist in der obersten Oktave, nur selten ist er komplett ausgebaut (z. B. die legendäre „Waldflöte“ von Mannborg). In von der Orgelbewegung beeinflussten und als Orgelersatz ausgelegten Instrumenten kommen teils auch Aliquotregister (1 1⁄3′, 2 2⁄3′) oder Mixturen vor.
Bezeichnungen
Im englischen Sprachgebrauch heißt das Saugwind-Harmonium (also das Harmonium des „amerikanischen Systems“) für gewöhnlich „reed organ“ (auch „pump organ“ oder „parlor organ“), während sich der Name „harmonium“ im Englischen normalerweise speziell auf (die im englischsprachigen Bereich seltenen) Druckwind-Harmonien bezieht. In Frankreich und Deutschland wird der Name „Harmonium“ für beide Systeme verwendet.
Es gibt eigene Bezeichnungen für Harmonien mit speziellen Eigenschaften, wie zum Beispiel beim Reinharmonium mit zwei Manualen oder beim Orthotonophonium mit 72 oder 53 Tönen pro Oktave.
Blasinstrumente mit Tastatur, bei denen Zungen angeblasen werden, sind zum Beispiel die Melodica, die Harmonetta, die Triola oder das Couesnophon.
Aufbau
Das Harmonium besteht aus folgenden Hauptbestandteilen: dem Gehäuse, welches als tragendes Element fungiert, dem Spielwerk und dem Gebläse. Prinzipiell sind alle Harmonien nach dem gleichen Schema aufgebaut: In der Mitte des Gehäuses sitzt vertikal eine stabile Grundplatte. Darauf ist oben das Spielwerk und darüber die Registriereinrichtung montiert. Unterhalb der Grundplatte befinden sich die Bälge.
- Grundplatte für Spielwerk. Sichtbar sind die Öffnungen zu der Balganlage
- Montiertes Spielwerk mit Tastatur. Sichtbar sind unterhalb der Tasten die befilzten Klappen, die eine Registrierung (Klangwahl) ermöglichen
- Aufbau mit Spielwerk und Registriereinrichtung
Geschichte
Hauptbeitrag → Geschichte der durchschlagenden Zunge
Vorläufer und Entstehung
Christian Gottlieb Kratzenstein entwickelte 1780 als erster Europäer durchschlagende Zungenpfeifen,[2] wohl nach chinesischen Vorbildern. Noch vor 1800 entstanden erste Tasteninstrumente wie Pianofortes und Orgeln, die derartige Rohrwerke verwendeten. Abbé Vogler ließ nach 1786 beginnend in Petersburg, München, Paris, Wien, Prag und in Dutzenden andern Städten viele Orgeln auf seine Kosten umbauen[3]. 1796 trat er mit seiner umgebauten transportablen Orgel, die er Orchestrion nannte, in Stockholm das erste Mal auf.[4] Der Sankt Petersburger Orgelbauer Kirschnigk baute um 1788 „freischwingende Pfeifen“ (d. h. Durchschlagzungen) in ein Orgelklavier (Kombination aus Hammerklavier und Orgel) ein. Vogler spornte alle Orgelbauer an, Neuerungen umzusetzen. Wahrscheinlich ging auch eine Inspiration vom Sheng aus, das damals von einem Künstler mit dem Namen Johann Wilde in St. Petersburg gespielt wurde.
Die direkten Vorläufer des Harmoniums sind allerdings die Instrumente mit Namen Aeoline und Physharmonika. Bei beiden handelte es sich um Instrumente mit zwei Schöpfpedalen, einer Tastatur von vier bis fünf Oktaven Umfang und in der Regel nur einer Reihe durchschlagender Zungen. Die Aeoline wurde um 1810 von Bernhard Eschenbach zusammen mit seinem Cousin Johann Caspar Schlimbach entwickelt, die sich von der Maultrommel anregen ließen. Zur gleichen Zeit, um 1810, schuf der französische Orgelbauer Gabriel Joseph Grenié (1756–1837) seine orgue expressif. Die Bezeichnung „expressiv“ (= ausdrucksvoll) spielt darauf an, dass man bei diesem Instrument die Lautstärke durch die Windgebung beeinflussen konnte.
In den USA baute der Orgelbauer Ebenezer Goodrich nach 1812 das erste harmoniumartige Durchschlagzungen-Instrument, angeregt durch seinen Kontakt mit Johann Nepomuk Mälzel.
“In June 1811 a curiose instrument called a Pan Harmonicon was brought to Boston. It was invented by Maelzel, whose name is usually linked with the Metronome. William Goodrich was employed to set up and exhibit the Pan Harmonicon in New York and other cities. He […] traveled with the instrument from September 1811 until June 1812.”
„Im Juni 1811 wurde ein eigenartiges Instrument mit dem Namen Pan-Harmonicon nach Boston gebracht. Sein Erfinder war Maelzel, der normalerweise mit dem Metronom in Verbindung gebracht wird. William Goodrich wurde von ihm beauftragt, das Pan-Harmonicon aufzustellen und in New York und andern Städten vorzuführen. Er […] reiste mit dem Instrument von September 1811 bis Juni 1812.“
Die Physharmonika wurde 1821 in Wien von Anton Haeckl patentiert.
Greniés Landsmann, der bedeutende französische Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll (1811–1899) schuf um 1833 ein harmoniumartiges Instrument für den kammermusikalischen Gebrauch, die sogenannte „Poikilorgue“ (von altgriech. ποικίλος (poikílos) „mannigfaltig, vielgestaltig“, der Name bedeutet also so viel wie „Orgel mit mannigfaltigen dynamischen Möglichkeiten“).[6] Alle wesentlichen Merkmale des heutigen Harmoniums finden sich schließlich in einem Instrument vereint, das der französische Orgelbauer Alexandre-François Debain (1809–1877) 1842 unter dem Namen Harmonium patentieren ließ, womit diese Bezeichnung das erste Mal erscheint.
Debains Harmonium war ein Druckwindinstrument, welche bis in die 1870er-Jahre die Harmoniumlandschaft dominierten. Das einfachere Saugwind-System war bereits 1836 von dem Berliner Physharmonika-Bauer Christian Friedrich Ludwig Buschmann erfunden worden, hatte sich jedoch zunächst in Europa nicht durchsetzen können. In den USA wurde seit den 1860er-Jahren die Entwicklung des Saugwindsystems vorangetrieben; als Erfinder der Saugwindbälge gilt dort James Cahart. Die amerikanische Firma Mason & Hamlin stellte 1861 ihr erstes Saugwindinstrument vor und gewann 1867 bei der Weltausstellung in Paris den ersten Preis mit einem solchen Instrument. Damit begann der weltweite Siegeszug der Saugwind-Harmonien.
Seit ca. 1860 wurden auch ein- und zweimanualige Harmonien mit Orgelpedal produziert und als Pedalharmonium (auch: Orgelharmonium) bezeichnet. Sie wurden vor allem als Orgelersatz in Sakralräumen oder als häusliches Übungsinstrument für Organisten verwendet. Später (nach 1900), mit dem Siegeszug der elektrischen Stromversorgung, erhielten vor allem diese Pedalharmonien elektrische Gebläse, da man nur schlecht gleichzeitig mit den Füßen die Tretschemel betätigen und Orgelpedal spielen kann; dafür entfiel jedoch dann die Möglichkeit, den Winddruck durch die Geschwindigkeit des Schemeltretens nuancieren zu können.
Blütezeit und Nachleben
Eine Blüte erlebte das Harmonium gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als es als eine Art Heimorgel und Hausinstrument des bürgerlichen Mittelstands, als Ersatz für Pfeifenorgeln in kleineren Kirchen, aber auch als veritables Konzertinstrument entdeckt wurde. Auch „Salonorchester“ nutzten regelmäßig das Harmonium. In der westlichen Welt wurden zeitweise (um 1900) doppelt so viele Harmonien wie Klaviere verkauft.
Auch in religiösen Versammlungen spielte das Harmonium eine Rolle (beispielsweise im Pietismus), weil es dem Klang der Orgel nahekam, aber billiger war und auch in kleineren Räumen aufgestellt werden konnte. In manchen pietistischen Gruppierungen ist der vom Harmonium begleitete Gesang religiöser Lieder geradezu zu einem Charakteristikum geworden, was zu der scherzhaft-abfälligen Bezeichnung „Halleluja-Pumpe“ führte. In Deutschland wurde das Harmonium ebenfalls vor allem in kleineren Kirchen oder Kapellen beider christlicher Konfessionen verwendet, wenn der Platz und/oder die finanziellen Mittel für eine Pfeifenorgel nicht ausreichten.
Zur Benutzung in Feldgottesdiensten im Ersten Weltkrieg wurden kleine, robuste und vor allem leichte Kriegsharmonien gebaut.[7]
Von den deutschen Harmoniumbau-Firmen sind insgesamt deutlich über eine halbe Million Instrumente hergestellt worden. Die wichtigsten deutschen Harmoniumproduzenten waren folgende Firmen (sortiert nach Gründungsdatum): Pianofortefabrik Schiedmayer in Stuttgart, gegründet 1853, produzierte bis in die 1950er-Jahre auch zahlreiche Harmonien; Philipp Trayser in Stuttgart, gegründet 1853, aufgelöst 1906; Firma Ernst Hinkel in Ulm, gegründet 1880, Harmoniumproduktion bis ca. 1975; Firma Theodor Mannborg in Leipzig, gegründet 1889, 1961 mit der Firma Lindholm vereinigt; Firma Hörügel in Leipzig, gegründet 1893, erloschen 1952; Firma Magnus Hofberg in Borna, gegründet 1894, 1930 von Firma Lindholm übernommen; Firma Olof Lindholm in Borna, gegründet 1894, Harmoniumproduktion 1990 eingestellt, aber heute noch Reparatur von Harmonien; Firma Bongardt in Wuppertal, gegründet 1897, Tochterfirma Bongardt & Herfurth in Wiehe gegründet 1920, aufgelöst 1991. In Österreich befand sich in Wien die Firma von Teofil Kotykiewicz, die ausnahmslos Druckwindinstrumente herstellte.
Zu einem aus der Not geborenen Aufleben des Harmoniums kam es in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als aufgrund der zerstörten Kirchen eine Vielzahl von Gemeinden auf das Harmonium zurückgriff, um die musikalische Begleitung des Gemeindegesanges zu gewährleisten. Meist galt das Harmonium aber nur als Notbehelf und wurde so bald wie möglich durch eine „richtige“ Orgel ersetzt.
Mitte der 1950er-Jahre begannen die Mundharmonikahersteller Hohner und Koestler damit, kleine elektrifizierte Harmoniumvarianten unter Bezeichnungen wie Organetta oder Harmophon in ihre Produktpaletten aufzunehmen; in der DDR wurden ähnliche Instrumente unter dem Namen „Harmona“ bis in die 1970er-Jahre in Klingenthal produziert.
Mit dem Aufkommen elektronischer Klangerzeugung und spätestens seit der Verbreitung der elektronischen Orgeln ist das Harmonium aus dem Musikleben weitgehend verdrängt. Dazu haben sicherlich in erster Linie die vielfältigeren Klangmöglichkeiten der elektronischen Instrumente beigetragen. Sucht man beim Harmonium selbst nach Ursachen, lässt sich an das oft relativ laute Geräusch denken, das beim Treten des Gebläses entsteht, auch der Klang abgenutzter und ungepflegter Harmonien ist keine Werbung für das Instrument. Ein anderer Grund dürfte sein, dass vor allem die tiefen Zungen im Bassbereich relativ lange brauchen, um einzuschwingen, und daher in ihrer Ansprache leicht verzögert sind. Diesem Nachteil ist man aber bei Druckwindharmonien damit begegnet, dass häufig ein sogenanntes „Perkussionsregister“ eingebaut wurde, das mit kleinen Hämmerchen, die auf die Zungen schlagen, diese präzise zum Erklingen bringt (bei Saugwindharmonien war der Einbau von Perkussionsregistern jedoch zu aufwendig).
Auf dem Antiquitätenmarkt sind Harmonien wegen ihrer weiten Verbreitung und der großen seinerzeit produzierten Stückzahl noch häufig anzutreffen. Da es jedoch heute nicht besonders gefragte Instrumente sind, haben sie meist keinen großen Handelswert, zumal eine fachgerechte Restaurierung beschädigter oder auch nur abgenutzter Stücke meist recht aufwendig und damit teuer ist. Allerdings besitzen viele Instrumente aufwendig gearbeitete Gehäuse im Stil des Historismus oder des Jugendstils, so dass sie sehr dekorativ sind.
In der Populärmusik des 20. Jahrhunderts hat das Harmonium nur vereinzelt Gebrauch gefunden. Am intensivsten genutzt wurde es durch die deutsche Sängerin Nico, deren Hauptinstrument das Harmonium war, aber auch jüngere Bands wie Kaizers Orchestra verwenden es. Zudem erlebte das Harmonium nach der Jahrtausendwende zumindest in Fachkreisen eine gewisse Renaissance.
Das Harmonium in Indien
Das Harmonium (je nach Region baja oder peti genannt) ist aus der indischen Musik heute nicht mehr wegzudenken. Ursprünglich brachten es englische Missionare nach Indien, die damit als Orgelersatz über Land zogen. Daher rührt der Name „Missionarsorgel“. Alexandre Debains Modell von 1842 mit Fußbetrieb wurde zunächst hauptsächlich von Missionaren in Indien verbreitet. 1875 entwickelte der Instrumentenbauer Dwarkanath Ghose in Calcutta daraus ein Harmonium mit Handbetrieb, das für die indischen Bedürfnisse besser geeignet war und von einem am Boden sitzenden Musiker bedient wird. In den folgenden Jahrzehnten verschwand allmählich das europäische Harmonium vom indischen Markt und Dwarkanaths Harmonium wurde zum Standardmodell für Indien. Bis 1913 hatte sich Indien zum weltgrößten Produzenten für Harmonien entwickelt. Im Prinzip ist das indische Harmonium ein halbes Akkordeon, dessen Blasebalg mit einer Hand bedient wird, während die freie Hand die Melodie spielt. Seine einfache Handhabung hat es nicht nur zu einem populären Instrument in der volkstümlichen und der religiösen Musik aller Religionsgemeinschaften Indiens gemacht, sondern ihm auch einen festen Platz als Gesangsbegleitung in gewissen Genres der klassischen und halbklassischen nordindischen Musik wie Khyal und Thumri verschafft. Dort hat das Harmonium die Rolle der Streichlaute Sarangi übernommen. Dies trotz aller Einwände, die gegen das Harmonium vorgebracht wurden: Besonders Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Unterschiede zwischen indischer und westlicher Musik als unüberwindbar galten, gehörte das Harmonium zu den fremden, also unindischen Instrumenten. Ein zweiter Einwand ist, dass das Harmonium keine sanften Übergänge durch Zwischentöne spielen kann. Die Spieler arbeiten dieser, bei der korrekten Aufführung von Ragas hinderlichen Beschränkung durch das Auslassen bestimmter Raganoten und feine ornamentale Verzierungen der Melodie entgegen. Der dritte Einwand, das Harmonium sei für die indische Musik falsch gestimmt, konnte durch entsprechende Anpassungen weitgehend entkräftet werden.[8]
Das Harmonium in der Volksmusik
Als Instrument zur Interpretation traditioneller Musik hat sich das Harmonium kaum durchsetzen können. In manchen Regionen der britischen Inseln war es im 19. Jahrhundert üblich, Volksweisen damit zu begleiten. In Schweden hält sich diese Praxis bis heute, inspirierte sogar einige moderne Folkbands, es in ihr Instrumentarium aufzunehmen (z. B. Triakel). Als Begleitinstrument zur Geige für traditionelle keltische Tanzmusik wird es gelegentlich immer noch in einigen Gegenden der kanadischen Atlantikküste verwendet (Prince Edward Island, Traditionelle Musik auf Cape Breton-Island). Auch in der Musik der Mittelalterszene beginnt es sich zu verbreiten, wie beispielsweise bei den Gruppen Faun aus Deutschland und Sandragon aus England.
Harmonium-Museen
Harmoniummuseen gibt es[9]
- in Liestal (Kanton Basel-Landschaft, Schweiz)
- im Veenpark Barger Compascuum (Provinz Drenthe, Niederlande)
- in Schelle (Provinz Antwerpen, Belgien)
- in Brattleboro (Vermont, USA)
- in Woodville (Region Manawatu-Wanganui, Neuseeland).
Ferner befindet sich in der Kirche „St. Spiritus“ in Groß Germersleben eine Sammlung von 64 Harmonien aus verschiedenen Epochen.[10]
Siehe auch
Literatur
- L. Hartmann (Hrsg.): Das Harmonium. umfassend die Geschichte, das Wesen, den Bau und die Behandlung des Druck- und Saugwindharmoniums nebst einer Abhandlung über das Harmoniumspiel. Bernh. Friedr. Voigt (Staatliches Institut für Musikforschung), Leipzig 1913, mpiwg-berlin.mpg.de
- Christian Ahrens, Gregor Klinke: Das Harmonium in Deutschland. Bau, wirtschaftliche Bedeutung und musikalische Nutzung. Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-923639-48-1.
- Martin Geisz: Kulturerbe Harmonium. Berlin 2015, ISBN 978-3-865739599
- Martin Geisz: Musik im Gottesdienst „Pour orgue ou harmonium“. Berlin 2015, ISBN 978-3-7375-1766-9.
- Martin Geisz: Harmonium – ein Instrument in Missionsstationen. Ein kurzer Seitenblick in die Missionsgeschichte zwischen Kolonialisierung, missionarischer Verkündigung und Inkulturation. Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2018, ISBN 978-3-96138-046-6
- Klaus Gernhard, Hubert Henkel: Orgelinstrumente – Harmoniums. Breitkopf & Härtel, 1984, ISBN 3-7651-0201-6.
- Georg Kinsky: Musikhistorisches Museum von Wilhelm Heyer in Cöln Kleiner Katalog der Sammlung alter Musikinstrumente. Leipzig 1913, Textarchiv – Internet Archive [allgemeine Informationen zur Geschichte des Harmonium mit Katalogteil]
- Robert F. Gellerman: The American Reed Organ and the Harmonium: A Treatise on its History, Restoration and Tuning, with descriptions of some outstanding Collections, including a Stop dictionary and a directory of Reed Organs. 2. Auflage. New York 1997, ISBN 1-879511-12-6.
- Gero Christian Vehlow: Studien zur Geschichte der Musik für Harmonium. Köln 1998, ISBN 3-7649-2635-X.
Weblinks
- Ulrich Averesch: Grundwissen zum Harmonium. (pdf, 642 kB) In: harmoniumservice.de. 20. März 2010 .
- Martin Geisz: Kulturerbe Harmonium. In: weltkulturerbe-info.de. 16. Februar 2018 .
- ROS Database Search. Reed Organ Society (englisch, u. a. Harmoniumhersteller).
- Klaus Langer: Einblick. Restaurierung: Harmonium von Schürer (1960). In: harmonium-werkstatt.de. September 2009 .
- Ulrich Averesch: Harmoniummusik muß man hören, um das Harmonium zu verstehen. In: harmoniumservice.de. 24. März 2013 (Klangbeispiele, Einspielungen von Ryoko Morooka).
- Martin Geisz: Harmonium – Instrumente in Synagogen – Musik für Harmonium in Synagogen. (pdf, 1,7 MB) In: harmonium.gdo.de. 10. November 2015 .
- Ralf Bei der Kellen: Geliebt und verwünscht – Das Harmonium und der indische Hinduismus. In: Deutschlandfunk-Kultur-Sendung „Religionen“. 29. Oktober 2017 .
- Ralf Bei der Kellen: „Jener Fluch der indischen Musik“ – Harmonium und Hinduismus. (mp3-Audio, 6,1 MB, 6:37 Minuten) In: Deutschlandfunk-Kultur-Sendung „Religionen“. 6. Februar 2020 .
Einzelnachweise
- Harmonium, das. In: Duden. Abgerufen am 9. Februar 2020.
- Robert Willis: Über Vocaltöne und Zungenpfeifen. In: Annalen der Physik und Chemie, Band 3, 1832, S. 397–437, hier S. 402.
- Robert Eitner: Vogler, Georg Joseph. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 40, Duncker & Humblot, Leipzig 1896, S. 169–177.
- Waldo Selden Pratt: The History of Music. New York 1927, § 149, S. 354.
- Orpha Caroline Ochse: The History of the Organ in the United States. Indiana University Press, Bloomington / London 1975, S. 77, books.google.at
- Cécile und Emmanuel Cavaillé-Coll: Aristide Cavaillé-Coll. Seine Herkunft, sein Leben, sein Werk. Deutsche Übersetzung von Christoph Glatter-Götz. Schwarzach 1982, S. 26.
- Christian Walf: Kriegsharmoium: Ein Instrument für Frontmusik. (pdf, 2,1 MB) In: Ludwigsburger Kreiszeitung. 24. Juni 2014, abgerufen am 9. Februar 2020 (wiedergegeben auf garnisonmuseum-ludwigsburg.de).
- Matt Rahaim: That Ban(e) of Indian Music: Hearing Politics in The Harmonium. In: The Journal of Asian Studies, Vol. 70, No. 3, August 2011, S. 657–682, hier S. 658 f.
- Arbeitskreis Harmonium der Gesellschaft der Orgelfreunde: Harmonium-Museen. 8. Dezember 2018, abgerufen am 9. Februar 2020.
- Claudia Crodel: Ein Hoch auf das Harmonium. In Glaube und Heimat vom 3. Oktober 2021, S. 8