Stromlinienlokomotive
Stromlinienlokomotive ist die Bezeichnung für eine Lokomotive, bei der die Lehren der Aerodynamik angewendet wurden, um die Strömung um das Fahrzeug zu verbessern, oder bei der die Lokomotive von ihrem Aussehen her diesen Eindruck vermittelt. Im engeren Sinne werden nur solche Loks als Stromlinienlokomotiven bezeichnet, die aus einer Epoche stammen, in der die Aerodynamik gerade erst anfing, bei der Gestaltung von Fahrzeugen berücksichtigt zu werden.
Hintergrund
Der Luftwiderstand ist ein schnell spürbarer Widerstand. Die Anfang des 19. Jahrhunderts entworfenen Dampfloks waren erst vollkommen offen, relativ früh wurden jedoch schon Windschutzscheiben eingebaut. Mit den steigenden Zuggeschwindigkeiten wurde erstmals am Ende des 19. Jahrhunderts die Aerodynamik mit bedacht. In Europa entstanden bei mehreren Bahngesellschaften Lokomotiven mit „Windscheideführerhäusern“ und Teilverkleidungen. Die ernsthaften Entwicklungen zu den Stromlinienlokomotiven begannen jedoch in den 1930er- und 1940er-Jahren, mit dem Aufkommen von Flugzeugen und Automobilen, die den Zügen allmählich Konkurrenz machten. Insbesondere in Großbritannien und den USA gab es zudem einen starken Wettkampf zwischen den Bahngesellschaften, die häufig dieselben Verbindungen anboten. Bekannte Beispiele sind die Konkurrenz von Hiawatha und Pioneer Zephyr zwischen Chicago und Minneapolis oder 20th Century Limited und Broadway Limited zwischen Chicago und New York in Amerika und des Silver Jubilee und Coronation Scot in Großbritannien. Daher versuchten die Bahngesellschaften zunächst, der neuen Konkurrenz durch verkleidete Dampflokomotiven entgegenzutreten. Mit strömungsgünstig verkleideten Dampflokomotiven gelang es, Geschwindigkeiten von etwas über 200 km/h zu erreichen. Beispiele solcher Lokomotiven sind die 05 002 der Baureihe 05 der deutschen Reichsbahn, der Mallard in Großbritannien oder in den USA die Atlantics Klasse A und -Baltics Klasse F-7 der Milwaukee Road, die „Super Hudsons“ Klasse J-3a der New York Central und „Duplex“-Loks Klasse S1 und T1 der Pennsylvania Railroad. Dabei ist zu beachten, dass zumindest die europäischen Maschinen diese Geschwindigkeit nur auf Versuchsfahrten erreichten.
Entwicklungen in Frankreich
Eine der ersten Stromlinenlokomotiven überhaupt wurde von der französischen PLM entwickelt. Die 220 PLM C 61 à C 180, genannt „Coupe Vent“ (frz.: Windschneider) wurde ab 1898 gebaut und zog berühmte Züge wie den Calais-Paris-Mediterranee Express. Auch später wurden die 230 PLM 3401 bis 3735 und andere Lokomotiven der PLM mit Verkleidungen ausgeliefert. In den 1930er Jahren wurde dann der „Train aérodynamique“ (frz.: Aerodynamischer Zug) entwickelt, der zwischen Paris und Marseille in 9 Stunden verkehrte. Auch die Compagnie des chemins de fer du Nord rüstete einige ihrer „Super Pacifics“ 3.1280 mit Stromschalen aus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann auch die 1937 gegründete SNCF mit weiteren Entwicklungen. In diesem Zuge wurden die Lokomotiven der Baureihen 230 Est 230 103 bis 230 280, 232 R, 232S und 232 U 1 mit einer Stromschale ausgerüstet.
Entwicklungen in Deutschland
Seit etwa 1900 gab es Bestrebungen, die Windschlüpfigkeit von Dampflokomotiven zu verbessern. Ein typisches Beispiel aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist die Schnellfahrlokomotive S 2/6 der Königlich Bayerischen Staatsbahn, welche Windschneiden an Führerhaus, Rauchkammertür und Schornstein aufwies. Auch die ersten Lokomotiven der Gattung P 8 (spätere Baureihe 38.10) der Preußischen Staatseisenbahnen hatten wegen der geplanten Höchstgeschwindigkeit von 110 km/h eine Windschneide an der Führerhausvorderwand erhalten. Einzelstücke blieben die ganz bzw. teilweise verkleideten Versuchsloks Preußische S 9 Altona 561 und Altona 562.
Systematische Versuche zur Aerodynamik von Dampflokomotiven wurden in Deutschland jedoch erst in den 1930er-Jahren vorgenommen. Als erstes wurde 1934 eine Lokomotive der Baureihe 03 (03 154) mit einer teilweisen Verkleidung versehen und von der Deutschen Reichsbahn getestet. Neben der Untersuchung der Aerodynamik galt es auch zu ermitteln, inwieweit sich das Triebwerk der Lokomotive, insbesondere die Lager, durch fehlende Luftzufuhr erwärmen. Auch die ausreichende Zufuhr von Verbrennungsluft unter den Rost war ein wichtiger Punkt.
Die Versuche ergaben, dass eine verkleidete 03 bei 120 km/h einen Leistungsgewinn von 290 PS gegenüber der unverkleideten Version hatte; bei 140 km/h waren es sogar 385 PS. Bei einer indizierten Leistung von 1980 PS war dies ein Gewinn von zirka 15 beziehungsweise 20 Prozent. Eine weitere Lok dieser Baureihe – die 03 193 – wurde 1935 mit einer ebensolchen Stromschale ausgerüstet.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen flossen in die Gestaltung der zwei Schnellfahrlokomotiven der Baureihe 05 ein, die beide mit vollständiger Stromlinienverkleidung 1935 abgeliefert wurden. Den beiden konventionell konstruierten Lokomotiven der Baureihe 05 folgte 1937 die 05 003, die über einen Frontführerstand verfügte und für die Verfeuerung von Steinkohlenstaub ausgelegt war.
Zwischenzeitlich entstand, ebenfalls mit Vollverkleidung, die Tenderlokomotive der Baureihe 61, die für den Schnellverkehr zwischen Berlin und Dresden vorgesehen war. Hierzu gab es eine passende Wagengarnitur, den sogenannten Henschel-Wegmann-Zug, der sich aerodynamisch der Lokomotive anpasste. Ein zweites Exemplar dieser Lokomotivbauart wurde 1939 in leicht veränderter Form gebaut.
Eine weitere Schnellzuglok mit Stromlinienverkleidung war die DR-Baureihe 06, die 1939 von Krupp in zwei Exemplaren abgeliefert wurde. Im gleichen Jahr wurden auch die ersten Lokomotiven der DR-Baureihe 01.10 und DR-Baureihe 03.10 in Dienst gestellt. Hier wurde erstmals eine größere Serie von Lokomotiven mit Stromlinienverkleidung gefertigt, nämlich 55 Stück der Baureihe 0110 und 60 Stück der Baureihe 0310. Die Form der Verkleidung beider Baureihen ähnelte sich, unterschied sich aber optisch von den bisherigen Stromlinienlokomotiven.
Als letzte Reichsbahnlokomotive mit Stromlinienverkleidung kam 1941 noch mit der Baureihe 1910 eine Dampfmotorlokomotive mit Einzelachsantrieb hinzu. Ihre Verkleidung glich optisch jener der 0110.
- 03 002 im Oldtimer Museum Rügen mit Stromlinie in Form der 03 193
- 05 001 im DB-Museum in Nürnberg
- 61 001 mit Henschel-Wegmann-Zug
- Teilentstromte ehemalige 03.10 als polnische Pm 3-3 in Warschau
- Vormalige 61 002 nach Umbau als teilverkleidete 18 201
Bei allen aufgezählten Lokomotiven wurde, sofern sie nicht ausgemustert wurden, nach dem Zweiten Weltkrieg die Stromlinienverkleidung entfernt.
Neben Dampflokomotiven sind in Deutschland auch die Elektrolokomotiven der Baureihe E18 und E19 zu nennen, die vor dem Zweiten Weltkrieg als Stromlinienloks entworfen wurden und im Falle der E19 bis zu 180 km/h erreichen sollten.
Die Deutsche Bundesbahn erhielt 1957 mit der DB-Baureihe 10 nochmals zwei verkleidete Dampflokomotiven. Es handelte sich hierbei um eine Teilverkleidung, bei der lediglich die Frontpartie des Triebwerks, die Rauchkammer und der Tender abgedeckt wurden. Der Kessel und das Führerhaus blieben unverkleidet.
Später wurden auch die Elektrolokomotiven der Baureihe E 10 in den 1960er Jahren und der Baureihe 103 in den 1970er Jahren entwickelt.
Bei der Deutschen Reichsbahn entstanden durch Umbau zwei Schnellfahrlokomotiven, die der Baureihe 18 zugeordnet wurden. Beide erhielten eine Teilverkleidung ähnlich der Baureihe 10. Beide Lokomotiven sind heute noch erhalten. In betriebsfähigem Zustand die 18 201, die zugleich die schnellste noch betriebsfähige Dampflokomotive der Welt ist. Im Jahr 1972 wurde bei einer Testfahrt der 18 201 eine Geschwindigkeit von 182 km/h gemessen. Die zweite dieser Schnellfahrlokomotiven, die 18 314, ist als Museumsexponat im Auto- und Technikmuseum Sinsheim erhalten. Es handelt sich hier um eine umgebaute badische IV h.
Entwicklungen in Amerika
- Elektrolokomotive GG1 (erstes Baujahr 1935) der Pennsylvania Railroad
- „El Capitan“-Diesellok (EMC E1 Baujahr 1937–1938) Santa Fe
- Dampfturbinen-elektrische Lokomotiven (GE Baujahr 1939) Union Pacific
In Amerika begann die Entwicklung von Stromliniendampflokomotiven erst in den 1930er Jahren. Die wichtigsten Vertreter waren die Atlantics Klasse A und -Baltics Klasse F-7 der Milwaukee Road, die „Super Hudsons“ Klasse J-3a der New York Central und „Duplex“-Loks Klasse S1 und T1 der Pennsylvania Railroad. Doch die Dampflokomotiven erhielten von Anfang an Konkurrenz von Triebwagen und später von Dampfturbinen und Dieselloks.
Es zeigte sich, dass Diesellokomotiven eine bessere Energieausnutzung boten und so kamen die Stromliniendampflokomotiven nicht in größeren Stückzahlen zum Einsatz. Aber auch die damals noch junge Dieseltraktion wies vielfach eine Stromlinienverkleidung auf, so die ab 1934 gebauten Triebzüge und daraus weiterentwickelten Lokomotiven der E- und F-Reihen von GM in den USA.
Auch die elektrische GG1 der Pennsylvania Railroad ist eine klassische Stromlinienlok.
Bedeutende für die amerikanischen Lokomotiven waren die Industriedesigner Henry Dreyfuss, Otto Kuhler und Raymond Loewy.
Beispiele in anderen Ländern
In Belgien ist vor allem die Baureihe 12 zu nennen, welche zwischen Brüssel und Oostende für einige Zeit mit 120,46 km/h den Europarekord für die mittlere Fahrgeschwindigkeit zwischen zwei Bahnhöfen hielt.
In Ungarn fuhr die bis zu 152 km/h schnelle MÁV-Baureihe 242.
Die Niederländischen Staatsbahnen rüsteten ein paar ihrer NS 3700 mit einer Stromschale aus.
Australien hatte den Spirit of Progress, der planmäßig von den verkleideten Dampflokomotiven der S-Klasse gezogen wurde.
Auch in Polen fuhren Loks der PKP-Baureihe Pm36 mit Stromliniendesign.
Auf der Südmandschurische Eisenbahn fuhren die in Japan gebauten Lokomotiven im "ASIA-Gō"-Verkehr
Bewertung
Allgemein bereiteten Stromlinienlokomotiven, genau so wie andere aerodynamisch gestaltete Fahrzeuge, den Weg für moderne Hochgeschwindigkeitszüge. Insbesondere Stromliniendampfloks bewährten sich allerdings im Alltag in der Regel nicht. Dampflokomotiven müssen im täglichen Betrieb umfangreich an vielen Teilen der Mechanik gewartet werden. Häufig waren diese Teile durch die Verkleidung schlecht erreichbar und mussten durch Klappen und Rollläden zugänglich gemacht werden. Auch Schmutz sammelte sich durch Verwirbelungen unter der Verkleidung. Zudem wurden nennenswerte Vorteile erst ab Geschwindigkeiten von über 120 km/h spürbar. In Deutschland wurden daher die Verkleidungen ab Anfang des 2. Weltkrieges schrittweise entfernt. Lediglich Teilverkleidungen wurden weiter verwendet. Eine der wenigen lange eingesetzten Lokomotiven, bei der die Stromschale beibehalten wurde, war die LNER Klasse A4.
Der Begriff Stomlinienlok wurde später nur noch selten angewandt, da Lokomotiven immer weniger im Hochgeschwindigkeitsverkehr unterwegs sind und die meisten Lokomotiven ohnehin eine windschnittigeres Design haben. Moderne auffällig aerodynamische Lokomotiven sind die SBB Re 460 und die Siemens ES64U2.
Betriebsfähig erhaltene Stomliniendampflokomotiven
- In Großbritannien stehen neben der Weltrekordlok „Mallard“ von 1938…
- …noch weitere Maschinen der LNER-Klasse A4 betriebsfähig unter Dampf.
- Rekonstruierte LMS 6229 „Duchess of Hamilton“ im Eisenbahnmuseum York
- Seit 1996 trägt 01 1102 wieder wie 1940 eine Stromlinienverkleidung.
- Norfolk&Western J 4-8-4 von 1944
Siehe auch
Literatur
- Wilhelm Reuter: Rekord-Lokomotiven. Die Schnellsten der Schiene 1848–1950. Motorbuch, Stuttgart 1978, ISBN 3-87943-582-0.
- Alfred B. Gottwaldt: Stromlinien-Album. Deutsche Dampflokomotiven der dreißiger Jahre. Transpress, Berlin 1993, ISBN 3-344-70781-7.