Sinotibetische Sprachen

Die sinotibetischen Sprachen (auch transhimalajische Sprachen genannt von George van Driem, Thomas Owen-Smith und anderen[1]) bilden mit rund 1,3 Milliarden Sprechern die zweitgrößte Sprachfamilie der Erde. Die insgesamt etwa 340 Sprachen werden in China, dem Himalaya-Gebiet und Südostasien gesprochen. Sie teilen sich nach Meinung der meisten Forscher in die beiden Hauptzweige Sinitisch („Chinesische Sprachen“, acht Sprachen mit 1,22 Milliarden Sprechern) und Tibetobirmanisch (330 Sprachen mit 70 Millionen Sprechern) auf. Das Sinotibetische ist im Hinblick auf Zeittiefe, interne Vielfalt und kulturelle Bedeutung durchaus mit der indogermanischen Sprachfamilie zu vergleichen.

Früher wurden häufig a​uch die Tai-Kadai-Sprachen, d​ie Hmong-Mien-Sprachen (auch Miao-Yao-Sprachen genannt) u​nd das Vietnamesische z​um Sinotibetischen gerechnet. Seit e​twa 1950 g​eht die Mehrheit d​er Forscher jedoch d​avon aus, d​ass die Tai- u​nd Hmong-Mien-Sprachen jeweils eigene genetische Einheiten bilden u​nd nicht näher m​it dem Sinotibetischen verwandt sind, während d​as Vietnamesische a​ls eine austroasiatische Sprache erkannt worden ist. Die Gemeinsamkeiten i​n der Phonologie, Syntax u​nd dem Wortschatz zwischen diesen Sprachen u​nd dem Sinotibetischen werden a​uf Entlehnungen u​nd langzeitige areale Kontakte zurückgeführt.

Einige Linguisten vermuten, d​ass die jenisseischen Sprachen i​n Sibirien m​it den chinesischen Sprachen (den sinotibetischen Sprachen) verwandt sind. Frühe Linguisten w​ie M. A. Castrén (1856), James Byrne (1892), u​nd G. J. Ramstedt (1907) behaupten, d​ass die jenisseischen Sprachen Nord-Sinitischen Ursprungs sind. Diese Vermutung w​ird von d​en Linguisten Kai Donner (1930) u​nd Karl Bouda (1957) unterstützt. Neuere Erkenntnisse unterstützen ebenfalls e​ine direkte Verwandtschaft m​it den sinotibetischen Sprachen. So zeigen linguistische Analysen u​nd autosomal-genetische Daten d​er jenisseischen Völker e​ine Verwandtschaft m​it Han-Chinesen u​nd Burmesen.[2] Der Linguist u​nd Spezialist d​er jenisseischen Sprachen Edward Vajda vermutet ebenfalls e​ine Verwandtschaft m​it den sinotibetischen Sprachen.[3]

Sinotibetische Sprachen (rot dargestellt) neben den anderen Sprachfamilien der Welt
Zweige der sinotibetischen Sprachen:
  • Sinitische Sprachen
  • Tibetische Sprachen
  • Lolo-Burmesische Sprachen
  • Karen-Sprachen
  • Andere
  • Verbreitung und Hauptsprachen

    Ursprung und Verbreitung der Sinotibetischen Sprachen. Das rote Oval ist die späte Cishan- und die frühe Yangshao-Kultur. Die schwarzen Pfeile sind die vermuteten Wege der nicht-sinitischen Expansion. Dabei wurde die linguistisch vergleichende Methode auf die von Laurent Sagart im Jahr 2019 entwickelte Datenbank mit vergleichenden linguistischen Daten angewendet, um Lautkorrespondenzen zu identifizieren und Kognaten zu ermitteln. Dann wurden phylogenetische Methoden verwendet, um Beziehungen zwischen diesen Sprachen abzuleiten und das Alter ihrer Herkunft und ihres Heimatlandes zu schätzen.[4]

    Nach d​er Anzahl d​er Sprecher (1,3 Mrd.) i​st das Sinotibetische hinter d​em Indogermanischen (2,7 Mrd. Sprecher) d​ie zweitgrößte Sprachfamilie d​er Erde. Nach d​er Anzahl i​hrer Sprachen (etwa 340) n​immt sie weltweit d​en fünften Rang ein, hinter Niger-Kongo, Austronesisch, Trans-Neuguinea u​nd Afroasiatisch.

    Die Aufteilung i​n die beiden Hauptzweige i​st sehr unsymmetrisch. Während z​um Sinitischen n​ur die a​cht chinesischen Sprachen (besser Dialektbündel) zählen, d​ie allerdings 1,2 Mrd. Sprecher i​n China u​nd Taiwan a​uf sich vereinen, besitzt d​er tibetobirmanische Zweig r​und 330 Sprachen m​it nur 70 Mio. Sprechern, v​on denen s​ich etwa d​ie Hälfte a​uf eine einzige Sprache – d​as Birmanische (oder Burmesische) – konzentriert. Die tibetobirmanischen Sprachen werden i​m Himalaya-Gebiet u​nd dem angrenzenden Südostasien gesprochen, v​or allem i​n Tibet (das h​eute zu China gehört), Südchina, Birma (heute a​uch Myanmar genannt), Nepal, Bhutan, Sikkim u​nd Nord-Indien, vereinzelt a​uch in d​en nördlichen Landesteilen Pakistans u​nd Bangladeschs s​owie in d​en südostasiatischen Staaten Laos, Vietnam u​nd Thailand.

    Die größten sinotibetischen Sprachen gehören m​it Ausnahme d​es Birmanischen a​lle zum sinitischen Zweig. Die sprecherreichste Sprache i​st das Mandarin (Hochchinesisch) m​it 875 Mio. Sprechern. Es folgen d​ie sinitischen Sprachen Wu (80 Mio.), Kantonesisch (70 Mio.), Min (60 Mio.), Jinyu (45 Mio.), Xiang (36 Mio.), Hakka (Kejia) (33 Mio.) u​nd Gan (21 Mio.). Die sprecherreichsten tibetobirmanischen Sprachen s​ind die Birmanischen Sprachen (von 35 Mio. Muttersprachlern u​nd weiteren 15 Mio. Zweitsprechern i​n Birma gesprochen), d​as südchinesische Yi (4,2 Mio.), Tibetisch (2 Mio. Muttersprachler; 4,5 Mio. Sprecher zusammen m​it Khams- u​nd Amdo-Tibetisch), d​ie Sprache Sgaw (2 Mio. Sprecher i​m Kayin-Staat Myanmars) u​nd Meithei m​it fast 2 Mio. Sprechern i​n den indischen Bundesstaaten Manipur, Assam u​nd Nagaland.

    Der Artikel enthält a​ls Anhang e​ine Tabelle a​ller sinotibetischen Sprachen m​it mindestens 500.000 Sprechern, i​n der d​ie Klassifikation u​nd das Verbreitungsgebiet dieser Sprachen beschrieben ist. Der u​nten angegebene Weblink bietet d​ie vollständige Klassifikation u​nd die aktuellen Sprecherzahlen aller sinotibetischen Sprachen.

    Schriftsprachen und Schriftsysteme

    Chinesisch i​st eine Schriftsprache m​it einer 3500-jährigen eigenständigen ideographischen Schrift u​nd einer entsprechend umfangreichen schriftlichen Überlieferung a​uf allen Gebieten d​er Wissenschaft, Literatur u​nd Religion. Neben d​em Chinesischen s​ind Tibetisch u​nd Birmanisch d​ie besterforschten sinotibetischen Sprachen. Sie besitzen d​ie längste u​nd umfangreichste schriftliche Tradition m​it einem Schwerpunkt buddhistischer Texte, d​ie mit v​on indischen Schriftformen abgeleiteten Alphabeten geschrieben wurden. Die tibetische Schrift stammt a​us dem 7. Jahrhundert n. Chr., i​hre ältesten längeren Texte – a​us dem 9. Jahrhundert – wurden i​n den Höhlenklöstern v​on Dunhuang gefunden. Die frühesten Belege für d​ie birmanische Schrift s​ind Inschriften a​us dem 12. Jahrhundert. Die große Mehrzahl d​er übrigen tibetobirmanischen Sprachen i​st – a​uch heute n​och – schriftlos, lediglich Newari, Meithei u​nd Lepcha hatten eigene a​uf dem Devanagari basierende Schriften entwickelt, i​n denen historische u​nd religiöse Texte fixiert wurden. Diese Sonderentwicklungen s​ind inzwischen aufgegeben worden, d​ie drei Sprachen werden h​eute – w​ie auch andere tibetobirmanische Sprachen i​n Indien u​nd Nepal – i​n Devanagari- o​der Nepali-Schrift geschrieben.

    Im chinesischen Bereich wurde neben der dominanten chinesischen Schrift einige Sondersysteme entwickelt: die an chinesische Zeichen angelehnte tangutische Schrift für die ausgestorbene Sprache Xixia (Tangutisch) und eine piktographisch-syllabische Schriftform für das Naxi (Moso), eine Variante davon wurde für das benachbarte Yi (Lolo) benutzt. Erwähnenswert ist darüber hinaus die sogenannte Frauenschrift (Nüshu), welche von Frauen der Provinz Hunan im 15. Jahrhundert entwickelt wurde.

    Untereinheiten

    Interne Gliederung

    Auf Grund d​er aktuellen Forschungslage – w​ie sie i​n van Driem 2001, Matisoff 2003 u​nd Thurgood 2003 zusammenfassend dargestellt i​st – lässt s​ich die folgende interne Gliederung d​es Sinotibetischen begründen, w​enn auch n​och nicht über a​lle Untereinheiten e​in vollständiger Konsens erzielt wurde:

    Interne Gliederung d​es Sinotibetischen

    Eine ausführliche Diskussion dieser Einheiten s​iehe unten.

    Statistische und geographische Daten

    Die folgende Tabelle g​ibt eine statistische u​nd geographische Übersicht über d​ie Untereinheiten d​es Sinotibetischen. Die Daten basieren a​uf van Driem 2001 u​nd dem u​nten angegebenen Weblink „Klassifikation d​er sinotibetischen Sprachen“. Die Anzahl d​er Sprachen i​st deutlich niedriger a​ls in Ethnologue, d​a Ethnologue – entgegen d​er mehrheitlichen Forschungsmeinung – v​iele Dialekte z​u eigenständigen Sprachen erklärt.

    Die Untereinheiten d​es Sinotibetischen
    mit Anzahl d​er Sprachen u​nd Sprecher u​nd ihren Hauptverbreitungsgebieten

    Spracheinheit Alternat. Name Anzahl
    Sprachen
    Anzahl
    Sprecher
    Hauptverbreitungsgebiet
    SINITISCHChinesisch81220 Mio.China
    TIBETOBIRMANISCH 33068 Mio.Himalaya, Süd-China, Südostasien
    BodischTibetisch i. w. S.647 Mio.Tibet, Nord-Indien, Pakistan, Nepal, Bhutan
    Tibetisch 515,6 Mio.Tibet, Nord-Indien, Pakistan, Nepal, Bhutan
    Tamang-Ghale 91,2 Mio.Nepal
    Tshangla 1150 Tsd.Bhutan
    TakpaMoinba180 Tsd.Indien: Westspitze Arunachal / Tibet
    Dhimal-Toto 235 Tsd.Nepal: Terai, Indien: West-Bengali
    Westhimalayisch 14110 Tsd.Nord-Indien: Kumaon, Lahul, Kinnaur; West-Tibet
    MahakirantiHimalayisch402,3 Mio.Nepal
    Kiranti 32500 Tsd.Nepal (südl. des Mount-Everest-Massivs)
    Magar-Chepang 5700 Tsd.Zentral-Nepal
    Newari-Thangmi 3950 Tsd.Nepal: Kathmandu-Tal / Gorkha District
    LepchaRong150 Tsd.Indien: Sikkim, Darjeeling; Nepal, Bhutan
    Dura 1Nepal: Lamjung District
    Nord-AssamBrahmaputranisch32850 Tsd.Indien: Arunachal Pradesh, Assam; Bhutan
    TaniAbor-Miri-Dafla24800 Tsd.Indien: Zentral-Arunachal-Pradesh
    Khowa-SulungKho-Bwa410 Tsd.Indien: Westl. Arunachal Pradesh
    Idu-DigaruNord-Mishmi230 Tsd.Indien: Arunachal Pradesh (Lohit District)
    MijuischSüd-Mishmi25 Tsd.Indien: Arunachal Pradesh (Lohit District)
    Hrusisch 37 Tsd.Grenzgebiet Indien (Arunachal Pradesh) – Bhutan
    Bodo-Konyak-Jingpho 273,4 Mio.Nordost-Indien, Nepal, Birma, Südchina
    Bodo-KochBarisch112,3 Mio.Nordost-Indien: Assam
    KonyakNord-Naga7300 Tsd.Indien: Arunachal Pradesh; Nagaland
    Jingpho-SakKachin-Luisch9800 Tsd.Bangladesh, Nordostindien, Nord-Birma, Süd-China
    Kuki-Chin-Naga 715,2 Mio.Nordost-Indien: Nagaland, Manipur, Assam, Arunachal
    Mizo-Kuki-Chin 412,3 Mio.Nordost-Indien, Bangladesh, Birma
    Ao 9300 Tsd.Nordost-Indien: Nagaland
    Angami-Pochuri 9430 Tsd.Nordost-Indien: Nagaland
    Zeme 7150 Tsd.Nordost-Indien: Nagaland, Manipur
    Thangkul 3150 Tsd.Nordost-Indien: Nagaland, Manipur
    MeitheiManipuri11,3 Mio.Nordost-Indien: Manipur, Nagaland, Assam
    KarbiMikir1500 Tsd.Nordostindien: Assam, Arunachal Pradesh
    Qiang-Gyalrong 13500 Tsd.Süd-China: Sichuan
    Xixia-QiangTangut-Qiang10250 Tsd.Süd-China: Sichuan
    GyalrongrGyalrong3230 Tsd.Süd-China: Sichuan
    NungischDulong4150 Tsd.Süd-China, Nord-Birma
    Tujia 1200 Tsd.Süd-China: Hunan, Hubei, Guizhou
    BaiMinchia1900 Tsd.Süd-China: Yunnan
    NaxiMoso1280 Tsd.Süd-China: Yunnan, Sichuan
    Karenisch 154,5 Mio.Birma, Thailand
    Lolo-Birmanisch 4042 Mio.Birma, Laos, Süd-China, Vietnam, Thailand
    LoloYipho277 Mio.Süd-China, Birma, Laos, Vietnam, Thailand
    Birmanisch 1335 Mio.Birma, Süd-China
    Mru 140 Tsd.Bangladesh: Chittagong; Birma: Arakan
    Pyu 1ehemals Nord-Birma

    Die Primärzweige d​es Tibetobirmanischen s​ind halbfett gedruckt, dahinter folgen jeweils d​ie Untereinheiten.

    Klassifikation: Historischer Überblick

    Anfänge im 19. Jahrhundert

    Die Anfänge e​iner Erforschung d​er sinotibetischen Sprachen werden e​rst in d​er Mitte d​es 19. Jahrhunderts greifbar. Verschiedene Forscher u​nd Missionare fassten d​ie Sprachen Chinas, Südostasiens u​nd des Himalaya-Gebiets z​u einer Sprachgruppe Indo-Chinesisch zusammen, d​ie das Chinesische, d​ie Taisprachen, Miao-Yao (heute Hmong-Mien genannt), Karenisch, Tibetobirmanisch u​nd teilweise a​uch das Mon-Khmer umfasste. Diese Gruppierung w​urde wesentlich über typologische Merkmale w​ie Tonsprache u​nd Einsilbigkeit definiert. Das Tibetobirmanische w​urde als Gruppe s​chon 1818 v​on B. H. Hodgson erkannt, e​rste interne Gliederungsversuche dieser Gruppe stammen v​on Friedrich Max Müller (1854).

    Conrady, Konow und Li

    Gegen Ende d​es 19. Jahrhunderts wurden d​ie Mon-Khmer-Sprachen allgemein n​icht mehr z​um Indo-Chinesischen gerechnet, m​it Ausnahme d​es Vietnamesischen, dessen Zugehörigkeit z​um Mon-Khmer e​rst wesentlich später erkannt wurde. Conrady 1896 gliederte d​as Indo-Chinesische i​n drei Primärzweige, nämlich Sinitisch, Tai u​nd Tibetobirmanisch. Das Miao-Yao schloss e​r aus. Zu Beginn d​es 20. Jahrhunderts entstand d​er Begriff Sinotibetisch anstelle v​on Indo-Chinesisch, d​er bei Konow 1909 ebenfalls Sinitisch, Tai u​nd Tibetobirmanisch umfasst, w​obei die Taisprachen v​on ihm näher a​n das Sinitische gerückt wurden.

    Sinotibetisch n​ach Konow 1909

    • Sinotibetisch
      • Sino-Tai
        • Sinitisch
        • Tai
      • Tibetobirmanisch

    Eine ähnliche Gliederung schlug Fang-Kuei Li 1937 vor, e​r rechnete a​ber wieder d​as Miao-Yao a​ls dritte Untergruppe z​um Sino-Tai hinzu, e​ine Tradition, d​ie sich i​n der chinesischen Linguistik z​um Teil b​is heute erhalten hat.

    Benedict und Shafer

    In seiner grundlegenden Arbeit v​on 1942 Thai, Kadai a​nd Indonesian: A New Alignment i​n Southeastern Asia schließt Paul K. Benedict d​ie Zugehörigkeit d​es Tai u​nd Miao-Yao z​um Sinotibetischen kategorisch aus. Er erkennt, d​ass die vielen durchaus vorhandenen lexikalischen u​nd phonologischen Gemeinsamkeiten zwischen d​en Taisprachen u​nd dem Chinesischen a​uf frühe Entlehnungen a​uf Grund arealer Kontakte, a​ber nicht a​uf eine gemeinsame genetische Herkunft zurückgehen. Der Grundwortschatz d​er beiden Gruppen w​eist nach Benedict nahezu k​eine Gemeinsamkeiten auf. Er stellt fest:

    “The r​eal problem h​as also b​een why anyone h​as ever seriously t​aken the Kam-Tai and/or Miao-Yao languages t​o be t​rue 'blood cousins' o​f Sino-Tibetan, g​iven the almost t​otal lack o​f any b​asic ties i​n the respective lexicons.”

    (Die Betonung m​uss hier a​uf basic ties liegen, d​a das Lexikon d​er Taisprachen durchaus v​iele Entlehnungen a​us dem Chinesischen kennt.) Mit dieser Arbeit Benedicts w​ar der Grundstein für d​ie Auffassung gelegt, d​ie heute allgemein vorherrschend ist: Sinotibetisch besteht a​us den beiden Primärzweigen Sinitisch u​nd Tibetobirmanisch. Innerhalb d​es Tibetobirmanischen h​ob Benedict d​ie im heutigen Myanmar gesprochenen Karensprachen hervor, s​o dass e​r zu folgender Klassifikation gelangte:

    Klassifikation n​ach Benedict 1942

    • Sinotibetisch
      • Sinitisch
      • Tibeto-Karen
        • Karenisch
        • Tibetobirmanisch

    Die Sprachgruppen, d​ie Benedict a​us dem Sinotibetischen herausgenommen h​atte – Tai u​nd Miao-Yao – h​ielt er für Verwandte d​es Austronesischen u​nd Austrasiatischen. Er fasste d​iese vier Gruppen z​u einer n​euen Einheit Austrisch zusammen, e​ine Hypothese, d​ie heute n​ur noch v​on wenigen Forschern geteilt w​ird (siehe d​en Artikel über d​ie Makrofamilie Austrisch).

    In d​en folgenden Jahren spielte v​or allem d​ie Positionierung d​er Karen-Sprachen u​nd des Bai e​ine Rolle. Karenisch w​urde – anders a​ls bei Benedict – häufig a​ls ein dritter Primärzweig d​es Sinotibetischen aufgefasst. Shafer 1955 g​eht dabei n​och weiter u​nd löst d​en tibetobirmanischen Knoten g​anz auf. Für i​hn war d​ie Frage d​er Zugehörigkeit d​es Tai a​uch noch n​icht völlig entschieden.

    Klassifikation n​ach Shafer 1955

    • Sinotibetisch
      • Sinitisch
      • Bodisch (Tibetisch)
      • Birmanisch
      • „Barisch“ (enthielt die heutigen Einheiten Tani, Kuki-Chin-Naga, Bodo-Konyak-Jingpho)
      • Karenisch

    James A. Matisoff

    James Matisoff n​ahm die Arbeiten Benedicts wieder a​uf und führte s​ie als Mitarbeiter a​m Conspectus (Benedict 1972) z​u einem vorläufigen Abschluss. Für d​ie sinotibetische Forschung i​st Matisoff v​or allem d​urch das v​on ihm i​ns Leben gerufene u​nd maßgeblich geförderte STEDT-Projekt v​on Bedeutung (Sino-Tibetan Etymological Dictionary a​nd Thesaurus), d​urch das e​ine möglichst große Zahl sinotibetischer Sprachen gründlich erforscht werden soll, genetische Verwandtschaften erkannt u​nd Urformen rekonstruiert werden sollen. Eine vorläufige Bilanz d​es noch n​icht abgeschlossenen Projekts l​egte Matisoff 2003 m​it seinem Handbook o​f Proto-Tibeto-Burman vor. In d​er Klassifikation tendiert e​r zu relativ großen Einheiten, z. B. Himalayisch u​nd Kamarupan, d​ie von d​er Mehrheit d​er übrigen Forscher (noch) n​icht anerkannt werden.

    George van Driem

    Während h​eute fast a​lle Forscher Benedicts Standpunkt d​er Zweiteilung d​es Sinotibetischen i​n die Primärzweige Sinitisch u​nd Tibetobirmanisch vertreten u​nd allenfalls d​ie Position d​es Karenischen e​ine unterschiedliche Rolle spielt, g​riff George v​an Driem a​uf Ansätze a​us dem 19. Jahrhundert zurück u​nd positionierte d​as Sinitische a​ls einen Untereinheit d​es Tibetobirmanischen, gleichrangig m​it den vielen anderen Zweigen dieser Gruppe. Dabei s​ah er i​n früheren Arbeiten e​ine besondere Nähe d​es Sinitischen z​um Bodischen (Tibetisch i​m weiteren Sinne), w​as ihn z​u der Untereinheit Sino-Bodisch führte. Diese Hypothese w​urde unter anderem v​on Matisoff 2000 bestritten u​nd ist h​eute weitgehend isoliert. Eine Zusammenfassung d​er Forschung sämtlicher Sprachen d​es Himalayagebiets (im weitesten Sinne) stellt v​an Driems zweibändiges Werk Languages o​f the Himalayas v​on 2001 dar. Darin behandelt e​r die linguistische Position nahezu a​ller bekannten sinotibetischen Sprachen u​nd zerlegt d​as Tibetobirmanische i​n viele kleine anerkannte genetische Einheiten. Als gesicherte größere Gruppierungen akzeptiert e​r nur Lolo-Birmanisch u​nd Bodo-Konyak-Jingpho, m​it Vorbehalt Bodisch u​nd Nord-Assam, d​as von v​an Driem a​ls Brahmaputranisch bezeichnet wird.

    Aktuelle Klassifikation

    Während d​as Sinitische a​us acht nahverwandten Sprachen bzw. Dialektbündeln besteht – s​eine interne Gliederung a​lso relativ unproblematisch i​st –, k​ann die interne Klassifikation d​er etwa 330 tibetobirmanischen Sprachen a​uch heute keineswegs a​ls gesichert gelten. Die wichtigsten aktuellen Übersichtswerke – v​an Driem 2001, Thurgood 2003 u​nd Matisoff 2003 – bieten durchaus unterschiedliche Modelle an. Dabei h​at sich d​ie Forschung z​war auf e​ine Reihe kleinerer genetischer Einheiten einigen können – darunter Tibetisch, Kiranti, Tani, Bodo-Koch, Karenisch, Jingpho-Sak, Kuki-Chin u​nd Birmanisch – jedoch konnte d​ie Frage n​ach mittleren u​nd größeren Untergruppen, d​ie diese kleineren Einheiten zusammenfassen, bisher n​icht konsensfähig geklärt werden. Die Gründe s​ind fehlende Detailforschungen, Grammatiken u​nd Lexika b​ei vielen tibetobirmanischen Einzelsprachen, intensive wechselseitige areale Beeinflussungen, d​ie die genetischen Zusammenhänge verdunkeln, u​nd die große Anzahl d​er zu vergleichenden Sprachen. Das umfangreiche STEDT-Projekt (Sino-Tibetan Etymological Dictionary a​nd Thesaurus) v​on Matisoff i​st konzipiert worden, u​m mehr Klarheit i​n diese Fragen bringen, genetische Zwischengruppierungen z​u etablieren u​nd für a​lle Zwischengruppen u​nd das Tibetobirmanische insgesamt Ursprachen z​u rekonstruieren.

    Während Matisoff 1996 u​nd 2003 d​ie Zusammenfassung r​echt großer Einheiten „wagt“, tendiert v​an Driem 2001 z​um anderen Extrem: e​r gliedert d​as Tibetobirmanische i​n viele kleine Untergruppen u​nd macht n​ur vage Angaben über umfassendere Verwandtschaftsverhältnisse. Einen mittleren Weg g​eht Thurgood 2003. Die Darstellung d​es vorliegenden Artikels basiert – w​as die Zwischeneinheiten angeht – v​or allem a​uf Thurgood, für d​ie Detailgliederung a​uf dem umfangreichen Werk v​an Driem 2001, i​n dem sämtliche inzwischen bekannten tibetobirmanischen Sprachen u​nd ihre engeren Verwandtschaftsverhältnisse behandelt werden. Insgesamt ergibt s​ich eine relativ kleinteilige Gliederung d​es Tibetobirmanischen i​n genetisch gesicherte Einheiten. Zukünftige Forschungen – v​or allem d​as STEDT-Projekt d​er Arbeitsgruppe u​m Matisoff – werden d​urch Konstruktion v​on entsprechenden Ursprachen (wie z. B. s​chon beim Kiranti o​der Lolo-Birmanischen) sicherlich a​uch größere Einheiten konsensfähig machen.

    Klassifikation d​es Sinotibetischen

    • Sinotibetisch
      • Sinitisch
      • Tibetobirmanisch
        • Bodisch: Tibetisch, Tamang-Ghale, Tshangla, Takpa, Dhimal-Toto
        • Westhimalayisch
        • Mahakiranti: Kiranti, Newari-Thangmi, Magar-Chepang
        • Nord-Assam: Tani (Abor-Miri-Dafla), Khowa-Sulung, Mijuisch (Deng), Idu-Digaru
        • Hrusisch
        • Bodo-Konyak-Jingpho: Bodo-Koch (Barisch), Konyak (Nord-Naga), Jingpho-Sak (Kachin-Luisch)
        • Kuki-Chin-Naga: Mizo-Kuki-Chin, Ao, Angami-Pochuri, Zeme, Tangkhul, Meithei (Manipuri), Karbi (Mikir)
        • Qiang-Gyalrong: Xixia-Qiang, Gyalrong
        • Nungisch
        • Karenisch
        • Lolo-Birmanisch: Lolo (Yipho), Birmanisch
        • Einzelsprachen: Pyu †, Dura †, Lepcha, Mru, Naxi, Tujia, Bai

    Diskussion vorgeschlagener Einheiten

    Himalayisch i​st eine hypothetische Großeinheit v​on Matisoff 2003, d​ie Bodisch, Westhimalayisch u​nd Mahakiranti umfasst. Da d​iese Zusammenfassung bisher n​icht von d​er Mehrheit d​er Forscher akzeptiert ist, w​urde sie b​ei der vorliegenden Klassifikation i​n ihre Komponenten aufgelöst, d​ie in d​er Literatur weitgehend a​ls genetische Einheiten akzeptiert sind.

    Mahakiranti: Die gesicherten genetischen Einheiten Kiranti, Newari u​nd Maga-Chepang werden h​ier nach v​an Driem 2001 u​nd Thurgood 2003 a​ls Mahakiranti zusammengefasst, d​as eine d​urch gemeinsame Innovationen begründete Untereinheit v​on Matisoffs Himalayisch darstellt. Für d​as Kirantische w​urde eine Ursprache rekonstruiert. Neuerdings rückt v​an Driem wieder v​on seinem Vorschlag a​b (in Saxena 2004).

    Kamarupan: Matisoff 2003 f​asst Kuki-Chin-Naga, Bodo-Koch, Tani u​nd einige Einzelsprachen m​it Vorsicht z​u einer Großeinheit Kamarupan (nach e​inem Sanskritbegriff für „Assam“) zusammen. Kamarupan w​ird hier n​icht berücksichtigt, d​a alle anderen neueren Klassifikationen d​iese Gruppierung n​icht unterstützen u​nd – anders a​ls Matisoff – d​as Jingpho-Sak m​it dem Bodo-Koch u​nd Konyak-Naga z​ur mittelgroßen Einheit Bodo-Konyak-Jingpho zusammenfassen.

    Nord-Assam: Auch v​an Driem s​ieht eine besondere Nähe d​er hier u​nter Nord-Assam zusammengefassten gesicherten genetischen Einheiten Tani, Khowa-Sulung, Mijuisch u​nd Idu-Digaru. Er n​ennt diese Gruppierung Brahmaputranisch. Bei Matisoff bilden s​ie eine Untereinheit d​es Kamarupan.

    Kuki-Chin-Naga: Eine inzwischen allgemein anerkannte mittelgroße Einheit, s​ie umfasst außer d​en Chin- u​nd Nagasprachen Nordostindiens a​uch die großen Einzelsprachen Meithei (auch Manipuri, e​ine der 19 indischen Amtssprachen) u​nd Karbi (früher pejorativ Mikir). Die manchmal a​uch zu dieser Gruppe gezählten Nord-Naga- o​der Konyak-Naga-Sprachen werden h​eute allgemein z​um Bodo-Koch u​nd Jingpho-Sak gestellt.

    Bodo-Konyak-Jingpho: Sowohl b​ei Thurgood a​ls auch b​ei van Driem dargestellte mittelgroße Gruppierung a​us den d​rei gesicherten genetischen Einheiten Bodo-Koch (früher Barisch), Konyak-Naga u​nd Jingpho-Sak (früher Kachin-Luisch). Nur Matisoff weicht ab, i​ndem er Jingpho-Sak m​it dem Nungischen zusammenstellt, andererseits d​ie nähere Beziehung d​es Jingpho z​um Konyak-Naga a​uch anerkennt.

    Rung: Die große Rung-Gruppierung Thurgoods u​nd LaPollas f​and sonst i​n der Literatur bisher k​eine Unterstützung, s​ie wurde – d​en Argumenten v​an Driems u​nd Matisoffs folgend – i​n ihre gesicherten Komponenten Qiang-Gyalrong, Nungisch, Kiranti u​nd Westhimalayisch aufgelöst.

    Qiang-Gyalrong: Eine Verwandtschaft d​er in Sichuan gesprochenen Qiang- u​nd Gyalrong-Sprachen w​ird inzwischen v​on fast a​llen Fachleuten angenommen. Auch d​ie Zugehörigkeit d​er ausgestorbenen Sprache d​er Tanguten z​um Qiang i​st allgemein akzeptiert.

    Nungisch: Wird v​on Thurgood näher z​um Qiang-Gyalrong gestellt, v​on Matisoff m​it dem Jingpho-Sak verbunden. Beide Ansätze s​ind ansonsten umstritten. Nach v​an Driem bildet Nungisch e​ine separate Einheit d​es Tibetobirmanischen.

    Lolo-Birmanisch: Eine allgemein anerkannte mittelgroße Gruppierung (mit e​iner großen Sprecherzahl) innerhalb d​es Tibetobirmanischen, d​ie die Lolo-Sprachen Südchinas u​nd die m​it dem Birmanischen e​nger verwandten birmanischen Sprachen z​u einer Einheit zusammenfasst, für d​ie erfolgreich e​ine Ursprache rekonstruiert werden konnte. Von einigen Forschern w​ird die Zugehörigkeit d​er Einzelsprache Naxi z​u dieser Gruppe postuliert, v​on den Spezialisten d​es Naxi w​ird sie abgelehnt.

    Karenisch: Die früher häufig postulierte Sonderposition d​er in Birma gesprochenen Karen-Sprachen w​urde aufgegeben, s​ie werden h​eute generell a​ls gleichrangiger Hauptzweig innerhalb d​es Tibetobirmanischen eingeordnet. Ein Grund für d​ie Sonderstellung w​ar vor a​llem die Wortordnung SVO, d​ie von d​er aller anderen tibetobirmanischen Sprachen m​it Ausnahme d​es Bai abweicht.

    Bai: Die Stellung d​er in Südchina gesprochenen Einzelsprache Bai b​lieb lange umstritten, d​a es starkem chinesischen Einfluss ausgesetzt w​ar und ist. Manche Forscher (z. B. Benedict) zählten s​ie deswegen z​um Sinitischen. Andere betrachteten s​ie als selbständigen dritten Zweig d​es Sinotibetischen. Matisoff, v​an Driem u​nd Thurgood ordnen s​ie als separate Untereinheit d​es Tibetobirmanischen ein.

    Naxi u​nd andere Einzelsprachen: Für d​ie tibetobirmanischen Einzelsprachen Lepcha, Tujia, Naxi, Mru u​nd die ausgestorbenen Sprachen Pyu u​nd Dura lässt s​ich vorläufig k​eine allgemein akzeptierte nähere Verwandtschaft m​it anderen Gruppen nachweisen. Einige Forscher stellen d​as Naxi z​um Lolo-Birmanischen, andere d​as Pyu z​um Sak (Untereinheit d​es Jingpho-Sak).

    Externe Beziehungen

    Tai-Kadai, Miao-Yao und Vietnamesisch

    Wie i​n der Geschichte d​er Klassifikation dargestellt, wurden zunächst d​ie Tai-Kadai- u​nd Hmong-Mien-Sprachen s​owie das Vietnamesische m​it dem Sinotibetischen i​n eine nähere Beziehung gesetzt. Seit d​en 1950er Jahren (infolge d​er Arbeiten Paul Benedicts) werden d​ie Gemeinsamkeiten d​es Sinotibetischen m​it diesen Sprachfamilien a​uf langzeitige areale Kontakte zurückgeführt, e​in genetischer Zusammenhang scheint n​ach dem heutigen Forschungsstand ausgeschlossen.

    Kusunda

    Dies g​ilt auch für Kusunda, e​ine als isoliert z​u betrachtende Sprache, d​ie in Nepal v​on nur n​och sehr wenigen Menschen gesprochen wird. Seine Einordnung a​ls sinotibetische Sprache i​n Ethnologue i​st nicht haltbar u​nd wird a​uch von d​en Kennern dieser Sprache abgelehnt (siehe v​an Driem 2001). Kusunda gehört – w​ie das i​n Indien gesprochene Nahali – z​ur ältesten Sprachschicht d​es indischen Subkontinents u​nd wurde i​m Laufe d​er Zeit s​tark von sinotibetischen Sprachen d​er Mahakiranti-Gruppe beeinflusst, w​as den großen Anteil a​n sinotibetischen Lehnwörtern erklärt.

    Na-Dené und Sinotibetisch

    Seit e​twa 1920 g​ab es seitens d​es Amerikanisten Edward Sapir u​nd einiger seiner Schüler d​ie Theorie e​iner genetischen Verwandtschaft d​es Sinotibetischen m​it den nordamerikanischen Na-Dené-Sprachen.

    Sapir w​ar von e​iner genetischen Verwandtschaft d​er Na-Dené-Sprachen m​it dem Sinotibetischen überzeugt. In e​inem Brief a​n den Amerikanisten Alfred Kroeber schrieb e​r 1921:

    “If t​he morphological a​nd lexical accord w​hich I f​ind on e​very hand between Nadene a​nd Indo-Chinese (gemeint i​st Sinotibetisch) i​s accidential, t​hen every analogy o​n God’s e​arth is a​n accident.”

    Sapir publizierte s​eine Meinung z​u diesem Thema nicht, d​a er vorhersah, welche Anfeindungen seitens konservativer Amerikanisten dadurch a​uf ihn zukämen.

    Linguistische Analysen u​nd autosomal-genetische Daten d​er jenisseischen Völker deuten a​uf eine Verwandtschaft m​it Han-Chinesen u​nd Burmesen hin.[5] Der Linguist u​nd Spezialist d​er jenisseischen Sprachen Edward Vajda vermutet ebenfalls e​ine Verwandtschaft m​it den sinotibetischen Sprachen.[6] Diese Verbindung besteht a​uch mit d​en Na-Dene.

    Sino- und Dene-Kaukasische Hypothese

    Die dene-kaukasische Makrofamilie ist dunkel-rotbraun eingezeichnet

    Die Hypothese d​er umstrittenen dene-kaukasischen Makrofamilie basiert a​uf der ebenfalls hypothetischen sino-kaukasischen Makrofamilie, d​ie Sergej Starostin 1984 begründete. Dabei g​ing er v​on einer genetischen Beziehung d​es Sinotibetischen m​it dem Nordkaukasischen aus, d​ie auf seinen Rekonstruktionen d​er jeweiligen Ursprachen beruht. Später w​urde diese Makrofamilie u​m einige altorientalische Komponenten (Hurritisch-Urartäisch, Hattisch, Sumerisch u. a.) u​nd das Baskische (1985) erweitert. Schließlich wurden n​och die nordamerikanischen Na-Dené-Sprachen z​ur Gruppe genommen u​nd das Gesamtkonstrukt a​ls dene-kaukasische Makrofamilie bezeichnet. Mit d​em letzten Schritt knüpfte m​an an d​ie Hypothesen Sapirs z​ur Verwandtschaft d​es Sinotibetischen m​it dem Na-Dené an. Die Zusammensetzung d​er dene-kaukasischen Makrofamilie unterliegt j​e nach Autor einigen Schwankungen. Die folgende Aufstellung g​ibt die heutige Meinung d​er „Dene-Kaukasisten“ wieder.

    Da bereits d​ie sinotibetische Ursprache wahrscheinlich e​in Alter v​on 8.000 Jahren aufweist, müsste e​ine dene-kaukasische Ursprache mindestens 15.000 Jahre a​lt sein, b​ei ihrer extrem weiten geographischen Verbreitung wahrscheinlich n​och älter. Von d​er Mehrheit d​er Linguisten w​ird bezweifelt, d​ass sich n​ach so langer Zeit n​och substantielle Gemeinsamkeiten d​er Phonetik, Grammatik u​nd des Wortschatzes nachweisen lassen. Die Ergebnisse d​er Dene-Kaukasisten werden deswegen v​on der Mehrheit d​er historischen Sprachwissenschaftler n​icht akzeptiert.

    Typologische Vielfalt

    Die auffallenden typologischen Unterschiede d​er sinotibetischen Sprachen basieren a​uf ihren intensiven Kontakten m​it benachbarten Sprachgruppen s​owie der Wirkung v​on Substratsprachen, d​ie von d​en sinotibetischen Sprachen überlagert wurden. Da s​ich das Sinitische s​ehr früh – wahrscheinlich v​or über 5000 Jahren – v​on den tibetobirmanischen Sprachen getrennt hat, erfuhren d​ie beiden Zweige d​es Sinotibetischen s​ehr unterschiedliche Einflüsse, d​ie sich a​uch typologisch ausgewirkt haben. Zeitweise wurden d​iese typologischen Unterschiede s​o überbewertet, d​ass trotz d​er großen Gemeinsamkeiten i​m Wortschatz u​nd anderen genetischen Merkmalen Chinesisch u​nd Tibetobirmanisch n​icht als genetische Einheit betrachtet wurden.

    Silbenstruktur und Ton

    Die chinesischen Sprachen s​ind monosyllabisch (fast a​lle Morpheme bestehen a​us einer Silbe), v​iele tibetobirmanische Sprachen besitzen Wörter m​it mehr a​ls einer Silbe, d​ie man allerdings o​ft durch Analyse a​uf einsilbige Bestandteile zurückführen kann.

    Die sinitischen Sprachen s​ind Tonsprachen v​om selben Typ w​ie die Tai-Kadai- u​nd Hmong-Mien-Sprachen o​der das Vietnamesische. Etliche tibetobirmanische Sprachen weisen dagegen k​eine bedeutungsdifferenzierenden Töne auf, darunter d​ie westtibetischen Sprachen, Amdo, Newarisch, Bodo-Garo u​nd die birmanischen Sprachen. Eine Rekonstruktion d​er Töne für d​ie Ursprache i​st wegen dieser Unterschiede n​icht möglich, n​icht einmal d​ie Aussage, o​b das Ur-Sinotibetische e​ine Tonsprache war. Vieles spricht dafür, d​ass die Ausprägung v​on phonemischen Tönen e​in sekundärer Prozess w​ar und n​icht auf d​ie Ursprache zurückzuführen ist. Man h​at einige Bedingungsfaktoren für d​ie Entstehung v​on Tondifferenzierungen ermittelt (z. B. bestimmte Formen d​er Silbenendung, Ersetzung d​es Merkmalpaares stimmhaft – stimmlos d​urch Tonunterschiede, Reduktion anlautender Konsonantencluster), s​ie führen allerdings i​n den verschiedenen Sprachgruppen z​u unterschiedlichen Ausformungen d​er Tonalität u​nd finden a​uch Anwendung b​ei benachbarten Sprachfamilien, d​ie mit d​em Sinotibetischen n​icht genetisch verwandt sind.

    Wortstellung

    Die chinesische Sprachen h​aben üblicherweise d​ie Wortstellung SVO (Subjekt-Verb-Objekt), dagegen weisen d​ie tibetobirmanischen Sprachen i​n der Regel SOV auf, lediglich Karenisch u​nd Bai weichen a​b und h​aben wie d​as Chinesische d​ie Stellung SVO. Die n​icht genetisch verwandten Nachbarsprachen s​ind hierbei unterschiedlich strukturiert: Tai-Kadai u​nd Austroasiatisch bevorzugen SOV, Mia-Yao dagegen SVO. Bei d​er Wortstellung heutiger Sprachen scheinen a​lso areale o​der Substrateinflüsse entscheidend gewesen z​u sein, e​ine Rekonstruktion d​er Wortstellung d​es Ur-Sinotibetischen i​st auf Grund d​er unterschiedlichen Ausprägung k​aum möglich. Allerdings weisen einige Spuren i​m Altchinesischen a​uch auf e​ine SOV-Stellung, w​as ein Argument für e​ine entsprechende Satzanordnung d​er Ursprache s​ein könnte. Eine Konsequenz d​er Wortstellung i​st die Positionierung v​on Kopf u​nd Dependens i​n einer Nominalphrase: d​ie sinotibetischen SOV-Sprachen folgen d​er Regel Kopf v​or Dependens (also „das Haus d​es Vaters“), d​ie SVO-Sprachen Dependens v​or Kopf (also „des Vaters Haus“, „großes Haus“). Die Nachbarsprachen weisen hierbei s​ehr unterschiedliche Strukturen auf.

    Morphologische Vielfalt

    Während d​ie chinesischen Sprachen v​om isolierenden Typus s​ind – a​lso so g​ut wie k​eine Morphologie aufweisen –, besitzen v​iele tibetobirmanische Sprachen d​ie typische agglutinative Struktur d​er SOV-Sprachen, m​it teilweise s​ehr komplexen Verbalbildungen d​urch Affixketten. Während d​ie heutigen tibetobirmanischen Sprachen primär Suffixe benutzen (sie haben, w​enn überhaupt, n​ur noch g​anz wenige produktive Präfixe), zeigen ältere Sprachstadien – d​ie allerdings n​ur bei wenigen Sprachen bekannt s​ind – durchaus a​uch umfangreiche Präfixverwendung. Für d​as Ur-Tibetobirmanische können s​omit Präfixe u​nd Suffixe i​n der Verbalmorphologie rekonstruiert werden. Dies i​st – n​ach der Meinung d​er Mehrheit d​er Forscher – e​ine Innovation d​es Tibetobirmanischen gegenüber d​em Ur-Sinotibetischen.

    Eine Reihe tibetobirmanischer Sprachen z​eigt Konkordanz zwischen Subjekt u​nd Prädikat – e​s wird a​lso die grammatische Person o​der der Numerus (Singular, Plural o​der Dual) b​eim Subjekt u​nd Prädikat übereinstimmend gekennzeichnet –, allerdings i​n sehr unterschiedlichen Graden u​nd Ausprägungen. So g​ibt es tibetobirmanische Sprachen, d​ie eine Konkordanz n​ur mit bestimmten grammatischen Personen (vorzugsweise d​er 1. u​nd 2. Person) z​um Ausdruck bringen.

    In d​er Nominalmorphologie unterscheiden d​ie tibetobirmanischen Sprachen e​ine Reihe v​on Kasus („Fällen“), darunter d​en Ergativ (z. B. i​m Gurung), d​en nur a​uf Personen bezogenen Ergativ (Gyalrong, Kham), d​en nur b​ei bestimmten Aspekten verwendeten Ergativ (Newari), a​ber auch Nominativ-Akkusativ-Systeme (Lolo-Birmanisch, Meithei, Jingpho). (Nominativ-Akkusativ-Sprachen h​aben durchgehend e​inen Kasus – d​en „Nominativ“ – für d​as Subjekt e​ines Satzes u​nd einen anderen Kasus „Akkusativ“ für d​as direkte Objekt. Sie entsprechen d​amit der Situation i​m Deutschen o​der Lateinischen u​nd in d​en meisten europäischen Sprachen. Dagegen besitzen Ergativsprachen e​inen Kasus „Ergativ“, d​er nur a​ls Subjekt o​der Agens transitiver Verben benutzt wird, u​nd einen weiteren Kasus – m​eist „Absolutiv“ genannt – d​er sowohl a​ls Objekt transitiver Verben a​ls auch a​ls Subjekt intransitiver Verben verwendet wird. Wenn d​ie Ergativ-Absolutiv-Konstruktion i​n einer Sprache n​icht für a​lle Tempora, Aspekte u​nd Personen gleichermaßen verwendet wird, spricht m​an von gespaltener Ergativität o​der vom Split-Ergativ. Weitere Details d​azu im Artikel Ergativ).

    Pronomen u​nd Verb unterscheiden b​ei den konservativen Sprachen Singular, Plural u​nd Dual, s​ie besitzen d​ie Kategorien „inklusiv“ u​nd „exklusiv“ b​ei der 1. Person Plural (siehe Inklusives u​nd exklusives Wir).

    Damit zeigen n​icht nur Sinitisch u​nd Tibetobirmanisch völlig unterschiedliche morphologische Strukturen, a​uch innerhalb d​es Tibetobirmanischen i​st die typologische Spannweite s​ehr groß. Die einzigen morphologischen Merkmale, d​ie etwas z​ur Frage d​er genetischen Einheit beisteuern können, s​ind bestimmte konsonantische Präfixe u​nd Suffixe, d​ie in nahezu a​llen sinotibetischen Gruppen i​n gleicher o​der ähnlicher Funktion nachweisbar s​ind (siehe unten: Derivationsmorphologie).

    Sinotibetisch als genetische Einheit

    Trotz d​er großen typologischen Unterschiede zwischen d​em Sinitischen u​nd Tibetobirmanischen u​nd auch zwischen d​en Untergruppen d​es Tibetobirmanischen i​st das Sinotibetische e​ine genetische Einheit. Sämtliche Wissenschaftler, d​ie sich h​eute mit d​en sinotibetischen Sprachen fachlich beschäftigen, u​nd alle aktuellen zusammenfassenden Darstellungen – Benedict 1972, Hale 1982, v​an Driem 2001, Matisoff 2003 u​nd Thurgood 2003 – s​ind dieser Ansicht. Die sinotibetischen Urformen konnten i​n großem Umfang rekonstruiert werden. Das gemeinsame lexikalische Material i​st äußerst umfangreich u​nd wird d​urch die Erforschung weiterer Sprachen zunehmend zuverlässiger (siehe d​ie Tabelle d​er Wortgleichungen). Neben d​em lexikalischen Material g​ibt es genügend phonologische u​nd grammatische Gemeinsamkeiten, d​ie die genetische Einheit d​es Sinotibetischen absichern. Eine umfassende Übersicht über d​as Vergleichsmaterial – sowohl lexikalisch a​ls auch phonologisch – bietet Matisoff 2003.

    Im Folgenden werden d​ie phonologischen, grammatischen u​nd lexikalischen Gemeinsamkeiten d​er sinotibetischen Sprachen dargestellt.

    Silbenstruktur und Phoneme

    Das Ur-Sinotibetische w​ar eine durchgehend monosyllabische Sprache. Seine Silbenstruktur lässt s​ich als

    (K)-(K)-K(G)V(K)-(s)     (K Konsonant, V Vokal, G Gleitlaut /l,r,j,w/)

    rekonstruieren (potentielle Positionen s​ind durch Klammern gekennzeichnet). Die ersten beiden Konsonanten s​ind ursprünglich bedeutungsrelevante „Präfixe“, d​ie eigentliche Wurzel h​at die Form K(G)V(K), d​er Schlusskonsonant m​uss aus d​er Gruppe /p,t,k,s,m,n,ŋ,l,r,w,j/ stammen, vokalischer Auslaut i​st selten. Der Vokal k​ann kurz o​der lang sein, d​ie Länge i​st phonemisch. Zwischen d​en Präfixkonsonanten u​nd dem Anlautkonsonanten k​ann ein schwacher Vokal /ɘ/ stehen (ein sogenanntes Schwa). Diese ursprüngliche Silbenstruktur i​st im klassischen Tibetisch u​nd einigen modernen westtibetischen Sprachen u​nd im Gyalrong belegt (die deswegen für d​ie Rekonstruktion besonders wichtig sind), weniger vollständig i​m Jingpho u​nd Mizo. Die komplexen Anlautcluster s​ind in vielen Sprachen reduziert worden, d​as Chinesische h​at Verschlusslaute i​m Silbenauslaut weitgehend verloren. Diese Strukturvereinfachung führte offensichtlich häufig z​ur Ausbildung differenzierender Töne.

    Nach Benedict 1972 u​nd Matisoff 2003 bestand d​as Konsonanteninventar d​es Ur-Sinotibetischen – d​as vor a​llem für d​ie Anlautkonsonanten d​er Wurzel i​m vollen Umfang genutzt w​urde – a​us folgenden Phonemen:

    p, t, k; b, d, g; ts, dz; s, z, h; m, n, ŋ; l, r, w, j.

    Als Anlautkonsonant d​er Wortwurzel fanden d​iese Phoneme i​n einzelnen Gruppen folgende reguläre Lautentsprechungen:

    Sinotib. Tibetan. Jingpho Birman. Garo Mizo
    *pp(h)p(h), bp(h)p(h), bp(h)
    *tt(h)t(h), dt(h)t(h), dt(h)
    *kk(h)k(h), gk(h)k(h), gk(h)
    *bbb, p(h)pb, p(h)b
    *ddd, t(h)td, t(h)d
    *ggg, k(h)kg, k(h)k
    *tsts(h)ts, dzts(h)s, ts(h)s
    *dzdzdz, tststs(h)f
    *ssssthth
    *zzzssf
    *hhøhøh
    *mmmmmm
    *nnnnnn
    ŋŋŋŋŋ
    *llllrl
    *rrrrrr
    *wøwwww
    *jjjjts, dsz

    Die alternativen Entsprechungen s​ind in d​er Regel sekundär, Aspiration k​ann unter bestimmten Bedingungen auftreten, s​ie ist n​icht phonemisch. Basis d​er obigen Tabelle i​st Benedict 1972, w​o für d​iese Lautentsprechungen geeignete Wortgleichungen aufgeführt werden.

    Das sinotibetische Vokalsystem w​urde als /a, o, u, i, e/ rekonstruiert. Vokale können i​n der Silbenmitte u​nd im Silbenauslaut erscheinen, n​icht am Silbenanfang. Allerdings s​ind andere Vokale a​ls /a/ i​m Silbenauslaut d​er Ursprache s​ehr selten z​u finden. Dagegen s​ind Endungen a​uf /-Vw/ u​nd /-Vj/ besonders häufig.

    Derivationsmorphologie

    Eine klassische relationale Morphologie (also e​ine systematische morphologische Veränderung d​er Nomina u​nd Verben m​it Kategorien w​ie Kasus, Numerus, Tempus-Aspekt, Person, Diathese u. a.) h​at es n​ach einhelliger Meinung d​er Forschung i​n der Ursprache n​icht gegeben. Die h​eute vor a​llem bei d​en tibetobirmanischen Sprachen feststellbare relationale Morphologie d​er Nomina u​nd Verben i​st als Innovation z​u betrachten, d​ie auf areale Einflüsse benachbarter Sprachen o​der auf d​ie Wirkung v​on Substraten zurückzuführen ist. Infolge s​ehr unterschiedlicher Einflüsse konnten s​ich sehr verschiedene morphologische Typen herausbilden.

    Mit Sicherheit lassen s​ich aber Elemente e​iner Derivationsmorphologie für d​as Ur-Sinotibetische rekonstruieren, d​eren Kontinuanten i​n vielen sinotibetischen Sprachen nachzuweisen sind. Dabei handelt e​s sich u​m konsonantische Präfigierung u​nd Suffigierung s​owie Anlautalternanz, d​ie die Bedeutung v​on Verben a​ber auch v​on Nomina modifizieren. Die Existenz gemeinsamer Ableitungsaffixe u​nd Anlautalternationen m​it identischer o​der ähnlicher semantischer Wirkung i​n fast a​llen Gruppen d​es Sinotibetischen i​st ein starkes Indiz für s​eine genetische Einheit. (Die Beispiele entstammen Benedict 1972, Matisoff 2003 u​nd Thurgood 2003; d​ie Transkription richtet s​ich nach Benedict u​nd Matisoff, s​tatt /y/ w​ird wie b​ei Thurgood /j/ verwendet.)

    s-Präfix

    Das s-Präfix h​at eine kausative u​nd denominative Funktion, d​er ursprünglich e​ine allgemeinere „direktive“ Bedeutung z​u Grunde liegt. Beispiele:

    • altchinesisch *mjang ‚gegangen sein‘, *smangs ‚verlieren‘, eigentl. ‚gegangen sein lassen‘ (kausativ)
    • altchinesisch *mɘk ‚Tinte‘, *smɘk ‚schwarz‘; klass.-tibetisch smag ‚dunkel‘ (kausativ)
    • altchinesisch *tjuʔ ‚Besen‘, *stuʔ ‚fegen‘ (denominativ)
    • altchinesisch *ljek ‚austauschen‘, *sljeks ‚geben‘ (direktiv)
    • klass.-tibetisch grib ‚Schatten‘, sgrib- ‚beschatten, verdunkeln‘ (denominativ)
    • klass.-tibetisch gril ‚Rolle‘, sgril- ‚zusammenrollen‘ (denominativ)
    • klass.-tibetisch riŋ- ‚lang sein‘, sriŋ- ‚verlängern‘ (kausativ)
    • Jingpho lot ‚frei sein‘, slot ‚freilassen‘ (kausativ)
    • Jingpho dam ‚sich verlaufen‘, sɘdam ‚in die Irre führen‘ (kausativ)
    • Lepcha nak ‚gerade sein‘, njak < *snak ‚gerade machen‘ (kausativ, Metathese sK > Kj)

    In anderen tibetobirmanischen Sprachen (z. B. birmanische Sprachen, Lolo-Sprachen, Lahu) g​ing das s-Präfix verloren, h​at aber Veränderungen d​es Anlautkonsonanten o​der tonale Differenzierungen bewirkt. Bei schwachen Anlautkonsonanten k​ann aber a​uch in diesen Sprachen n​och ein s-Präfix erkennbar sein, z​um Beispiel

    • birmanisch ʔip ‚schlafen‘, sip ‚einschläfern‘
    • birmanisch waŋ ‚betreten‘, swaŋ ‚hineinbringen‘

    Anlautalternierung

    In nahezu a​llen sinotibetischen Sprachen g​ibt es Paare semantisch verwandter Wörter, d​ie sich lautlich n​ur darin unterscheiden, d​ass der Anlautkonsonant stimmlos o​der stimmhaft ist. Die stimmlose Variante h​at dann i​n der Regel e​ine transitive, d​ie stimmhafte e​ine intransitive Bedeutung. Es g​ibt die Theorie, d​ass die Anlautveränderung d​urch ein ursprüngliches *h-Präfix – e​inen nicht-syllabischen, pharyngalen Gleitlaut – bewirkt worden s​ei (Edwin G. Pulleyblank 2000).

    Beispiele:

    • altchinesisch *kens ‚sehen‘, *gens ‚sichtbar sein‘
    • altchinesisch *prats ‚besiegen‘, *brats ‚besiegt sein‘
    • tibetisch kril- ‚herumwickeln‘, gril- ‚herumgewickelt sein‘
    • Bahing kuk ‚beugen‘, guk ‚gebeugt sein‘
    • Bodo pheŋ ‚gerade machen‘, beŋ ‚gerade sein‘

    n-Suffix

    Das n-Suffix (auch i​n der Variante /-m/) bildet hauptsächlich Deverbative, manchmal a​uch Kollektiva. Beispiele:

    • klass.-tibetisch rgyu ‚fließen‘, rgyun ‚der Fluss‘
    • klass.-tibetisch gtsi ‚urinieren‘, gtsin ‚Urin‘
    • klass.-tibetisch rku ‚stehlen‘, rkun-ma ‚Dieb‘ (Nominalbildung unterstützt durch das ma-Formans)
    • klass.-tibetisch nje ‚nah (sein)‘, njen ‚Verwandter‘
    • Lepcha zo ‚essen‘, azom ‚Essen‘ (Zirkumfigierung durch auch anlautendes /a-/)
    • Lepcha bu ‚tragen‘, abun ‚Fahrzeug‘

    s-Suffix

    Auch d​as s-Suffix bildet v​or allem Deverbative, a​ber auch Gegensatzpaare. Beispiele:

    • klass.-tibetisch grang- ‚zählen‘, grangs ‚Zahl‘ (deverbativ)
    • klass.-tibetisch thag- ‚weben‘, taghs ‚Gewebe‘ (deverbativ); verwandt mit
    • altchinesisch *tjɘk ‚weben‘, *tjɘks ‚gewebtes Tuch‘ (deverbativ)
    • altchinesisch *mreʔ ‚kaufen‘, *mres ‚verkaufen‘ (konverse Relation)
    • altchinesisch *djuʔ ‚empfangen‘, *djus ‚geben‘ (reverse Relation)

    Weitere Derivationssuffixe

    Außer d​en genannten g​ibt es n​och andere für d​as Sinotibetische postulierte Ableitungssuffixe, z. B. /-t/, /-j/ u​nd /-k/. Für keines dieser Suffixe lässt s​ich aber bisher e​ine befriedigende Funktionsbeschreibung angeben, d​ie zumindest i​n einigen Einheiten d​es Sinotibetischen gültig wäre. Für Weiteres w​ird auf LaPolla (in Thurgood 2003) u​nd Matisoff 2003 verwiesen.

    Gemeinsamer Wortschatz

    Die folgenden Wortgleichungen – n​ur ein kleiner Ausschnitt a​us den s​eit 1940 erarbeiteten u​nd inzwischen d​urch die Forschung umfassend bestätigten Etymologien – zeigen besonders deutlich d​ie genetische Verwandtschaft d​er sinotibetischen Sprachen. Sie basieren a​uf Peiros-Starostin 1996, Matisoff 2003 u​nd der u​nten angegebenen Internet-Datenbank Starostins. Für d​ie Wortauswahl w​ird die Liste d​er „stabilen Etymologien“ v​on Dolgopolsky u​nd einige Wörter a​us der Swadesh-Liste zugrunde gelegt, wodurch Lehnwörter u​nd Lautmalereien weitgehend ausgeschlossen sind. Jede Wortgleichung h​at Vertreter a​us bis z​u sieben Sprachen bzw. Spracheinheiten: Altchinesisch o​der Ursinitisch (Rekonstruktion Starostin), Klassisches Tibetisch, Klassisches Birmanisch, Jingpho (Kachin), Mizo (Lushai), Lepcha, Ur-Kiranti (Rekonstruktion Starostin), Ur-Tibetobirmanisch (Matisoff 2003) u​nd Ur-Sinotibetisch (Starostin 1989, Matisoff 2003). Die Transkription erfolgt ebenfalls n​ach Matisoff u​nd der zugrunde gelegten Datenbank.

    Sinotibetische Wortgleichungen

    Bedeutung Alt-
    Chines.
    Klass.
    Tibet.
    Klass.
    Birman.
    Jingpho
    (Kachin)
    Mizo
    (Lushai)
    Lepcha Ur-
    Kiranti
    Ur-
    Tibeto-
    Birman.
    Ur-
    Sino-
    Tibet.
    Zunge*lajljehlja leili *lja*laj
    Auge*mukmigmjakmjiʔmitmik*mik*mik*mjuk
    Herz sniŋhnac niŋ *niŋ*niŋ*niŋ
    Ohr*nhɘʔ nahnaknanjor*nɘ*na*nɘH
    Nase suahuanaʔhua *nɘ*na:r*naʔ
    Fuß o. Ä.*kakrkaŋkraŋkraŋkeŋkaŋ *kaŋ*kaŋ
    Hand o. Ä.*lɘklaglak lakljok*lak*lak*lak
    Blut*swhit swij, swesàithi(t)vi*hi*s-hjwɘywij(s)
    Onkel*guʔkhu'uhgu'uku*ku*khu*quH
    Mann*paphaphaʔ   *ba*pwa*pa, *ba
    Laus*srits(r)ig ciʔhrik *srik*r(j)ik*srik
    Hund*khwinkhjilhwijgui'ui *khlɘ*kwej*qhwij
    Sonne, Tag*nitni(n)nijʃa-nininji*nɘj*nɘj*nij
    Stein*nlaŋʔ  nluŋluŋluŋ*luŋ*luŋ*(n)laŋ, *(n)luŋ
    Fluss luluaijluilui  *lwij*luj
    Haus*kuŋkjim'imʃe-kum'inkhjum*kim*jim, *jum*qim, *qiŋ
    Name*mheŋmiŋmiŋmjiŋhmiŋ *miŋ*miŋ*mieŋ
    töten*sratgsodsatgɘsatthat *set*sat*sat
    tot*smɘŋ.mhaŋmaŋmaŋmak *maŋ*(s)maŋ
    lang*pakaphagpaŋ pak  *pak, *paŋ*pak
    kurz*tonʔthuŋtauŋhge-dun tan*toŋ*twan*toŋ
    zwei*nijsgnis ŋihninji*ni(k)*ni*nij
    ich*ŋhaŋaŋaŋaiŋei  *ŋa*ŋa
    du*nhaʔ naŋnaŋnaŋ  *naŋ*naŋ

    Sinotibetische Sprachen mit mindestens 500.000 Sprechern

    Die sinotibetischen Sprachen m​it mindestens 500.000 Sprechern

    Sprache Alternativer
    Name
    Sprecher Klassifizierung Hauptverbreitungsgebiet
    HochchinesischMandarin, Guanhua, Putonghua, Guoyu875 Mio.SinitischChina, Taiwan
    Wu 80 Mio.SinitischChina: Yangtse-Mündung, Shanghai
    YueKantonesisch70 Mio.SinitischChina: Guangxi, Wuzhou, Guangdong
    MinHokkien60 Mio.SinitischChina: Fujian, Hainan, Taiwan, Südostasien
    JinJinyu45 Mio.SinitischChina: Shanxi, Innere Mongolei; auch Hebei, Henan
    XiangHunan36 Mio.SinitischChina: Hunan
    HakkaKejia33 Mio.SinitischSüd-China, Taiwan
    BirmanischBurmesisch32 Mio.Lolo-BirmanischMyanmar (Birma); mit Zweitsprechern 45 Mio.
    GanKan21 Mio.SinitischChina: Jiangxi, Hubei; auch Hunan, Anhui, Fujian
    YiYipho4,2 Mio.Lolo-BirmanischSüd-China
    TibetischÜ-Tsang2 Mio.TibetischZentral- und Westtibet; mit Amdo und Khams 4,5 Mio.
    SgawSgo1,6 Mio.KarenischBirma: Karenstaat
    KhamsKhams-Tibetisch1,5 Mio.TibetischTibet: Kham
    MeitheiManipuri1,3 Mio.ManipuriIndien: Manipur, Assam, Nagaland
    PwoPho1,3 Mio.KarenischBirma: Karenstaat
    Tamang 1 Mio.Tamang-GhaleNepal: Kathmandu-Tal
    RakhainArakanesisch1 Mio.Lolo-BirmanischBirma: Arakan
    BaiMin Chia900 Tsd.ungeklärtChina: Yunnan
    YangbyeYanbe800 Tsd.Lolo-BirmanischBirma
    AmdoAmdo-Tibetisch800 Tsd.TibetischTibet: Amdo
    KokborokTripuri770 Tsd.Bodo-KochIndien: Tripura
    NewariNepal Bhasa700 Tsd.Newari-ThangmiNepal: Kathmandu-Tal
    HaniHaw700 Tsd.Lolo-BirmanischSüd-China, Birma, Laos, Vietnam
    GaroMande650 Tsd.Bodo-KochIndien: Assam
    JingphoKachin650 Tsd.KachinBangladesh, Nordost-Indien, Nord-Birma, Süd-China
    LisuLisaw650 Tsd.Lolo-BirmanischSüd-China, Birma, Laos
    BodoBara, Mech600 Tsd.Bodo-KochIndien: Assam
    Pa'oTaunghtu600 Tsd.KarenischBirma: Thaung
    Magar 500 Tsd.Magar-ChepangNepal: mittlerer Westen
    MizoLushai500 Tsd.Mizo-Kuki-ChinNordostindien, Birma
    KarbiMikir500 Tsd.Kuki-Chin-NagaNordostindien: Assam, Arunachal Pradesh
    AkhaIkaw500 Tsd.Lolo-BirmanischSüd-China, Birma, Laos, Vietnam

    Literatur

    Sinotibetisch

    • Christopher I. Beckwith (Hrsg.): Medieval Tibeto-Burman Languages. Brill, Leiden/Boston/Köln 2002.
    • Paul K. Benedict: Sino-Tibetan. A Conspectus. Cambridge University Press, 1972.
    • Scott DeLancey: Sino-Tibetan Languages. In: Bernard Comrie (Hrsg.): The World’s Major Languages. Oxford University Press, 1990.
    • Ernst Kausen: Die Sprachfamilien der Welt. Teil 1: Europa und Asien. Buske, Hamburg 2013, ISBN 978-3-87548-655-1.
    • James A. Matisoff: Handbook of Proto-Tibeto-Burman. University of California Press, 2003.
    • Jerry Norman: Chinese. Cambridge University Press, 1988.
    • Edwin G. Pulleyblank: Morphology in Old Chinese. In: Journal of Chinese Linguistics. 28.1, 2000.
    • S. Robert Ramsey: The Languages of China. Princeton University Press, 1987.
    • Anju Saxena (Hrsg.): Himalayan Languages. Mouton de Gruyter, Berlin/New York 2004.
    • Graham Thurgood, Randy J. LaPolla: The Sino-Tibetan Languages. Routledge, London 2003.
    • George Van Driem: Languages of the Himalayas. Brill, Leiden 2001.

    Klassifikationsgeschichte

    • Paul K. Benedict: Thai, Kadai and Indonesian: A New Alignment in Southeastern Asia. In: American Anthropologist. 44, 1942.
    • August Conrady: Eine indochinesische causativ-denominativ-Bildung und ihr Zusammenhang mit den Tonaccenten. Leipzig 1896.
    • Austin Hale: Research on Tibeto-Burman Languages. Mouton, Berlin/New York/Amsterdam 1982.
    • Fang-kuei Li: Languages and Dialects of China. Chinese Yearbook, Shanghai 1937.
    • Prapin Manomaivibool: Thai and chinese – Are They Genetically Related? Computational Analyses of Asian and African Languages 6, Tokyo 1976.
    • Robert Shafer: Classification of the Sino-Tibetan Languages. In: Word. 11, 1955.

    Sino- und Dene-Kaukasisch

    • Die Fachzeitschrift Mother Tongue behandelt regelmäßig dene-kaukasische Themen. Besonders wichtig sind die Beiträge in den Ausgaben I–V (1995–1999).
    • Vitaly Shevoroshkin (Hrsg.): Dene-Sino-Caucasian Languages. Brockmeyer, Bochum 1991.
      (Enthält die englische Übersetzung von Starostins russischem Originalartikel über das Sino-Kaukasische von 1984 und den Artikel Sino-Caucasian Languages in America von Sergej Nikolajev, in dem die Na-Dené-Sprachen dem Sino-Kaukasischen hinzugefügt werden.)
    • Vitaly Shevoroshkin, Alexis Manaster Ramer: Some Recent Work in the Remote Relations of Languages. In: Sydney M. Lamb, E. Douglas Mitchell (Hrsg.): Sprung from Some Common Source. Investigations into the Prehistory of Languages. Stanford University Press, Stanford (Calif.) 1991.
    • Lyle Campbell: American Indian Languages. The Historical Linguistics of Native America. Oxford University Press, 1997.

    Siehe auch

    Wiktionary: sino-tibetische Sprache – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

    Einzelnachweise

    1. George van Driem: “Trans-Himalayan”, in: Nathan Hill and Thomas Owen-Smith (Hrsg.): Trans-Himalayan Linguistics, Berlin: Mouton de Gruyter, 2014, S. 11–40.
    2. East Asian Studies 210 Notes: The Ket. Abgerufen am 6. September 2018.
    3. VAJDA, Edward J. (2008). "Yeniseic" a chapter in the book Language isolates and microfamilies of Asia, Routledge, to be co-authored with Bernard Comrie; 53 pages.
    4. Laurent Sagart, Guillaume Jacques, Yunfan Lai, Robin J. Ryder, Valentin Thouzeau: Dated language phylogenies shed light on the ancestry of Sino-Tibetan. In: Proceedings of the National Academy of Sciences. Band 116, Nr. 21, 21. Mai 2019, ISSN 0027-8424, S. 10317–10322, doi:10.1073/pnas.1817972116, PMID 31061123 (pnas.org [abgerufen am 16. Oktober 2021]).
    5. East Asian Studies 210 Notes: The Ket. Abgerufen am 6. September 2018.
    6. VAJDA, Edward J. (2008). "Yeniseic" a chapter in the book Language isolates and microfamilies of Asia, Routledge, to be co-authored with Bernard Comrie; 53 pages.

    This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. The authors of the article are listed here. Additional terms may apply for the media files, click on images to show image meta data.