Ukrainische Literatur
Die ukrainische Literatur umfasst diejenigen literarischen Werke, die in ukrainischer Sprache geschrieben sind. Sie entwickelte sich seit Ende des 18. Jahrhundert überwiegend unter fremder Herrschaft in Polen-Litauen, im Russischen Zarenreich, in Österreich-Ungarn sowie in der Sowjetunion.
Vorgeschichte: Altostslawische Literatur bis 18. Jahrhundert auf dem Boden der heutigen Ukraine
Bereits seit dem 11. Jahrhundert entstanden auf dem Gebiet der Kiewer Rus Chroniken und Heldenepen wie das Igorlied, das mit dem Nibelungenlied verglichen werden kann. Im Wesentlichen bilden sich jedoch erst nach dem Niedergang des Kiewer Reiches im 13. Jahrhundert getrennte Literaturen in russischer, weißrussischer und ukrainischer Sprache heraus. Mit dem „Evangelium von Peresopnycja“ (1556–1561) entstand eine volkstümliche Bibelübersetzung in ukrainisch-weißrussischem Dialekt.
Im Großfürstentum Litauen wurde im 17. Jahrhundert neben dem Polnischen und Litauischen im Süden das Weißrussisch-Ukrainische als Verkehrssprache verwendet, doch die kulturelle und politische Elite polonisierte sich. Die Schulen wurden von kirchlichen Laienbruderschaften geleitet, die die Volksbildung stärker förderten als dies die orthodoxen Priester getan hatten. Mit dem kulturellen (Wieder-)Aufstieg Kiews bildete sich eine ukrainische Barockliteratur heraus, die an den Hof und an die katholische Kirche, namentlich an die jesuitische Scholastik gebunden war. Wichtigster Vertreter war der Philosoph und Dichter Grigorij Skoworoda. Ende des 17. Jahrhunderts wurde dieser Einfluss durch das Kirchenslawische wieder zurückgedrängt. Das Schrifttum jener Zeit umfasste vor allem theologisch-propagandistische Traktate. Eine fest Sprachnorm gab es nicht.[1]
Zar Peter der Große und seine Nachfolger banden die östliche Ukraine und ihre Adelselite enger an Russland und unterdrückten die Verwendung der ukrainischen Sprache, während die Westukraine 1793 von Österreich annektiert wurde.
19. Jahrhundert – Ukrainische Romantik und Realismus
Mit der Entwicklung einer rein ukrainischen Schriftsprache (im Gegensatz zum bis dahin geschriebenen Kirchenslawischen und zum nicht spezifisch ukrainischen Ruthenischen) entstand eine eigenständige ukrainische Literatur vergleichsweise spät. Wegbereiter der ukrainischen Dichtung war der Theaterleiter, Mystiker, Freimaurer, Spieler und Trinker Iwan Kotljarewskyj mit seiner Fassung der Aeneis (Enejida) 1798, einer in volkstümlicher Sprache gehaltenen, im Kosakenmilieu angesiedelten Travestie auf das klassische Werk von Vergil. Hryhorij Kwitka-Osnowjanenko (1778–1843) verfasste das Landleben idyllisierender Erzählungen.[2] Auch die deutsche Romantik begann sich für die ukrainische Sprache und die Geschichte der Kosaken zu interessieren: 1845 wurde ein Band ukrainischer Volkslieder von Friedrich Bodenstedt ins Deutsche übersetzt.[3]
Der als Fronbauer geborene Dichter Taras Schewtschenko,[4] der in der Ukraine mehrheitlich als bedeutendste historische und literarische Gestalt verehrt wird, trug maßgeblich zur weiteren Ausbildung der Schriftsprache bei. Gedichte wie „Vermächtnis“ (Sapowit) aus seiner 1840 erschienenen Gedichtsammlung Kobsar, sind bis heute im Bewusstsein aller Generationen und Gesellschaftsschichten tief verankert. 1847 bis 1857 war er in Haft bzw. lebte er in der Verbannung. Neben Schewtschenko, dem „Kristallisationspunkt“ (Literatur-Brockhaus) der ukrainischen Nationalromantik, die sich sowohl gegen den Zarismus als auch gegen den polnischen Adel richtete, stehen im 19. Jahrhundert Dichter wie Amwrossij Metlynskyj, Nikolai Kostomarow, Markijan Schaschkewytsch sowie der auch in deutscher Sprache schreibende Lyriker Jurij Fedkowytsch.
Themen der seit Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden realistischen Strömung in der Literatur wurden Leibeigenschaft, Knechtschaft und Unterdrückung der Kleinbauern. 1863 wurde die Zirkulation ukrainischer Druckschriften im russischen Zarenreich teilweise verboten. Nach einer weiteren Verschärfung des Verbots ukrainischer (nunmehr nur noch als „kleinrussisch“ bezeichneter) Literatur auf dem Boden des gesamten Zarenreichs im Jahre 1876, unter dem auch Schewtschenko als früheres Mitglied der verfolgten Bruderschaft der Heiligen Kyrill und Method zu leiden hatte, und wegen der dort herrschenden strengen Zensur konzentrierte sich das kulturelle Leben in der Folgezeit auf das Staatsgebiet Österreich-Ungarns, zu dem damals die westliche Ukraine (Lemberg, Galizien und die Karpaten) gehörte. Die österreichische Verwaltung förderte das ruthenische Bildungswesen. Zu den bedeutendsten Dichtern und Schriftstellern dieser Periode gehören die neuromantisch-impressionistische Dichterin und Dramatikerin Lessja Ukrajinka und der Dichter und Dramatiker Iwan Franko. Zu nennen sind ferner der Dichter, Prosaist und Übersetzer Ossyp Makowej, der das Leben der galizischen Bauern schilderte, sowie die Frau Iwan Frankos, Olha Kobyljanska aus der Bukowina, die zunächst in deutscher, später ukrainischer Sprache schrieb und das dörfliche Leben sowie die Emanzipationsbestrebungen der Frauen schilderte.
Da es auch in der Westukraine zu Konflikten der Intellektuellen mit dem dort dominanten polnischen Landadel kam, wurde vor allem das kosakophile Wandertheater mit realistischen und satirischen Stücken zu einer Pflegestätte der ukrainischen Sprache in Russland. Autoren waren u. a. Iwan Karpenko-Karyj (eigentlich Iwan Karpowytsch Tobilewytsch), der in seinen 18 Komödien den russischen Kolonialismus, die Ignoranz der Großgrundbesitzer und die Verarmung der Bauern kritisierte und dafür zeitweise verbannt wurde,[5] Marko Kropywnyzkyj, der 1882 das erste ukrainische Tourneetheater gegründet hatte, und Mykola Sadowskyj, der 1898 das erste feste Theater mit ständigem Ensemble in Kiew organisierte.[6][7] Andere Schriftsteller wanderten nach St. Petersburg und Moskau ab. Mychajlo Kozjubynskyj begann seine schriftstellerische Tätigkeit mit realistischen Erzählungen, die unter dem Einfluss Tschechows eine psychologische Vertiefung erhielten und sich immer kritischer mit den sozialen Konflikten auf dem Lande auseinandersetzten (Fata Morgana, 1904/1910; dt. 1962).
In der zum Zarenreich gehörenden Südukraine verfasste Wolodymyr Wynnytschenko naturalistische Erzählungen aus dem Leben des Landproletariats, schilderte die Hinwendung der jungen Generation zur sozialistischen Bewegung und schrieb mehrere Dramen. Unter dem Zarismus mehrfach in Haft, versuchte er als überzeugter Sozialist am Aufbau der neuen ukrainische Republik mitzuwirken, ging aber schon 1920 ins Pariser Exil. Die in Tschernigow geborene, mit der russischen Sprache aufgewachsene Ljubow Janowska begann 1897 Geschichten über das Landleben in ukrainischer Sprache zu schreiben, später schrieb sie auch über das Leben der Städter (Городянка, „Stadt“, 1901).
20. Jahrhundert
Nach 1918
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die von Polen annektierte Westukraine rasch polonisiert. Die ukrainische Literatur konnte sich hier nur kurzfristig entfalten. Ein reges literarisches Leben organisierte sich in sozialistischen Dichtergruppen (um die dem Symbolismus nahestehende, aber kurzlebige Zeitschrift Mytusa der Herausgeber Wassyl Bobynskyj und Roman Kuptschynskyj (Роман Григорович Купчинський; 1894–1976) und die ebenfalls von Bobynskyj 1927 gegründete Zeitschrift Wikna) sowie in katholischen ukrainischen Dichtergruppen um die Zeitschrift Nowi Schlachy. Bobynskyj emigrierte 1930 in die Sowjetunion und wurde dort liquidiert. Die religiös-philosophische Lyrik des in Lwiw lebenden, früh verstorbenen Bohdan-Ihor Antonytsch (1909–1937) ist von Walt Whitman und Gabriele d'Annunzio beeinflusst; populär wurde sie in der Sowjetukraine trotz eines Verbots in den 1960er Jahren.
Die Literatur in der Zentral- und Ostukraine hingegen wurde nach Gründung der Ukrainischen Sowjetrepublik geprägt von der Sowjetzeit, ihren Chancen und Einschränkungen. Hier wurde seit 1923 die ukrainische Sprache im Rahmen der Korenisazija-Politik gefördert (Ukrainisierung). Es entstand eine literarische Öffentlichkeit; viele Autoren orientierten sich an westeuropäischen Vorbildern, so etwa Dmytro Sahul am Symbolismus. Als Lyriker der 1920er und 30er Jahre sind Wolodymyr Swidsinskyj, Pawlo Tytschyna und Jewhen Pluschnyk zu erwähnen. Mykola Kulisch trat als Vertreter eines proletarischen Theaters hervor, das sich vor allem den Nöten der Landbevölkerung widmete. In Charkow wurde das expressionistische Theater Berezil gegründet, das auch seine Stücke aufführte, die von Anfang an mit der Zensur zu kämpfen hatten. In den frühen 1930er Jahren – der Zeit der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Hungersnot – fielen zahlreiche ukrainische Intellektuelle, darunter etwa 300 Schriftsteller, Stalins Verfolgungen zum Opfer (Rosstriljane widrodschennja). Die Werke Mykola Kulischs und anderer Autoren wurden als nationalistisch kritisiert und sind nur unvollständig erhalten; er wurde 1937 ebenso wie der Regisseur Les Kurbas, der seine Stücke in Charkow auf die Bühne brachte, erschossen. Der ukrainische Schriftstellerverband wurde zugunsten des gesamtsowjetischen liquidiert.
Der Dramatiker und Erzähler Mosche Altman wurde zwar in der Westukraine geboren, lebte zeitweise in Rumänien und ging 1941 in die Sowjetunion, schrieb aber in jiddischer und später in russischer Sprache. Ein loyaler Vertreter der ukrainisch-sowjetischen Literatur war Petro Pantsch; seineThemen waren die Revolution und die Kollektivierung der Landwirtschaft (Zyklus Mukha Makar. 1930–1934).
Eine Reihe von Autoren aus der Ostukraine gingen ins Exil in die USA, wo 1948 in New York das Ukrainian Institute of America als kulturelles Zentrum des Diaspora gegründet wurde, oder emigrierten nach Nachkriegsdeutschland wie Iwan Bahrjanyj.
Nach 1945
Die nächste Generation ukrainischer Autoren, die schon unter Stalin aufgewachsen war, beschäftigte sich mit dem Kriegsthema. Dazu gehörte der zweifache Stalinpreisträger Oles Hontschar, dessen Texte weit verbreitet und oft übersetzt wurden. Darstellungen der sozialen Gegenwart hatten mit der Zensur zu kämpfen, so etwa der Filmregisseur Oleksandr Dowschenko bei der Schilderung des Verfalls des ukrainischen Dorfes.
In der Tauwetterperiode unter Chruschtschow der späten 1950er Jahre lebte die ukrainische Literatur wieder auf und beschäftigte sich verstärkt mit der historischen und mythischen Vergangenheit der Ukraine. Wichtige Autoren dieser Phase waren Iwan Switlytschnyj und Iwan Dsjuba; als Lyriker traten Lina Kostenko, Mykola Winhranowskyj, Wasyl Stus und Iwan Dratsch hervor.
Seit den mittleren 1960er Jahren stagnierte die literarische Produktion in der Ära Breschnew. Als „chancenlos“ galt die Dichtergeneration der stagnierenden 70er, darunter die so genannte Kiewer Schule sowie Ihor Kalynez und Hryhorij Tschubaj aus Lwiw.
Nach 1980
Die ukrainische Literatur konnte seit etwa 1980 wieder an die 1920er und 1930er Jahre anknüpfen.[8] Als Lyriker wurden in den 1980er Jahren Dichter wie Wassyl Herassymjuk, Ihor Rymaruk, Oksana Sabuschko und Iwan Malkowytsch (* 1965) (Der weiße Stein 1984) bekannt. Eine besondere Rolle spielte die ukrainische Lyrik ausgewanderter Dichter. Mykhajlo Orest und Ihor Kaczurowskyj vertraten den Neoklassizismus, eine Richtung, die auch als der „ukrainische Parnass“ bekannt ist und sich durch das Festhalten an althergebrachten, klassischen Normen der Dichtkunst auszeichnet. Sie haben jedoch viele moderne europäische Strömungen in ihren Werken rezipiert, was sich auch im Werk der in den USA lebenden Surrealistin Emma Andijewska zeigt.
Seit 1989 wurden zahlreiche Autoren, die wegen des Gebrauchs der ukrainische Sprache diskriminiert oder aus politischen Gründen verfolgt worden waren, rehabilitiert, darunter auch der Wolodymyr Wynnytschenko.[9]
Gegenwart
In der postsowjetischen Phase erlebte die ukrainische Literatur eine neue Blüte. Seit Mitte der 1990er Jahre wurde der Gebrauch der russischen Sprache im Bildungswesen und in den Medien im Zuge der Ukrainisierungspolitik zurückgedrängt,[10] was auch negative Konsequenzen für die mediale Präsenz russischsprachiger Autoren hatte. Zu den intellektuellen Wortführern der Orangenen Revolution gehörte Jurij Andruchowytsch.
Ukrainische Gegenwartsdramen spielen auf den meisten Spielplänen eine vergleichsweise geringe Rolle. Zu nennen wären hier die ukrainischsprachigen Farcen von Oleksandr Bejderman, der aber vor allem durch seine Gedichte in jiddischer Sprache bekannt wurde.
Zu den wichtigen gegenwärtigen Autoren der Ukraine gehören die 1959 geborene Maria Matios, deren Romane auch ins Deutsche übersetzt wurden, die feministische Lyrikerin, Romanautorin und Essayistin Oksana Sabuschko (* 1960), der Romanautor, Essayist und Lyriker Serhij Schadan (* 1974), Andrij Ljubka (* 1987), der sich besonders der Karpatenukraine verbunden fühlt, und Tanja Maljartschuk (* 1983), die heute in Wien lebt.
Der wichtigste Kulturpreis der Ukraine ist der seit 1962 verliehene Taras-Schewtschenko-Preis.
Buchmarkt
Das Lemberger Buchforum ist die größte Buchmesse in der Ukraine, sie findet jeweils im September statt. Deutsche Bücher sind für die meisten Besucher der Buchmesse in Lwiw oft noch unerschwinglich, neuerdings jedoch häufiger zu funden. Der Buchvertrieb funktioniert insgesamt noch sehr schlecht. Lange war die Konkurrenz des starken russischen Marktes im eigenen Land spürbar. Noch immer erscheinen viele Bücher in ukrainischer Sprache nur mit staatlicher Förderung. Der Verlegerverband zählte 2004 rund 350 Verlage, die regelmäßig Bücher veröffentlichen. 2004 wurden 14.970 Neuerscheinungen registriert, die Gesamtauflage betrug dabei 52,8 Millionen Exemplare. Außerhalb des recht lukrativen Schulbuchgeschäfts beträgt allerdings die Durchschnittsauflage eines Titels 300 Exemplare. Trotz aller Schwierigkeiten wächst der ukrainische Gemeinschaftsstand auf der Frankfurter Buchmesse und im Forum Dialog dieser Messe kommen ukrainische Autoren zu Wort. 2012 stand die Ukraine auch im Fokus der Leipziger Buchmesse.
Ukrainische Gegenwartsliteratur in deutschsprachiger Übersetzung
- Jurij Andruchowytsch: Zwölf Ringe. Roman. Aus dem Ukrain. von Sabine Stöhr. [Orig.: Dvanacjat‘ obruciv, Kiew 2003]. Frankfurt / M: Suhrkamp 2005. ISBN 3-518-41681-2.
Im Roman „Zwölf Ringe“ verläuft auf der ersten Ebene alles recht logisch und melancholisch, ein einsamer Held geht seinen Sehnsüchten nach und stirbt wie eine Figur von Joseph Roth. Gleichzeitig verkörpert dieser Held einen ganzen Kulturkreis, der zu den Ukrainern der Gegenwart spricht, ihre Identität zu fördern sucht und sie von Moskau-Phobien und westlichem Kultur-Kitsch gleichermaßen abhalten will. In der entlegenen Karpatenkultur werden seltsame Mythen aufgewärmt, die Eisenbahn fährt wie in einem Märchen einmal am Tag ans Ende der Welt, ein Fisch aus der Donau wird den Bach hinauf schwimmen und das Land verändern, die zwölf Ringe der Liebe werden zu einem heftigen und anstrengenden Glück führen.
- Jurij Andruchowytsch: Perversion (Roman). Aus dem Ukrain. von Sabine Stöhr. Frankfurt / M: Suhrkamp 2011. ISBN 3-518-42249-9.
Der Underground-Künstler Stanislaw Perfecki ist unterwegs zu einem internationalen Symposion über „postkarnevalistischen Irrsinn der Welt“ in Venedig, bleibt zwischenzeitlich in der Münchner Bohème hängen, verliebt sich in eine Frau, die ihn bespitzelt, und hat sich möglicherweise aus dem Fenster seines Hotels am Canal Grande gestürzt. Ein postmodernes Spiel mit Zitaten von Rabelais bis Michail Bulgakow.
- Jurij Andruchowytsch – Moscoviada
- Sofija Andruchowytsch: Der Papierjunge. Roman. A. d. Ukrain. von Maria Weissenböck. [Orig.: Felix Austria; Lwiw 2014]. Salzburg: Residenz 2016. ISBN 978-3-7017-1663-0.
„Der Papierjunge“ zeigt hinter dem Ambiente einer entlegenen galizischen Habsburgerstadt um 1900 eine Menge politischer Facetten. Die akute Herrschaft beschränkt sich offiziell auf Manöver und Ansprachen, die Religionen scheinen allgegenwärtig zu sein und haben in jeder Seitengasse ihre Dependancen, für Frauen bleibt nur gut zu heiraten oder gut „Dienst zu boteln“. Der Roman erweist sich unter der magischen Hülle als brodelnder Kessel für Illusionen jeglicher Art.
- Ljubko Deresch: Die Anbetung der Eidechse Oder Wie man Engel vernichtet. Roman. A. d. Ukrain. von Maria Weissenböck. [Orig.: Pokloninnja jascirci. Jak nyscyty anheliv, Lwiw 2004]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006. ( = es 2480). ISBN 978-3-518-12480-2.
Ein paar Jugendliche verlaufen sich in der Weite der Karpaten und versaufen sich in dem kleinen Ort Midni Buky. Die Hitze wird unerträglich, sie wird noch verstärkt durch Pop-Musik, die aus allen Poren und Kassetten-Recordern dringt. Ein Feindbild stellen die Moskau-Menschen dar, sie haben nicht nur das Land mit ihrem Kommunismus ruiniert, sondern ruinieren es jetzt abermals mit dem Neo-Kapitalistischen Hammer.
- Andrij Ljubka: Notaufnahme. Ukrainische Gedichte. A. d. Ukrain. von Team-Baes-Low-Lectured. Zirl, Edition BAES 2012. ISBN 978-3-9503233-2-0.
Die Notaufnahme ist einerseits jene Stelle, wo Menschen im Koma abgeliefert werden, andererseits ist es ein besonderer Zustand der Wahrnehmung. Filmrisse, Figuren aus Hollywoodstreifen, Liebeserklärungen am Abstreifer einer verkommenen Bar, Partikel eines versickerten Prüfungsstoffes an der Uni, Prüfungsangst und Kater sind Themen der Gedichte, ihre Semantik ist seltsam eingekringelt, der sogenannte Sinn lässt sich nur über Umwege dechiffrieren.
- Maria Matios: Darina, die Süße. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Nachwort v. Andrei Kurkow. Haymon, Innsbruck 2013, ISBN 978-3-7099-7006-5. Zuerst ukrainisch 2003.
Der Roman von der „süßen Darina“ spielt in der entlegenen Bukowina, die einst in der Habsburgermonarchie noch vergeblich auf Anweisungen aus Wien wartete, als die Monarchie schon längst zerfallen war. Diese Gegend wird oft als sanft und süß bezeichnet, aber ist auch eigenwillig. So wird auch Darina wegen ihrer Eigentümlichkeit und ihrem abgeschotteten Wesen als die „Süße“ bezeichnet.
- Maria Matios: Mitternachtsblüte. Roman. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Haymon, Innsbruck 2015. ISBN 978-3-7099-7163-5. Zuerst ukrainisch 2013.
Mitternachtsblüte erzählt vielleicht das Wesen der Ukraine in magisch-brutaler Form. Selbst in der größten Tiefe des Waldes gibt es kein Versteck, denn ständig marschiert jemand durch das Land, das alt-slawisch „Land an der Grenze“ heißt.
- Taras Prochasko: Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen. A. d. Ukrain. von Maria Weissenböck. (Orig.: Z c’oho mozna zrobyty kil’ka opowidan‘, Lwiw 2005). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009. ( = es 2578). ISBN 978-3-518-12578-6.
Verwandte tauchen in der Erzählung auf, kommen in den Schredder der Zeitgeschichte und sterben. Bekannte machen Kunst, werden verraten und verschwinden. In der Zeitung steht etwas von einem Unruheherd irgendwo auf der Welt, schon gibt es eine Verbindung zur Ukraine, und ein paar Menschen segnen das Zeitliche.
- Oksana Sabuschko: Museum der vergessenen Geheimnisse. Roman. A. d. Ukrain. von Alexander Kratochvil. Graz: Droschl 2010. ISBN 978-3-85420-772-6.
Auf drei Schauplätzen der Geschichtsschreibung wird das Land aufgerollt. Die TV-Journalistin Daryna berichtet von offiziösen Ereignissen im Land. Ihr Zugang zu den Themen ist ein durchaus erotischer, wenn sie in das Bild der ehemaligen Partisanin Helzja vertieft, worüber sie eine Dokumentation drehen wird. Schließlich kommt die Künstlerin Wlada ins Spiel, die einen tödlichen Verkehrsunfall erleidet, worauf hin ihr Geheimnis-Zyklus verschwindet. Journalismus, Widerstandskampf und Kunst sind drei Facetten, wie man die Gesellschaft umgestalten könnte.
- Serhij Schadan (Zhadan): Depeche Mode. Roman. A. d. Ukrain. von Juri Durkot und Sabine Stöhr. [Orig.: Depes Mod, Charkiw 2004]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007. ( = es 2494). ISBN 978-3-518-12494-9.
Die Handlung beginnt damit, dass sich der Stiefvater von einem der Helden erschossen hat. Da der Stiefsohn aber verschwunden ist, sucht die Truppe ihren Kommilitonen für das Begräbnis und landet in einer stillgelegten Fabrik, wo sie die Büste von Molotow klaut. Schließlich steigen die Protagonisten völlig zugekifft in die Live-Diskussion bei einem Musiksender ein, wo es gerade um die Band Depeche Mode geht.
- Serhij Schadan (Zhadan): Die Erfindung des Jazz im Donbass. Roman. A. d. Ukrain. von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2012. ISBN 978-3-518-42335-6.
Der Ich-Erzähler Hermann versucht über ein Werbeunternehmen den Anschluss an die Gegenwart, wenn nicht gar an die Zukunft zu gewinnen. Was er an Bewerbungszonen, Produkten, Märkten und vor allem Käufern vorfindet, ist allerdings deprimierend. So scheint sich seine Werbetätigkeit auf einen Brückenschlag zwischen trostloser Vergangenheit und reduzierter Gegenwart zu beschränken.
- Serhij Schadan (Zhadan): Mesopotamien. (Roman). A. d. Ukrain. von Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr. [Orig.: „Mesopotamija“, Charkiw 2014]. Berlin: Suhrkamp 2015. ISBN 978-3-518-42504-6.
In beinahe lyrischen Sequenzen werden ukrainische „Heldentaten“ erzählt. Zu Ellipsen verkürzt und mit Traumfäden umsponnen taucht die Stadt Charkiw des Zweistromlandes auf: „Viel zu hoch / greifen deine Finger, / um die Leere einzufangen.“ – Hinter den Kostümresten der Poesie vergisst man das Chaos in einem angedeuteten Mesopotamien.
- Natalka Sniadanko: Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen. Roman. A. d. Ukrain. von Lydia Nagel. [Orig.: Charkiv 2013]. Innsbruck-Wien: Haymon 2016. ISBN 978-3-7099-7229-8.
Chrystyna und Solomija sind Musiklehrerinnen in Lemberg. Sie haben alles versucht, um sich durchs Leben zu schlagen, zwischendurch sind sie sogar ein Liebespaar geworden. Im ersten Anlauf gelingt es nur Chrystyna, ein Visum nach Berlin zu ergattern, ihre Freundin muss warten. Das Reisen in peripheren Landstrichen ist ein bürokratisches Abenteuer, dagegen wirkt der Westen beinahe logisch, wenn auch nicht golden.
- Jurij Wynnytschuk: Im Schatten der Mohnblüte. Roman. A. d. Ukrain. von Alexander Kratochvil. [Orig.: Tango Smerti, 2012]. Innsbruck-Wien: Haymon 2014. ISBN 978-3-7099-7145-1.
Eine Geschichte über Freundschaft, Ideale und Rückgrat im Angesicht größter Grausamkeit, die zeigt, dass Schatten stets auch Licht bedingt.
Siehe auch
Literatur
- Elisabeth Kottmeier (Hrsg.): Weinstock der Wiedergeburt. Moderne ukrainische Lyrik. Kessler, Mannheim 1957.
- Dimitrij Tschižewskij, Anna-Halja Horbatsch: Die ukrainische Literatur. In: Kindlers neues Literatur-Lexikon. Bd. 20. München 1996, S. 393–399.
- Ein Brunnen für Durstige und andere ukrainische Erzählungen. Hrsg. von Anna-Halja Horbatsch. Erdmann Verlag. Tübingen 1970.
- Reich mir die steinerne Laute. Ukrainische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Brodina Verlag, 1996. ISBN 3-931180-05-0
- Zweiter Anlauf. Ukrainische Literatur heute. Hrsg. von Karin Warter und Alois Woldan. Verlag Karl Stutz, Passau 2004. ISBN 3-88849-094-4
- Ukraine-Lesebuch: Literarische Streifzüge durch die Ukraine. Hrsg. von Evelyn Scheer. Trescher Verlag, 2006. ISBN 978-3-89794-097-0
- Wodka für den Torwart. 11 Fußball-Geschichten aus der Ukraine. edition.fotoTAPETA, 2012. ISBN 978-3-940524-16-4
- Juri Andruchowytsch: Engel und Dämonen, Edition Suhrkamp 2513, Frankfurt 2007 (mit Essays u. a. zur ukrainischen Literatur)
- Sprache und Literatur der Ukraine zwischen Ost und West. Hrsg. von J. Besters-Dilger u. a. Lang, Bern 2000. ISBN 3-906758-31-1
Weblinks
- Ein paar Worte über die ukrainische Literatur, libertas.pl (polnisch)
Einzelnachweise
- Tschižewskij, Horbatsch 1996, S. 394.
- Tschižewskij, Horbatsch 1996, S. 394.
- A.-H. Horbatsch: Vorwort zu Ein Brunnen für Durstige, 1970, S. 7.
- Kurzbiographie auf encyclopediaofukraine.com (englisch)
- Kurzbiographie auf encyclopediaofukraine.com (englisch)
- Horbatsch, S. 15.
- Iwan-Franko-Theater Kiew auf www.goethe.de
- Lara Kobilke: Ukrainische Literatur (Memento vom 14. Juli 2014 im Internet Archive).
- Tschižewskij, Horbatsch 1996, S. 397.
- 'Ukrainisierung' des ukrainischen Rundfunks, Neue Zürcher Zeitung, 23. April 2004, online: