Pockenimpfstoff
Ein Pockenimpfstoff ist ein Impfstoff gegen das Pockenvirus.[1]
Geschichte
Pockenimpfstoffe sind die ältesten bekannten Impfstoffe. Seit vermutlich etwa 1000 v. Chr. wurden in Indien Variolationen durchgeführt.[2] Die erste gesicherte Dokumentation über Pockenimpfungen stammt aus dem Jahr 1549 vom chinesischen Arzt Wan Quan (1499–1582) in seinem Werk Douzhen xinfa (痘疹心法).[3] Bei dieser Impfung wurde gemahlener Pockenschorf in die Nase der Impflinge geblasen. Die daraus resultierende Immunität senkte die Letalität einer Pockenvirusinfektion von 20 bis 30 % auf unter zwei Prozent. Bis ins 18. Jahrhundert wurden Impfungen zuerst mit Pockenviren (früher auch Variola major) als Lebendimpfstoff durchgeführt, was als Variolation bezeichnet wurde. In Jamaica ab 1729 begonnene Pockenimpfungen wurden vorgenommen, „da die Blattern sonst oft eine Menge Menschen hinwegrafft. So hofft man, daß durch diese Prozedur die Neger wohlfeiler werden und dieses endlich auf den Rumpreis Einfluß nehmen dürfte“.[4] Bereits 1767 führte der Mediziner Franz Heinrich Meinolf Wilhelm (1725–1794) am Würzburger Juliusspital die Pockenimpfung durch.[5] Ab Ende des 18. Jahrhunderts wurde von Edward Jenner der Wirksamkeitsnachweis einer Pockenimpfung mit dem Vacciniavirus (früher auch Variolae Vaccinae) erbracht,[6] die auch seltener zu einer Erkrankung führte.[7] Daraus leitet sich eine der heutigen Bezeichnungen für Impfung ab, die Vakzination, die Jenners Bekannter Richard Dunning im Jahr 1800 prägte.[8]
Das Vacciniavirus wurde ursprünglich für ein Kuhpockenvirus gehalten (lat. vacca – die Kuh). Inzwischen ist bekannt, dass das Vacciniavirus näher mit den Pferdepocken als mit den Kuhpocken verwandt ist.[9][10] Im Frühjahr 1800 unternahm Dunning eine Studienreise nach London zu Edward Jenner, um unter dessen Anleitung die von ihm 1796 entwickelte Pockenschutzimpfung zu erlernen. Auf seiner Rückreise führte er in Dover und mehreren französischen Städten Schutzimpfungen durch. Anlässlich seines Aufenthaltes in Paris wurde er eingeladen, am Institut National de Paris Vorträge über die neue Art der Vorsorge zu halten. Neben mehreren hochrangigen Offizieren war unter anderem auch Napoleon Bonaparte anwesend, der sich über den militärischen Nutzen von Impfungen erkundigte. Gerhard Reumont, der Kurarzt Kaiserin Joséphines, führte am 17. April 1801 in Aachen und im Département de la Roer die Pockenschutzimpfung ein. Am 26. August 1807 wurde in Bayern als weltweit erstem Land eine Impfpflicht eingeführt. Bereits 1812 wurden im Département de la Roer mehr als 10.000 Kinder jährlich geimpft und Reumont wurde von Napoleon Bonaparte für seine Verdienste um die Bekämpfung der Pocken öffentlich geehrt.[11] Ab 1803 wurde der Impfstoff im Rahmen der von der spanischen Krone finanzierten „Real Expedición Filantrópica de la Vacuna“ (Königlich philanthropische Impfexpedition, auch „Balmis-Expedition“) unter Leitung von Francisco Javier Balmis in die spanischen Kolonien nach Lateinamerika und Asien gebracht, um auch dort Impfkampagnen zu initiieren.
Im 20. Jahrhundert wurde die Attenuierung von Viren durch Passagieren in Zellkulturen entdeckt,[12] die zur Herstellung von Pockenvirus-Impfstämmen mit geringeren Nebenwirkungen eingesetzt wurde, z. B. das NYCBH (USA), EM-63 (UdSSR), Tempel des Himmels (China), das Modified-Vaccinia-Ankara-Virus (Deutschland) und ACAM2000.[13][14][15] Ab den 1960er Jahren wurden Pockenimpfstoffe mit einer von Benjamin Rubin entwickelten Bifurkationsnadel (Nadel mit geteilter Spitze) verabreicht, wodurch die notwendige Dosis des Impfstoffes auf ein Viertel verringert wurde.[16] In Westdeutschland endete 1976 die Impfpflicht für Pockenimpfstoffe, die in Deutschland seit dem Impfgesetz von 1874 gegolten hatte.[17] Die weltweite Verwendung von Pockenimpfstoffen mündete unter der Koordination durch Donald A. Henderson im Jahr 1980 in der Eradikation der Pocken.[9][18] 1981 wurde in Österreich die Impfpflicht aufgehoben.[19] Pockenviren werden seitdem noch in den Centers of Disease Control and Prevention in Atlanta und im staatlichen Forschungszentrum für Virologie und Biotechnologie „Vektor“ in Kolzowo gelagert.[18]
Seit 1992 werden attenuierte Pockenviren vor allem im Zuge des Impfstoffdesigns als virale Impfvektoren gegen andere Erkrankungen eingesetzt, z. B. das Modified-Vaccinia-Ankara-Virus.[20][21] Die Verwendung als Impfvektor gegen andere Krankheiten wurde 1992 in der Arbeitsgruppe von Bernard Moss entwickelt.[22]
Immunologie
Die Verletzung der Haut mit der Bifurkationsnadel führt zu einer zusätzlichen Aktivierung der angeborenen Immunantwort.[23] Verschiedene Zytokine werden induziert.[24] Für die Vermehrung der T-Zellen sind bei einer Pockenimpfung weder Interferone des Typs I noch Interleukin-12 notwendig.[25] Bei der Impfreaktion werden neutralisierende Antikörper gebildet, die vor einer Infektion mit humanen Pockenviren schützen.[26] Innerhalb von ein bis zwei Wochen weisen 95 % der Geimpften neutralisierende Antikörper mit einem Titer von eins zu über zehn auf.[27] Ein Titer über Werten zwischen eins zu zwanzig und eins zu 32 (je nach Quelle) wird mit einer Immunität assoziiert.[28] Zytotoxische T-Zellen sind an der Entfernung der Viren beteiligt.[27] Der Impfschutz durch eine Pockenimpfung nimmt nach etwa drei bis fünf Jahren ab, nach 20 Jahren ist der Impfschutz vernachlässigbar gering.[27] Bei mehrfach Geimpften kann eine Impfwirkung über dreißig Jahre anhalten.[27]
Impfstämme
- Lister/Elstree (GB)
- Dryvax (USA)
- EM63 (GUS)
- ACAM2000 (USA)
- Modified-Vaccinia-Ankara-Virus (D)
- LC16m8 (Japan)
- CV-1 (USA)
- Western Reserve
- Copenhagen (Dänemark)
- Connaught Laboratories (Canada)
Nebenwirkungen
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen umfassen bei Impfungen mit dem Impfstamm NYCBH Rötung und Schwellung am Impfort, Myocarditis und/oder Pericarditis (1:2.000), Ischämie (1:4.000) sowie generalisierte Vacciniavirusinfektionen (1:20.000).[29][30]
Beim weltweit meistverwendeten Impfstamm Lister/Elstree[13] können Schmerzen an der Einstichstelle (71 %), davon in 25 % mittel oder stark sowie erhöhte Temperatur über 37,7 °C (16 %) auftreten.[31] Weitere beobachtete Effekte sind Jucken (72 %), Rötung (27 %), ein geschwollener Achsellymphknoten (38 %), Grippe-ähnliche Symptome (40 %) und Kopfschmerzen (23 %).[31] Bei Impflingen, die bereits zuvor eine Pockenimpfung erhalten hatten, sind die grippeähnlichen Symptome und die Rötung weniger ausgeprägt.[31]
Herstellung
Die Herstellung erfolgte ab der Mitte des 20. Jahrhunderts in infizierten Tieren, embryonierten Hühnereiern oder Zellkulturen mit anschließender Virusisolierung. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurde erstmals durch Sydney Arthur Monckton Copeman Glycerol als Konservierungsmittel hinzugegeben.[32] In den 1940er Jahren wurde von Leslie Collier Phenol als weiteres Konservierungsmittel und 5 % Pepton für eine erhöhte Haltbarkeit der Pockenviren bei der Gefriertrocknung hinzugesetzt.[33] Dadurch war für den gefriergetrockneten Impfstoff keine Kühlkette mehr erforderlich. Im Jahr 1988 verwendeten 39 Hersteller von Pockenimpfstoffen infizierte Kälber, zwölf Hersteller Schafe und sechs Hersteller Wasserbüffel, während je drei Hersteller Hühnereier oder Zellkulturen verwendeten.[34]
Bestände
Nach 1979 wurden von der WHO Pockenimpfstoffe in einer Größenordnung gelagert, um etwa 200 Millionen Menschen impfen zu können. Im Laufe der Jahre wurden die Bestände zunächst reduziert, nach Empfehlung der WHO 1986 auf 2 bis 5 Millionen Impfdosen. In den letzten Jahren wurden aber gerade in Entwicklungsländern die Bestände wieder aufgestockt.[35]
Literatur
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Weblinks
Einzelnachweise
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