Pneumokokkenimpfstoff
Ein Pneumokokkenimpfstoff oder Pneumococcusimpfstoff ist ein Impfstoff gegen Streptococcus pneumoniae (Pneumokokken). Er wird zur Pneumokokkenimpfung verwendet.
Eigenschaften
Die verfügbaren Pneumokokkenimpfstoffe lassen sich in Untereinheitenimpfstoffe und Konjugatimpfstoffe einteilen.
- Als Untereinheitenimpfstoffe werden Pneumokokkenpolysaccharid-Impfstoffe (PPSV für pneumococcal polysaccharide vaccine, J07AL01) eingesetzt. Ein PPSV ist im Arzneibuch beschrieben als eine Mischung aus gleichen Teilen polysaccharidischer Kapselantigene geeigneter Stämme von Streptococcus pneumoniae, die die 23 immunchemisch unterschiedlichen Polysaccharide der Typen 1, 2, 3, 4, 5, 6B, 7F, 8, 9N, 9V, 10A, 11A, 12F, 14, 15B, 17A oder 17F, 18C, 19A, 19F, 20, 22F, 23F und 33F enthält.[1] Diese 23 Serotypen machen etwa 90 Prozent der Serotypen aus, die für invasive Pneumokokkeninfektionen in allen Altersgruppen sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern verantwortlich sind.[2] Ein kommerzielles solches PPSV23-Präparat ist Pneumovax 23 (MSD).[3][4] Bakterielle Polysaccharide sind bei Kindern unter zwei Jahren in der Regel wenig immunogen.[5] Es kommt bei ihnen zu einer T-Zell-unabhängigen, nur kurzfristigen B-Zell-Immunantwort mit Bildung von IgM. Eine T-Zell-abhängige Immunantwort, wie sie für eine immunologische Gedächtnisreaktion erforderlich ist, tritt kaum auf.[6]
- Konjugatimpfstoffe (PCV für pneumococcal conjugate vaccine, J07AL02, J07AL52) bestehen aus gereinigten Polysacchariden aus der bakteriellen Zellwand von mehreren Impfstämmen, die individuell an ein Trägerprotein konjugiert sind. Bei multivalenten Vakzinen können unterschiedliche Trägerproteine zum Einsatz kommen. Der Impfstoff kann an ein geeignetes Adjuvans adsorbiert vorliegen.[7] Durch die Konjugation von Polysacchariden mit Trägerproteinen wird die Immunogenität stark erhöht und die Impfstoffe entfalten eine Schutzwirkung auch bei kleinen Kindern.[5]
- Die zugelassenen Konjugatimpfstoffe enthalten die konjugierten Kapselantigene jeweils unterschiedlich vieler Serotypen, die einzeln aus dem entsprechenden Impfstamm gewonnen werden. Sie unterscheiden sich teilweise auch in der Art der Trägerproteine. Synflorix enthält Polysaccharide von zehn Impfstämmen (1, 4, 5, 6B, 7F, 9V, 14, 18C, 19F und 23F).[8] Sie sind mit einem Tetanustoxoid (beim Serotyp 18C), mit einem Diphtherietoxoid (beim Serotyp 19F) oder einem Protein D nicht typisierbarer Haemophilus influenzae-Bakterien (Serotypen 1, 4, 5, 6B, 7F, 9V, 14 und 23F) als Trägerproteine konjugiert.[9][8] Prevenar kam 2001 zunächst als siebenvalente Variante (Prevenar, Impfstämme 4, 6B, 9V, 14, 18C, 19F und 23F) zur Impfung von Kindern auf den Markt. Ihm fehlten allerdings vier der häufigsten Serotypen.[6] 2017 wurde die Zulassung aufgegeben und das Präparat[10] abgelöst durch eine seit 2009 zugelassene 13-valente Variante Prevenar 13 für Kinder und Erwachsene.[11] Für die Impfung von Erwachsenen gab es 2021 eine Erweiterung der Zusammensetzung um die Polysaccharidkonjugate sieben weiterer Serotypen der Stämme 8, 10A, 11A, 12F, 15B, 22F und 33F, die invasive Pneumokokken-Erkrankungen verursachen und mit hohen Sterblichkeitsraten, Antibiotikaresistenz und/oder Meningitis in Verbindung gebracht werden.[12][13] Der 2021 zugelassene 15-valente Konjugatimpfstoff Vaxneuvance zur Impfung von Erwachsenen enthält gegenüber dem 13-valenten Impfstoff zusätzlich Pneumokokkenpolysaccharide der Serotypen 22F und 33F.[14]
- Bei den Konjugatimpfstoffen von Pfizer (PCV7, 13 und 20) und MSD (PCV15) werden die Kapselantigene jeweils durch reduktive Aminierung mit der ungiftigen Variante des Diphtherietoxins CRM197 aus Corynebacterium diphtheriae zu Glycokonjugaten gekoppelt.[11][15] Durch eine Punktmutation an Position 52 im aktiven Zentrum der katalytischen Domäne wird das Diphtherietoxin enzymatisch inaktiv, behält aber seine anderen strukturellen Merkmale.[15]
- In allen Fällen ist das Konjugat an das Adjuvans Aluminiumphosphat adsorbiert.
Konjugatimpfstoff | Zulassung | Firma | Serotypen | |||||||||||||||||||
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1 | 3 | 4 | 5 | 6A | 6B | 7F | 8 | 9V | 10A | 11A | 12F | 14 | 15B | 18C | 19A | 19F | 22F | 23F | 33F | |||
PCV7 (Prevenar) | EU 2001–2017 | Pfizer | x |
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PCV10 (Synflorix) | EU 2009 | GSK | x |
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PCV13 (Prevenar 13) | EU 2009, USA 2010 | Pfizer | x |
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PCV15 (Vaxneuvance) | EU, USA, 2021 | MSD | x |
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PCV20 (Prevnar 20 / Apexxnar) | USA 2021, EU 2022 | Pfizer | x |
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Geschichte
Erste Versuche zur Entwicklung eines Impfstoffes gehen auf Anfang des 20. Jahrhunderts zurück.[16] 1909 wurde – ähnlich wie bei anderen ersten Impfstoffen gegen bakterielle Erkrankungen – ein Ganzkeim-Impfstoff (Pneumo-Bacterin) in den USA vermarktet.[17] Alphonse Dochez und Oswald Avery isolierten 1916/1917 die Polysaccharidkapsel, was sie als „soluble specific substances of pneumococcus (SSS)“ bezeichneten. Durch weitere Untersuchungen durch Avery und Michael Heidelberger von Pneumokokken konnte die Polysaccharidkapsel besser charakterisiert werden. Ferner hatten 1931 Avery und René Dubos die tragende Rolle der Polysaccharidkapsel als Virulenzfaktor erkannt.[17] Dies mündete in die Entwicklung von Impfstoffen auf Basis von Polysacchariden, bei denen Kapselantigene verwendet wurden. So bestand der erste Untereinheitenimpfstoff aus vier Kapselantigenen. Dieser quadrivalente Impfstoff wurde an Militärrekruten getestet, die Ergebnisse wurden 1945 von Colin MacLeod und Mitarbeitern publiziert.[18][19] Der Pharmakonzern E. R. Squibb begann kurz darauf mit der Vermarktung, jedoch wurde der Impfstoff aufgrund der gleichzeitigen Einführung von Penicillin nicht oft verwendet und 1951 schließlich fallengelassen.
Ab den 1970er Jahren wurde ein Impfstoff mit Kapselantigenen von 14 Impfstämmen durch Robert Austrian entwickelt und 1977 durch MSD vermarktet.[20][18] Die Variante mit 23 Impfstämmen wurde 1983 eingeführt. Ab 2000 wurden die Konjugatimpfstoffe zugelassen: zunächst im Jahr 2001 Prevenar bzw. 2009 dessen Nachfolger Prevenar 13 (Pfizer), der Prevenar ab 2017 vollständig ersetzte; zusätzlich im Jahr 2009 Synflorix (GSK).[21][9] Während der COVID-19-Pandemie in Deutschland gab es Lieferengpässe für verschiedene Pneumokokkenimpfstoffe. Es wurde zum Teil Pneumovax aus Japan importiert.[22]
Eine niederländische Forschergruppe stellte fest, dass die damals verfügbare 7-valente Konjugatimpfung PCV7 (Prevnar) in den USA und den Niederlanden zu einer Ausbreitung des Pneumokokken Serotyps 19A geführt hatte. Der Serotyp 19A war vom 7-valenten Konjugatimpfstoff nicht abgedeckt, erst der 13-valente Konjugatimpfstoff Prevnar 13 beinhaltet auch konjugierte Antigene des Pneumokokken Serotyps 19A.[23]
Handelsnamen
Apexxnar, Pneumovax 23, Prevenar/Prevnar 13, Prevnar 20, Synflorix, Vaxneuvance
Literatur
- Shirin Tarahomjoo: Recent Approaches in Vaccine Development against Streptococcus pneumoniae. In: Journal of Molecular Microbiology and Biotechnology. 24, 2014, S. 215, doi:10.1159/000365052.
- Giuliana S. Oliveira et al.: Pneumococcal Vaccines: Past Findings, Present Work, and Future Strategies. In: Vaccines. Band 9, Nr. 11, 17. November 2021, S. 1338, doi:10.3390/vaccines9111338, PMID 34835269, PMC 8620834 (freier Volltext).
- J. D. Grabenstein, K. P. Klugman: A century of pneumococcal vaccination research in humans. In: Clinical Microbiology and Infection: The Official Publication of the European Society of Clinical Microbiology and Infectious Diseases. 18 Suppl 5, Oktober 2012, S. 15–24, doi:10.1111/j.1469-0691.2012.03943.x, PMID 22882735.
Einzelnachweise
- Monographie „Pneumococcal Polysaccaride Vaccine“, European Pharmacopoeia 10th Edition (Ph. Eur. 10.0), EDQM Council of Europe, 2019.
- R. Dagan, D. Greenberg, M. R. Jacobs, B.L. Phillips: Pneumococcal Infections. In: Feigin and Cherry's Textbook of Pediatric Infectious Diseases, 6th Ed., 2009, S. 1288–1342 hier: 1237.
- Pneumovax 23. In: Paul-Ehrlich-Institut. Abgerufen am 23. März 2020.
- S. Aliberti et al.: The role of vaccination in preventing pneumococcal disease in adults. In: Clinical Microbiology and Infection: The Official Publication of the European Society of Clinical Microbiology and Infectious Diseases. 20 Suppl 5, Mai 2014, S. 52–58, doi:10.1111/1469-0691.12518, PMID 24410778, PMC 4473770 (freier Volltext).
- Allgemeine Monographie „5.2.11. Carrier Proteins for the Production of Conjugated Polysacchyride Vaccines for human Use“, European Pharmacopoeia 10th Edition (Ph. Eur. 10.0), EDQM Council of Europe, 2019.
- A. Vollmar, I. Zündorf, T. Dingermann: Immunologie. 2. Auflage, 2012. WVG Stuttgart. S. 266 f.
- Monographie „Pneumococcal Polysaccaride Conjugate Vaccine (adsorbed)“, European Pharmacopoeia 10th Edition (Ph. Eur. 10.0), EDQM Council of Europe, 2019.
- European public assessment report von Synflorix. In: EMA. 30. November 2018, abgerufen am 23. März 2020 (englisch).
- Ulrich Heininger und Mark Peter Gerard van der Linden: Pneumokokken. In: Heinz Spiess, Ulrich Heininger, Wolfgang Jilg (Hrsg.): Impfkompendium. 8. Auflage. Georg Thieme Verlag, 2015, ISBN 978-3-13-498908-3, S. 242, doi:10.1055/b-0035-127594.
- European public assessment report von Prevenar. In: EMA. 24. November 2017, abgerufen am 30. November 2018 (englisch).
- European public assessment report von Prevenar 13. In: EMA. 11. Dezember 2019, abgerufen am 23. März 2020 (englisch).
- CHMP Issues Positive Opinion for Pfizer’s 20-Valent Pneumococcal Conjugate Vaccine, Pfizer Pressemitteilung, 17. Dezember 2021.
- https://www.ema.europa.eu/en/medicines/human/summaries-opinion/apexxnar
- https://www.ema.europa.eu/en/medicines/human/EPAR/vaxneuvance
- Vaxneuvance – Assessment Report, European Medicines Agency (EMA), 14. Oktober 2021.
- Giuliana S. Oliveira et al.: Pneumococcal Vaccines: Past Findings, Present Work, and Future Strategies. In: Vaccines. Band 9, Nr. 11, 17. November 2021, S. 1338, doi:10.3390/vaccines9111338, PMID 34835269, PMC 8620834 (freier Volltext).
- J. D. Grabenstein, K. P. Klugman: A century of pneumococcal vaccination research in humans. In: Clinical Microbiology and Infection: The Official Publication of the European Society of Clinical Microbiology and Infectious Diseases. 18 Suppl 5, Oktober 2012, S. 15–24, doi:10.1111/j.1469-0691.2012.03943.x, PMID 22882735.
- Jerome O. Klein und Stanley A. Plotkin: Robert Austrian: 1917–2007. In: Clinical Infectious Diseases. Band 45, Nr. 1, 1. Juli 2007, S. 2–3, doi:10.1086/520068.
- Colin M. MacLeod et al.: Prevention of pneumococcal pneumonia by immunization with specific capsular polysaccharides. In: The Journal of Experimental Medicine. Band 82, Nr. 6, 30. November 1945, S. 445–465, PMID 19871511, PMC 2135567 (freier Volltext).
- Robert Austrian et al.: Prevention of pneumococcal pneumonia by vaccination. In: Transactions of the Association of American Physicians. Band 89, 1976, S. 184–194, PMID 14433.
- Nam-Hee Kim et al.: Immunogenicity and safety of pneumococcal 7-valent conjugate vaccine (diphtheria CRM(197) protein conjugate; Prevenar ) in Korean infants: differences that are found in Asian children. In: Vaccine. Band 25, Nr. 45, 7. November 2007, S. 7858–7865, doi:10.1016/j.vaccine.2007.08.022, PMID 17931753.
- https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/04/02/pneumovax-23-nachschub-aus-japan
- Elske J. M. van Gils et al.: Pneumococcal conjugate vaccination and nasopharyngeal acquisition of pneumococcal serotype 19A strains. In: JAMA. Band 304, Nr. 10, 8. September 2010, S. 1099–1106, doi:10.1001/jama.2010.1290, PMID 20823436.