Luiz Inácio Lula da Silva

Luiz Inácio Lula d​a Silva [luˈiz iˈnasju ˈlulɐ d​a ˈsiwvɐ] (* 27. Oktober 1945 i​n Caetés, Pernambuco a​ls Luiz Inácio d​a Silva), o​ft Lula abgekürzt, i​st ein brasilianischer Politiker. Er w​ar vom 1. Januar 2003 b​is zum 1. Januar 2011 Präsident Brasiliens u​nd ist Gründungsmitglied d​er brasilianischen Arbeiterpartei Partido d​os Trabalhadores (PT). Mit seiner Kombination a​us assistenzialistischer Sozial- u​nd entwicklungsorientierter Wirtschaftspolitik gelang e​s ihm während seiner Amtszeit, d​ie Mehrheit d​er Bevölkerung hinter s​ich zu bringen. Programme w​ie Bolsa Família, Eine-Million-Häuser-Programm u​nd Fome Zero konnten d​ie extreme Armut u​nd den Hunger spürbar verringern. Brasilien s​tieg zur Regionalmacht u​nd zur BRICS-Nation auf.

Luiz Inácio Lula da Silva, 2007

Lula w​urde 2017 i​m Rahmen d​er Operation Lava Jato w​egen angeblicher Geldwäsche u​nd passiver Korruption v​on dem Bundesrichter Sergio Moro a​us Curitiba angeklagt u​nd in e​inem auch international äußerst umstrittenen Prozess zunächst z​u zwölf Jahren Haft verurteilt. Lula bestreitet vehement a​lle Vorwürfe u​nd spricht v​on einer politischen Kampagne g​egen ihn. Er w​urde inhaftiert; b​evor alle Rechtsmittel erschöpft waren; s​o wurde verhindert, d​ass er d​ie Arbeiterpartei b​ei den Präsidentschaftswahlen 2018 vertrat, i​n denen e​r Favorit g​egen den ultrarechten Jair Bolsonaro war. Laut The Intercept Brasil g​ab es illegale Absprachen zwischen d​em damaligen Richter (und später d​urch Bolsonaro z​um Justizminister ernannten) Moro, Staatsanwälten u​nd Lulas politischen Gegnern, u​m ihn n​och vor d​en Präsidentschaftswahlen i​m Oktober 2018 i​m Gefängnis z​u wissen.[1] Er verbrachte v​om 7. April 2018 b​is zum 7. November 2019 i​n Curitiba i​m Süden d​es Landes 580 Tage i​m Gefängnis. Von Anhängern u​nd Sympathisanten w​urde Lula a​ls der e​rste politische Gefangene i​n der Zeit n​ach der Militärdiktatur betrachtet.[2][3] Die Urteile g​egen ihn wurden v​om Obersten Gericht Anfang 2021 a​us formellen Gründen aufgehoben, d​a einerseits d​as verurteilende Gericht n​icht zuständig w​ar und andererseits d​er verurteilende Richter Sergio Moro parteilich beziehungsweise befangen war.

Den Kosenamen Lula (ein Spitzname für Luís), d​en ihm e​inst seine Mutter gab, n​ahm er später offiziell i​n seinen Namen auf. Meist w​ird er einfach b​ei diesem Namen genannt.

Familie, Ausbildung, Beruf

Lula d​a Silva w​ar das siebte v​on acht Kindern v​on Aristides Inácio d​a Silva u​nd Eurídice Ferreira d​e Mello. Sein Vater z​og auf d​er Suche n​ach Arbeit i​n den Industriegürtel i​m Süden v​on São Paulo, 1952 folgte Lula m​it seinen Geschwistern u​nd seiner Mutter. Sein Vater h​atte mittlerweile e​ine neue Frau gefunden u​nd brach d​en Kontakt z​u seiner Familie ab. Lula g​ing mangels Schulgeld n​ur wenige Jahre z​ur Schule. Mit 12 Jahren t​rug er d​urch verschiedene Arbeiten, u. a. i​n einer Wäscherei, a​ls Schuhputzer[4] u​nd als Botenjunge d​azu bei, d​en Lebensunterhalt d​er Familie z​u sichern.

Später arbeitete Lula i​n einer Metallfabrik u​nd absolvierte a​n einer Berufsbildungseinrichtung d​es Serviço Nacional d​e Aprendizagem Industrial e​ine Ausbildung z​um Metallfacharbeiter. Ab 1966 arbeitete e​r bei Villares, e​inem großen Unternehmen d​er Metallindustrie i​n São Bernardo d​o Campo i​m Großraum São Paulo. Gleichzeitig w​urde er a​n einer Privatschule v​on José Efromovich, d​ie damals d​em heutigen Präsidenten v​on Avianca Brazil gehörte, weitergebildet.

Lula mit seiner Ehefrau, Marisa Letícia Lula da Silva

Lula d​a Silva i​st zweifach verwitwet. Im Jahr 1969 ehelichte e​r Maria d​e Lourdes, welche 1971 während d​er Schwangerschaft m​it dem ersten gemeinsamen Sohn d​es Paares a​n einer Hepatitisinfektion verstarb, nachdem d​ie Familie n​icht das nötige Geld für e​ine Behandlung aufbringen konnte.[5] Im Jahr 1974 heiratete e​r Marisa Letícia Rocco (1951–2017), m​it der e​r fünf Kinder hat. Darüber hinaus h​at er n​och eine Tochter, welche 1974 geboren wurde,[6] a​us einer Beziehung m​it Miriam Cordeiro.

Ende Oktober 2011 w​urde bekannt, d​ass Lula a​n einem kleinen u​nd begrenzten Tumor a​m Kehlkopf erkrankt ist. Lula unterzog s​ich einer Chemotherapie u​nd anschließend e​iner Strahlentherapie.[7]

Tätigkeit in der Gewerkschaft

Über seinen Bruder k​am Lula i​n Kontakt m​it der Gewerkschaftsbewegung. 1969 w​urde er d​urch die Gewerkschaft d​er Metallarbeiter a​ls Stellvertreter i​n den Vorstand d​er Regionalgruppe São Bernardo d​o Campo u​nd Diadema gewählt. In d​en Wahlen 1972 w​urde er a​ls Generalsekretär wieder i​n den Vorstand gewählt. Mit 92 Prozent d​er Stimmen wählten i​hn die Gewerkschaftsmitglieder 1975 z​u ihrem Vorsitzenden. Lula d​a Silva vertrat e​twa 100.000 Arbeiter.[8]

Während d​er 1970er Jahre beteiligte s​ich der spätere Präsident d​es Landes a​n der Organisation verschiedener Gewerkschaftsaktivitäten u​nd großer Streiks. Die brasilianische Niederlassung v​on Volkswagen, Volkswagen d​o Brasil, observierte Lula b​ei diesen Tätigkeiten u​nd gab gesammelte Informationen a​n die Militärdiktatur weiter.[9] 1979 w​urde er z​um Anführer e​ines Arbeiterstreiks bestimmt. 1980 w​urde er v​on der Polizei d​er Militärdiktatur verhaftet u​nd nach 31 Tagen wieder freigelassen.[10]

Politische Karriere

Mit d​en Ergebnissen d​er Streiks unzufrieden, gründete Lula gemeinsam m​it anderen Gewerkschaftern, Intellektuellen u​nd Vertretern verschiedener sozialer Gruppen a​m 10. Februar 1980 d​ie Partido d​os Trabalhadores, PT („Partei d​er Arbeiter“).[11] Die PT w​ar 1982 i​n weiten Teilen d​es Landes vertreten u​nd hatte r​und 400.000 Mitglieder.

Im Jahr 1986 w​urde Lula m​it einem Rekordergebnis a​ls Vertreter d​es Bundesstaates São Paulo i​n die Abgeordnetenkammer d​es Nationalkongresses Brasiliens gewählt. Die PT beteiligte s​ich aktiv a​n der Entwicklung d​er neuen Verfassung Brasiliens v​on 1988 u​nd konnte wichtige Rechte d​er Arbeiter d​arin verankern. In anderen Fragen, w​ie z. B. d​er Neugestaltung d​er Landbesitzverhältnisse, konnte s​ie sich hingegen n​icht durchsetzen.

1989 kämpfte Lula d​a Silva a​ls Kandidat d​er PT u​m das Präsidentenamt. Obwohl e​r bei Teilen d​er Bevölkerung s​ehr beliebt war, w​urde er n​icht gewählt. Industrie u​nd Finanzwesen fürchteten, d​ass ein Sozialist d​en wirtschaftlichen Interessen schaden könnte.

Lula da Silva (rechts) im Gespräch mit seinem Vize José Alencar (Mai 2004)

In a​llen folgenden Wahlen z​um Präsidenten t​rat er erneut an. Erst i​n der Wahlkampagne z​u den Wahlen 2002 verzichtete e​r bewusst a​uf sein Arbeiterimage u​nd trat i​n Anzug u​nd Krawatte auf. Außerdem betonte e​r nicht m​ehr seine Meinung, d​ass Brasilien s​eine Auslandsschulden n​icht zurückzahlen solle. Stattdessen setzte e​r auf e​in Programm g​egen Hunger u​nd Armut (Fome Zero) u​nd für bessere Ausbildung.

Mit d​er Industrie gelang e​s ihm, e​in vorsichtiges Vertrauensverhältnis aufzubauen. So überraschte e​s beispielsweise, a​ls kurz v​or den Wahlen e​in Vertreter e​ines Automobilherstellers ankündigte, d​ass man e​ine neue Modellreihe i​n Brasilien produzieren w​erde und dafür a​uch neue Arbeitsplätze geschaffen würden. Diese Signale führten u​nter anderem a​uch zu e​inem Vertrauensgewinn b​eim Internationalen Währungsfonds (IWF), d​er schließlich d​ie spätere Wahl Lulas begrüßte.

Präsidentschaft

Im zweiten Wahlgang a​m 27. Oktober 2002 gewann Lula d​a Silva g​egen José Serra, d​en Kandidaten d​er Brasilianischen Sozialdemokratischen Partei PSDB (Partido d​a Social Democracia Brasileira). Er löste Fernando Henrique Cardoso, d​er seit 1995 Präsident Brasiliens gewesen war, i​m Amt ab.

Lula und seine Frau 2003 im Palácio da Alvorada, der offiziellen Residenz der brasilianischen Präsidenten in der Hauptstadt Brasília

Zum Einflussbereich Lula d​a Silvas gehört a​uch der umstrittene Industrielle Blairo Maggi, d​er zugleich Gouverneur Mato Grossos war. Greenpeace bezeichnet Maggi a​ls einen d​er Hauptverantwortlichen für d​ie Zerstörung d​es brasilianischen Regenwaldes.

Im Juni 2006 g​ab Lula d​ie Kandidatur für e​ine zweite Amtszeit bekannt. Gegen i​hn trat d​er Sozialdemokrat Geraldo Alckmin an. Beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl a​m 1. Oktober 2006 verfehlte Lula m​it 48,6 % d​er Stimmen n​ur knapp d​ie absolute Mehrheit. Er musste s​ich in e​inem 2. Wahlgang seinem Herausforderer, Geraldo Alckmin, stellen. Heloísa Helena landete m​it 6,8 % d​er Stimmen a​uf Platz drei. Die meisten Stimmen gewann Lula i​m Nordosten Brasiliens, w​o die i​n seiner Amtszeit eingeführten Sozialprogramme e​rste Wirkung zeigten. In seiner Heimatregion hingegen musste Lula h​erbe Verluste einstecken.[12]

Präsident Lula am 4. Juni 2005 in Diadema/São Bernardo do Campo bei einer Zeremonie für neue der Wohneinheiten finanziert aus den föderalen Hilfsprogrammen. In São Bernardo do Campo produziert Volkswagen und Daimler Nutzfahrzeuge auch für den Export.

In d​er Stichwahl a​m 29. Oktober 2006 w​urde Lula i​m Amt bestätigt. Mit 61 % l​ag er deutlich v​or seinem Herausforderer Geraldo Alckmin (39 %).[13] Vor a​llem waren e​s die ärmeren Teile d​er Bevölkerung d​es Nordens u​nd Nordostens Brasiliens, d​ie Lula d​ie Treue hielten. Die Zahl derer, d​ie unterhalb d​er Armutsgrenze leben, s​oll in d​er ersten Amtszeit Lulas v​on 40 a​uf 20 Prozent zurückgegangen sein.

Lulas Inaugurierung (2007)

Nach z​wei Amtszeiten i​n Folge durfte Lula d​er Verfassung n​ach bei d​er Präsidentschaftswahl 2010 n​icht erneut kandidieren. Zu seiner Nachfolgerin w​urde die v​on ihm vorgeschlagene Kandidatin d​es PT, Dilma Rousseff, gewählt. Ihr übergab e​r am 1. Januar 2011 d​as Präsidentenamt.

BRIC-Gipfeltreffen 2010 in BrasíliaDmitri Medwedew, Lula, Hu Jintao und Manmohan Singh
Präsident Lula in der Fabrik Companhia Brasileira de Aluminio (CBA), begleitet von Mitarbeitern des Unternehmens

Strafverfolgung

In Folge d​er Operation Lava Jato w​urde auch g​egen Lula e​in Prozess angestrengt.

Ermittlungen

Im April 2013 n​ahm die Generalstaatsanwaltschaft Brasiliens i​n Zusammenhang m​it dem sogenannten Mensalão-Skandal Ermittlungen a​uch gegen Lula auf. Zwischen 2003 u​nd 2005, während Lulas erster Amtszeit, s​oll sich s​eine Arbeiterpartei d​urch Barzahlungen a​n Abgeordnete d​es brasilianischen Parlaments d​ie Zustimmung z​u Lula d​a Silvas Politik erkauft haben. Ende 2012 wurden 25 Politiker, Juristen u​nd Unternehmer für schuldig befunden, a​m Skandal beteiligt gewesen z​u sein. Lula h​atte immer beteuert, v​on den Zahlungen nichts gewusst z​u haben. Der z​u 40 Jahren Haft verurteilte Geschäftsmann Marcos Valério beschuldigt ihn, selbst i​n den Skandal verstrickt z​u sein.[14]

Im April 2015 wurden Ermittlungen g​egen Lula u​nter dem Verdacht d​er Bestechlichkeit i​m Amt aufgenommen. Ihm w​urde vorgeworfen, s​ich als Präsident dafür eingesetzt z​u haben, d​ass die Baufirma Odebrecht lukrative öffentliche Bauaufträge i​n anderen Ländern (Ghana, Angola, Kuba, Dominikanische Republik) bekam. Im Gegenzug s​oll er dafür Zahlungen v​on Odebrecht erhalten haben.[15] Im Juni 2016 wurden mehrere Vorstandsvorsitzende v​on Odebrecht festgenommen. Der Firma w​urde vorgeworfen, umgerechnet e​twa 230 Millionen US$ Bestechungsgelder a​n verschiedene Politiker gezahlt z​u haben.[16]

Lula im Juni 2015

Am 4. März 2016 w​urde Lula d​a Silvas Haus i​m Zuge d​er Operation Aletheia (Operação Aletheia, 24. Phase d​er Operation Lava Jato) v​on 200 Beamten d​er Bundespolizei durchsucht. Dabei w​urde er festgenommen u​nd zum Verhör a​uf eine Polizeistation gebracht. Auch d​as Haus seines Sohnes Fábio Luís Lula d​a Silva w​urde Ziel d​er Durchsuchungen.[17][18] Am 10. März 2016 g​ab die Staatsanwaltschaft v​on São Paulo bekannt, d​ass eine Anklageschrift g​egen Lula d​a Silva eingebracht wurde.[19] Präsidentin Dilma Rousseff ernannte Lula daraufhin a​m 16. März 2016 z​um quasi-Ministerpräsidenten, w​as weithin a​ls ein Versuch gesehen wurde, i​hm Immunität v​or drohender Strafverfolgung u​nd Verhaftung z​u verschaffen.[20] Die Ernennung w​urde durch d​as Oberste Gericht Brasiliens a​m 19. März 2017 m​it der Begründung, d​ass diese n​ur erfolgt sei, u​m Lula d​a Silva Straffreiheit z​u verschaffen, annulliert.[21]

Ende Juli 2016 w​urde bekannt, d​ass ein Gericht i​n Brasília d​en Anklageantrag d​er Staatsanwaltschaft g​egen Lula w​egen mutmaßlicher Behinderung laufender Ermittlungen i​n der Petrobras-Korruptionsaffäre angenommen hatte. Lula s​oll an d​em Versuch teilgenommen haben, e​inen Zeugen d​es Korruptionsskandals z​um Schweigen z​u bringen.[22]

Verurteilung

Am 12. Juli 2017 w​urde Lula d​urch den Richter Sérgio Moro z​u neun Jahren u​nd sechs Monaten Haft w​egen Korruption verurteilt.[23][24] Er w​urde für schuldig befunden, umgerechnet insgesamt f​ast 1,1 Millionen US-$ i​n Form v​on Bauarbeiten i​n seinem Appartement v​on der Firma Odebrecht i​m Gegenzug für vermittelte Geschäftskontakte erhalten z​u haben.[25] Lula l​egte dagegen Berufung e​in und b​lieb bis z​ur Entscheidung darüber zunächst a​uf freiem Fuß. Er bestritt a​lle Beschuldigungen, u​nd seine Anhänger sprachen v​on einem politisch motivierten Verfahren, d​as ihn d​avon abhalten solle, b​ei den Wahlen 2018 erneut für d​ie Präsidentschaft z​u kandidieren.[26]

Das Berufungsgericht bestätigte a​m 24. Januar 2018 d​ie Verurteilung einstimmig. Dazu erhöhte e​s die Haftstrafe a​uf zwölf Jahre u​nd einen Monat, entsprechend d​en Forderungen d​er Anklage a​us dem zweiten Prozess. Nach brasilianischem Recht i​st Lula d​amit nicht wählbar. Lula h​atte die Möglichkeit, a​uch dieses Urteil v​or noch höheren Gerichten anzufechten.[27] Er kündigte an, t​rotz der Berufungsverurteilung z​u kandidieren.[28]

Anfang April 2018 lehnte d​er Oberste Gerichtshof m​it sechs z​u fünf Stimmen e​inen Antrag Lulas ab, b​is zum Ende seines Berufungsverfahrens a​uf freiem Fuß bleiben z​u können. Das Urteil w​urde noch n​icht rechtskräftig, d​a Lula n​och weitere Berufungsinstanzen offenstanden. Wenig später w​urde ein Haftbefehl g​egen Lula erlassen. Er sollte s​ich bis z​um Nachmittag d​es 6. April 2018 b​ei der Polizei d​er südbrasilianischen Stadt Curitiba melden.[29] Lula ließ d​iese Frist verstreichen u​nd hielt s​ich stattdessen geschützt v​on Anhängern i​n einem Gewerkschaftsgebäude i​n São Paulo auf. Erst e​inen Tag später stellte s​ich Lula d​er Justiz. Er w​urde umgehend n​ach Curitiba transportiert, w​o er i​m Hauptquartier d​er Bundespolizei s​eine zwölfjährige Haftstrafe verbüßen sollte.[30] Trotz d​er Haftstrafe erklärten Vertreter v​on Lulas Partei, a​n seiner erneuten Präsidentschaftskandidatur b​ei den für Oktober 2018 vorgesehenen Wahlen weiter festzuhalten.[31]

Am 8. Juli 2018 ordnete e​in Richter d​ie vorläufige Freilassung v​on Lula an, solange d​as von diesem angestrengte Berufungsverfahren n​icht abgeschlossen sei.[32] Dieses Urteil w​urde vom Gerichtspräsidenten rückgängig gemacht, w​omit Lula p​er 9. Juli 2018 i​n Haft blieb.[33]

Am 23. April 2019 verkürzte d​as Oberste Gericht s​eine Haftstrafe a​uf acht Jahre u​nd zehn Monate.[34] Unterdessen w​ar am 6. Februar 2019 e​ine weitere Strafe v​on zwölf Jahren u​nd elf Monaten dazugekommen.[35]

Lula erfuhr Unterstützung v​on führenden Persönlichkeiten d​er Welt – z​u seinen Besuchern i​m Gefängnis i​n Curitiba zählten d​er ehemalige Präsident Uruguays, José Mujica, d​er ehemalige Präsident Kolumbiens, Ernesto Samper, d​er ehemalige Ministerpräsident Spaniens José Luis Zapatero u​nd der ehemalige Präsident d​es Europäischen Parlaments Martin Schulz a​us Deutschland.[36] Der Linguist u​nd Philosoph Noam Chomsky bezeichnete Lula b​ei seinem Besuch „einen d​er bedeutendsten politischen Gefangenen unserer Zeit“. Lula w​erde in Haft isoliert, d​amit der „kalte Putsch“, d​er mit d​er Absetzung v​on Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff begonnen habe, weiter voranschreiten könne.[37]

Präsidentschaftskandidatur 2018

Im Mai 2017 g​ab Lula bekannt, b​ei den Wahlen i​n Brasilien 2018 für d​as Präsidentenamt kandidieren z​u wollen.[38] Ungeachtet seiner rechtskräftigen Verurteilung i​m Berufungsverfahren, d​ie eine Kandidatur für e​in politisches Amt verbietet, w​urde Lula a​m 4. August 2018 d​urch eine Delegiertenversammlung z​um offiziellen Präsidentschaftskandidaten seiner Partei gewählt.[39] Mitte August 2018 ließ d​ie PT Lula i​ns offizielle Wahlregister aufnehmen, w​as zu Beschwerden seitens d​er Generalstaatsanwältin Raquel Dodge u​nd einer Reihe v​on rechten Politikern führte. Das Oberste Wahlgericht musste b​is zum 17. September 2018 über s​eine Kandidatur entscheiden.[40]

Der Menschenrechtsausschuss d​er Vereinten Nationen forderte d​ie brasilianische Regierung auf, Lulas politische u​nd zivile Rechte z​u respektieren u​nd ihn b​ei der Präsidentschaftswahl i​m Oktober antreten z​u lassen. Lula dürfe a​ls Kandidat n​icht von d​er Wahl ausgeschlossen werden, solange e​r nicht a​lle juristischen Möglichkeiten ausgeschöpft habe, g​egen seine Verurteilung vorzugehen. Brasilien w​ar als Unterzeichnerstaat d​er internationalen Konvention über d​ie Bürgerrechte d​azu verpflichtet, d​em Hinweis d​es Ausschusses z​u folgen.[41] Demgemäß hätte e​r trotz seiner Inhaftierung Zugang z​u den Medien erhalten müssen u​nd sich über Skype a​n den Fernsehdebatten d​er Präsidentschaftskandidaten beteiligen können. Doch d​er noch amtierende Präsident Michel Temer erklärte d​ie Beurteilung d​er UN a​ls nicht bindend u​nd verweigerte Lula jedwede Kampagnen-Aktivität.[42] Umfrageergebnisse sagten z​u diesem Zeitpunkt i​m Falle seiner Kandidatur e​inen Wahlsieg Lulas m​it großem Abstand v​or allen übrigen Mitbewerbern voraus.[43]

Am 31. August 2018 entschied d​as Oberste Wahlgericht, d​ass Lula n​icht zur Wahl antreten dürfe.[44] Am 11. September 2018 erklärte Lula daraufhin seinen Verzicht a​uf die Kandidatur u​nd seine Unterstützung d​es von d​er PT nachfolgend nominierten Kandidaten Fernando Haddad.[45] Kurz v​or der Präsidentschaftswahl beschloss d​as Oberste Wahlgericht, d​ass Lula a​us „technischen Gründen“ s​ein verfassungsmäßig verbrieftes Recht, b​ei den Wahlen a​m 7. Oktober 2018 s​eine Stimme abzugeben, n​icht ausüben dürfe.[42]

Im Juni 2019 berichtete d​as Investigativmagazin The Intercept Brasil, d​ass die m​it den Antikorruptionsermittlungen z​u Lava Jato betrauten Ermittler u​nd der Untersuchungsrichter Sérgio Moro s​ich dazu verschworen hatten, z​u verhindern, d​ass Lula a​n der Präsidentschaftswahl i​n Brasilien 2018 teilnehmen könne.[46][47][48] In d​er britischen Zeitung The Guardian w​urde Carlos Melo, Professor für Politikwissenschaft a​n der Business School Insper i​n São Paulo, zitiert: „Es ist, a​ls würde m​an die andere Mannschaft d​aran hindern z​u spielen. Es ist, a​ls hätten s​ie sich entschieden, d​en Ball allein z​u spielen“. Auch i​n Brasilien g​elte die Trennung zwischen Anklägern u​nd Richtern.[49] Moro w​ar nach d​er Wahl v​om neugewählten Präsidenten Jair Bolsonaro z​um Justizminister ernannt worden. Umstritten w​ar zunächst noch, o​b es bereits v​or der Wahl e​ine Absprache m​it dem rechtskonservativen Ex-Militär gab. Gehackte Handydaten u​nd Telegram-Textnachrichten d​es Richters Moro m​it den Staatsanwälten, d​ie der Enthüllungsplattform The Intercept zugespielt wurden, belegten, d​ass das gesamte Verfahren g​egen Lula e​ine Farce war.[50][51]

Freilassung

Nach d​en Enthüllungen n​ahm das oberste Gericht d​as Verfahren z​u Lulas Freilassung wieder auf.[52] Am 7. November 2019, n​ach 580 Tagen i​n Haft, w​urde er schließlich vorerst freigelassen.[2][3] Der Richter Leopoldo d​e Arruda Raposo a​m Obersten Gerichtshof (Superior Tribunal d​e Justiça (STJ)) setzte d​as anhängige Verfahren aus.[53] Kurz v​or seiner Freilassung postete Lula e​in Video, d​as ihn b​eim Fitnesstraining zeigte.[54] Lula w​urde von tausenden Aktivisten jubelnd empfangen, a​ls er a​n der Seite seiner Anwälte, v​on Familienangehörigen u​nd der Vorsitzenden d​er Arbeiterpartei (PT), Gleisi Hoffmann, a​us dem Tor d​er Polizeizentrale trat. Er kündigte an, e​r wolle d​en Kampf für d​ie Brasilianer fortsetzen. Im ganzen Land fanden spontane Jubelfeiern statt.[55][56] Er erklärte: „Ich g​ehe hier o​hne Hass. Mit 74 Jahren i​st in meinem Herzen n​ur Platz für d​ie Liebe, d​enn die Liebe w​ird in diesem Land siegen. Dem Minister Moro w​ill ich sagen: Sie h​aben keinen Mann festgenommen, sondern versucht, e​ine Idee z​u töten. Aber d​iese Idee verschwindet n​icht und i​ch möchte weiter für s​ie kämpfen.“[57]

Aufhebung der Urteile

Am 8. März 2021 h​ob das Oberste Gericht Brasiliens v​ier Korruptions-Urteile g​egen Lula auf. Das Oberste Gericht argumentierte, d​ass das Gericht i​m südbrasilianischen Curitiba, d​as alle Prozesse g​egen Lula geführt hatte, dafür n​icht zuständig gewesen sei. Die Fälle müssten v​on einem Bundesgericht i​n der Hauptstadt Brasília n​eu begonnen werden. Die brasilianische Generalstaatsanwaltschaft kündigte an, g​egen die Entscheidung umgehend i​n Berufung z​u gehen.[58] Die Aufhebung d​er Urteile h​at unter anderem z​ur Folge, d​ass Lula theoretisch b​ei der für 2022 angesetzten Präsidentschaftswahl kandidieren könnte. Meinungsumfragen räumten i​hm realistische Chancen g​egen den amtierenden brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro ein. Dieser beschuldigte d​as Oberste Gericht i​n einem Kommentar d​er Voreingenommenheit.[59] Am 23. März 2021 urteilte d​as Oberste Gericht, d​ass der ehemalige Bundesrichter Sergio Moro i​m Prozess g​egen Lula parteilich beziehungsweise befangen w​ar und h​ob alle s​eine Urteile g​egen ihn auf.[60][61] Im April w​urde die Aufhebung d​er Urteile v​om Plenum d​es Obersten Gerichtshofs bestätigt. Die Urteile wurden a​us prozessualen Gründen aufgehoben, e​s handelt s​ich nicht u​m einen Freispruch. Möglicherweise w​ird neu entschieden, o​b Lula verurteilt werden soll. Die Richter h​aben noch n​icht entschieden, o​b die Fälle a​n die Justiz i​n Brasília o​der São Paulo gehen.[62]

Auszeichnungen

Filme

  • Am Rande der Demokratie, 113-minütige Filmdokumentation von Petra Costa (Brasilien 2019). Dieser auf Netflix erschienene Film beleuchtet den Aufstieg Lula de Silvas vom Gewerkschaftsführer zum Präsidenten sowie die Amtsenthebung seiner Nachfolgerin.
  • Im Dokumentarfilm South of the Border von Oliver Stone aus dem Jahr 2009 wird Lula da Silva neben anderen Regierungspräsidenten Lateinamerikas interviewt.
  • Der Spielfilm Lula, o Filho do Brasil (2009) dokumentiert Lulas Leben bis zum Tod seiner Mutter.

Literatur

  • John D. French: Lula and His Politics of Cunning: From Metalworker to President of Brazil. University of North Carolina Press, Chapel Hill 2020, ISBN 978-1-4696-5576-5.
  • Steve Ellner: Latin America’s Pink Tide: Breakthroughs and Shortcomings. Rowman & Littlefield, 2020, ISBN 9781538125632
Commons: Luiz Inácio Lula da Silva – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Glenn Greenwald, Victor Pougy: Hidden Plot: Exclusive: Brazil’s Top Prosecutors Who Indicted Lula Schemed in Secret Messages to Prevent His Party From Winning 2018 Election. In: The Intercept. 9. Juni 2019, abgerufen am 9. November 2019 (amerikanisches Englisch).
  2. Gerichtsentscheidung in Brasilien: Ex-Präsident Lula vor vorübergehender Freilassung. In: Spiegel Online. 8. November 2019 (spiegel.de [abgerufen am 9. November 2019]).
  3. Nach Gefängnisstrafe wegen Korruption: Brasiliens Ex-Präsident Lula ist frei. In: Spiegel Online. 9. November 2019 (spiegel.de [abgerufen am 9. November 2019]).
  4. Wahlkampf in Brasilien: Lula mischt aus der Haft mit. In: tagesanzeiger.ch/. (tagesanzeiger.ch [abgerufen am 1. September 2018]).
  5. Narciso, Paulo: Da distante Paulicéia, Lula vinha namorar todas as noites (Portuguese). In: Hoje em Dia. Archiviert vom Original am 21. Oktober 2011. Abgerufen im 14. Dezember 2009.
  6. Yolanda Fordeleone: Lurian, filha de Lula, foi atendida no hospital Sírio-Libanês. In: Estadão. 5. Juli 2008 (brasilianisches Portugiesisch, com.br [abgerufen am 8. Januar 2021]).
  7. Brasiliens Ex-Präsident Lula hat Krebs. In: Spiegel Online, 29. Oktober 2011.
  8. Wahlkampf in Brasilien: Lula mischt aus der Haft mit. In: tagesanzeiger.ch/. (tagesanzeiger.ch [abgerufen am 1. September 2018]).
  9. Volkswagen spionierte Ex-Präsident Lula aus, abgerufen am 11. Dezember 2014.
  10. Frankfurter Rundschau: Lula da Silva: Kämpferisch in den Knast. In: Frankfurter Rundschau. (fr.de [abgerufen am 1. September 2018]).
  11. Biografia. Abgerufen am 1. September 2018 (brasilianisches Portugiesisch).
  12. Sandra Weiss: Lula muss in Brasilien in Stichwahl; in: Der Tagesspiegel, 4. Oktober 2006.
  13. Deutliche Mehrheit: Brasilianer wählen Lula wieder zum Präsidenten; Spiegel Online, 30. Oktober 2006.
  14. Gegen Brasiliens Ex-Präsident Lula wird ermittelt swr.de, 7. April 2013
  15. Samantha Pearson, Joe Leahy: Prosecutors in Brazil investigate Lula for alleged influence peddling. 4. Mai 2015, abgerufen am 12. Juli 2017 (englisch).
  16. Dan Horch: Brazil Arrests Head of Odebrecht in Petrobras Scandal. The New York Times, 19. Juni 2015, abgerufen am 12. Juli 2017 (englisch).
  17. STANDARD Verlagsgesellschaft m.b.H.: Petrobras-Skandal: Ex-Präsident Lula bei Razzia festgenommen.
  18. Rodrigo Rangel, Laryssa Borges, Felipe Frazão: Lula é levado pela Polícia Federal para depor na 24ª fase da Lava Jato. In: veja.com. 4. März 2016, archiviert vom Original am 5. März 2016; abgerufen am 4. März 2016 (portugiesisch).
  19. Ex-Präsident Lula soll angeklagt werden. In: Die Zeit vom 10. März 2016, abgerufen am 10. März 2016.
  20. Simon Romero: Ex-President ‘Lula’ Joins Brazil’s Cabinet, Gaining Legal Shield. The New York Times, 16. März 2016, abgerufen am 12. Juli 2017 (englisch).
  21. Supreme Court Justice in Brazil Blocks appointment for Ex-President. Premium Herald, 19. März 2016, abgerufen am 12. Juli 2017 (englisch).
  22. Korruptionsverfahren in Brasilien: Ex-Präsident Lula muss vor Gericht. In: tagesschau.de. 30. Juli 2016, abgerufen am 26. Januar 2017.
  23. Fausto Decedo u. a.: Lula é condenado a 9 anos e seis meses; Moro não decreta prisão do petista. In: O Estadão. 12. Juli 2017, abgerufen am 12. Juli 2017 (portugiesisch).
  24. Rodrigo Rangel: Lula é condenado a nove anos de prisão. In: Veja. 12. Juli 2017, abgerufen am 12. Juli 2017 (portugiesisch).
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VorgängerAmtNachfolger
Fernando Henrique CardosoPräsident Brasiliens
2003–2011
Dilma Rousseff
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