Theokratie
Theokratie (altgriechisch θεοκρατία theokratía, von θεός theós „Gott“ und κρατεῖν krateín „herrschen“) ist eine Herrschaftsform, bei der die Staatsgewalt allein religiös legitimiert und von einer (in der Sicht der Anhänger der Staatsreligion) göttlich erwählten Person (gottberufener Prophet, gottbegnadeter König usw.), einer Priesterschaft (Klerus) oder sakralen Institution (Hierokratie) auf der Grundlage religiöser Prinzipien ausgeübt wird. Ein auf der Theokratie basierender Staat wird auch als Gottesstaat bezeichnet, da die sozialen Normen göttlichen und nicht menschlichen Ursprungs sein sollen. Es gibt dort weder eine Trennung von Staat und Religion noch von weltlichem Recht und religiösen Vorschriften. Damit widerspricht die Konzeption einer Theokratie dem Ideal eines liberal-demokratischen Rechtsstaats. Führt die religiöse Legitimierung von Macht zu einer klerikalen Herrschaft, spricht man in der Politikwissenschaft von Priesteraristokratie.
Theokratien in der Geschichte
Auch die Zwölf Stämme Israels bildeten laut der Bibel in vorstaatlicher Zeit – ob als Amphiktyonie, ist umstritten – von ca. 1250 v. Chr. bis zum Königtum ab Saul rund 1050 v. Chr. nach dem Tanach eine, von Gott gelenkte, und besonders im Verteidigungskrieg einheitliche auftretende Größe. Kennzeichnend für die israelitische Theokratie der Richterzeit war das Fehlen von ständigen Verwaltungsorganen und das geringe Maß an Organisation sowie die Zuweisung von Eigenverantwortung an die Bürger, die insbesondere an der Verbundenheit zu Gott gemessen wurde. Die in dieser Zeit häufigen Einfälle von Nachbarstämmen wurden genau wie die Einsetzung von Richtern als regulierende Maßnahmen Gottes angesehen, die abhängig von dem allgemeinen Grad an Verbundenheit zu Gott ergriffen wurden. Da aber fast alle biblischen Passagen über diese Zeit erst viel später geschrieben und zudem stark religiös ausgedeutet wurden, gilt dies unter vielen Forschern eher als unhistorisch.
Theokratisch war auch die Regierungspraxis der antiken römischen Kaiser. Nach dem Vorbild Alexanders des Großen, und in Anlehnung an die Herrscherkulte im hellenistisch geprägten Osten des Reiches, ließen sie sich selbst als Götter verehren. Der römische Kaiserkult hatte eine wichtige staatstragende Funktion. Die Huldigung des vergöttlichten Kaisers war gleichzeitig ein Bekenntnis zu den Prinzipien des römischen Reiches. Abgesehen vom öffentlichen Kaiserkult (sacra publica) galt Religion jedoch als Privatangelegenheit (sacra privata). Der polytheistische Götterhimmel der Römer bot Raum für religiöse Vielfalt und Toleranz.
Juden und Christen zogen gleichwohl Zorn auf sich, wenn sie sich beharrlich weigerten, den Kaiser als Gott anzuerkennen und damit aus Sicht der Römer auch die religiös legitimierte Staatsordnung ablehnten. Insbesondere Christen wurden daher als politische Gefahr angesehen und teilweise verfolgt.
Kaiser Konstantin I. leitete eine religiöse Wende ein. Er ließ die Christenverfolgungen unterbinden, erließ ein Toleranzedikt für die christliche Religion und förderte die Etablierung einer christlich-einheitlichen Kirche, mitsamt der Verfolgung von Häretikern, auch wenn bis heute strittig ist, ob bzw. wann er selbst sich taufen ließ. Kaiser Theodosius I. erhob später das Christentum zur Staatsreligion des römischen Reiches und verbot damit auch alle anderen Kulte mit Ausnahme des Judentums. Die einst verfolgte Kirche wurde nun mit weitreichenden politischen Privilegien ausgestattet, welche die umfassende Ausbreitung des Christentums ermöglichten. Im Oströmischen Reich lebte der Kaiserkult jedoch in abgewandelter Form fort, indem der Kaiser sich nun als christlicher Priesterkönig (rex sacerdos) und sogar als Stellvertreter Christi auf Erden verstand, was einer der Faktoren in den zunehmenden Konflikten mit dem seinerseits immer monarchistischer eingestellten Papsttum war, das sich seit dem 6. Jahrhundert machtpolitisch etablierte. Dieses erlebte seinen Macht-Höhepunkt bereits unter dem nach Universalherrschaft strebenden Innozenz III. (1198–1216).[1]
Auch die westlichen Kaiser seit Karl dem Großen verstanden sich – mancher mehr, mancher weniger – als theokratisch. Das zeigte sich vor allem in der Praxis, Reichsbischöfe und -äbte ein- und abzusetzen (Investitur). Die Trennung zwischen geistlicher und lehnsrechtlicher Autorität bestand noch nicht im heute bekannten Maße, der Kaiser war sowohl oberster weltlicher als auch geistlicher Herrscher, zumal solange der Einfluss des Papsttums weltkirchlich noch überschaubar blieb. Referenz dieses Verständnisses war die Salbung, die die Gottgebundenheit des Herrschers darstellte. In der Zeitgenössischen Panegyrik wurden immer wieder Vergleiche zu biblischen Königen wie Salomo und David gezogen. Als der Perfektion der theokratischen Praxis wird das sogenannte ottonisch-salische Reichskirchensystem gesehen, das unter Heinrich III. seinen Höhepunkt erreichte, der sogar Einfluss auf die Besetzung des Heiligen Stuhls nahm. Die von ihm unterstützte kirchliche Reformbewegung bekämpfte allerdings im Investiturstreit mit Heinrich IV. diese Praxis und schuf mit der (kirchen-)rechtlichen Trennung von Spiritualien und Temporalien ein Konstrukt, das den Kaiser nur auf die weltliche Autorität der Lehnsvergabe reduzierte. Nach dem Ende des Investiturstreites setzten sich allerdings die kaiserliche Investitur wie auch die Konflikte mit dem Papsttum noch lange fort.[2]
Zu einer Fehldeutung kann der Titel der Schrift De civitate Dei (wörtlich: „Von der Bürgergemeinschaft Gottes“) des Kirchenvaters Augustinus verleiten, welche oft unzutreffend mit dem Begriff „Gottesstaat“ übersetzt wird. Dieser epochemachende Text behandelt jedoch keine theokratische Verschmelzung von Religion und Politik, sondern stellt vielmehr die unsichtbare, aber umfassende Herrschaft Gottes über die gesamte Weltgeschichte heraus. Augustinus unterscheidet dabei grundsätzlich zwischen der „Gemeinschaft Gottes“ (civitas dei) und der rein „irdisch-orientierten Gemeinschaft“ (civitas terrena). Damit liefert Augustinus bereits die theoretische Grundlage für die spätere Zweiteilung von geistlicher und weltlicher Macht, die im christlichen Mittelalter durch die gleichsam rivalisierende Verbindung zwischen Papst und Kaiser – in den modernen politischen Systemen seit der Aufklärung als organisatorische Trennung von Kirche und Staat zum Ausdruck kommt.
Als christliche Theokratien werden mitunter auch das reformierte Genf zur Zeit Jean Calvins, die Jesuitenreduktionen im Südamerika des 17. und 18. Jahrhunderts sowie das sogenannte heilige Experiment des von William Penn gegründeten Quäkerstaats in Pennsylvania von 1681 bis 1756 bezeichnet.
Theokratien heute
Westliche Staaten strebten seit der Aufklärung eine Trennung zwischen Staat und Religion an. Manche versuchen sogar explizit einen Laizismus zu vertreten, was aber nicht selten fundamentalistische Gegenreaktionen ausgelöst hat.
Islamische Republik Iran
Ein Beispiel für einen heutigen Staat, der den Anspruch erhebt, eine Theokratie zu sein, ist die 1979 gegründete Islamische Republik Iran. In ihr übt ein Ajatollah, der höchste schiitischer Islamgelehrter das führende Staatsamt des Obersten Führers oder Religionsführers aus. Zwar enthält das politische System des Iran pseudodemokratische Elemente, die es laut Verfassung sogar ermöglichen, dass der direkt vom Volk gewählte Expertenrat den Obersten Führer abwählt. Zu bedenken ist aber, dass die zur Wahl zugelassenen Kandidaten nur Mullahs mit mindestens dem religiösen Titel Hodschatoleslam, die nach Art. 109 der Verfassung zur politischen und gesellschaftlichen Führung geeignet sind und die Fähigkeit zur Erteilung von Rechtsgutachten (Idschtihād) haben, sein können.[3] Faktisch dürfte die Abwahl des Führers eine rein akademische Frage darstellen, da der Führer die Hälfte des Wächterrats bestimmt und dieser die Vorauswahl der Kandidaten des Expertenrates vornimmt.
Staat Vatikanstadt
Der Staat Vatikanstadt wird als Theokratie bezeichnet, da er eine eindeutige Priesterherrschaft ist. Als Angleichung an die Rechtspraxis moderner Verfassungsstaaten verfügt der Vatikanstaat seit seiner Gründung 1929 über ein Grundgesetz, das im Jahr 2000 erneuert wurde.[4] Dennoch subsumiert man den Vatikan nicht auf Anhieb unter dem Begriff der Theokratien, weil die päpstliche Herrschaft in einer für Theokratien unüblich erscheinenden pragmatischen Weise damit begründet wird, dass er für die Freiheit der Kirche (insbesondere von weltlichen Machthabern) eine kleine souveräne territoriale Basis benötige. Insofern der Vatikanstaat unter der Herrschaft von Geistlichen steht, steht er eher in der Erbschaft der Fürstbistümer feudaler Zeiten und natürlich des Kirchenstaates; wobei er wie dieser, und im Unterschied zu jenen keinen Lehnsherren über sich hat.
Autonome Mönchsrepublik Athos
Der Berg Athos ist eine autonome Republik unter griechischer Souveränität. Aus jedem der zwanzig Großklöstern auf der schwer zugänglichen Halbinsel werden zwei orthodoxe Mönche in das Parlament nach Karyes gewählt. Die Regierung wird aus vier Mönchen von verschiedenen Klöstern gebildet, die über Gesetzesvorschläge einstimmig entscheiden. Den Regierungsvorsitz hat ein jährlich vom Parlament gewählter Protos. Die Aufgaben der Exekutive und der Judikative werden von den zwanzig Großklöstern wahrgenommen, die jeweils von einem auf Lebenszeit gewählten Abt geleitet werden. Athos genießt einen autonomen Status innerhalb Griechenlands und ist nicht Teil des Umsatzsteuergebiets der Europäischen Union. Da der Berg Athos nur von Personen männlichen Geschlechts betreten werden darf, handelt es sich gleichzeitig auch um eine Androkratie.
Theokratismus
Der Theokratismus möchte an der Verwirklichung eines Reiches Gottes „auf Erden“ mitwirken und die Theokratie als politisches Gestaltungsbild durchsetzen. Er wird dadurch zur politischen Religion und Staatsideologie. Die absolutistische Vorstellung des Gottesgnadentums kommt einer theokratischen Vorstellung sehr nahe.
Heilserwartungslehren
Christen erwarten für die Zeit nach der Wiederkunft Christi beim Jüngsten Gericht eine „Königsherrschaft Gottes“ (basileia tou theou) unter der unmittelbaren „Macht und Herrlichkeit“ des Herrn Jesus Christus, die seit der Frühzeit des Christentums mit chiliastischen und millenaristischen Vorstellungen verbunden ist.
Die Zeugen Jehovas und generell die Bibelforscherbewegung erwarten eine konkrete, diesseitige Theokratie auf der „gereinigten Erde“, während die traditionellen Christen das Reich Gottes als ein jenseitiges Himmelreich in der Ewigkeit des allmächtigen Herrgottes – außerhalb der Raum-Zeit-Dimension – begreifen.
Siehe auch
- Dominionisten
- Kahanismus
- Mönchsrepublik
- Staatskirche
- Liste von Theokratien
Literatur
- Zum Begriff Theokratie
- Wolfgang Hübener: Die verlorene Unschuld der Theokratie. In: Jacob Taubes (Hrsg.): Theokratie (= Religionstheorie und Politische Theologie. Bd. 3). München/Paderborn 1987, S. 29–64.
- Bernhard Lang: Theokratie. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 5. Hrsg. von Hubert Cancik, Burkard Gladigow und Karl-Heinz Kohl, Stuttgart 2001, S. 178–189.
- Weitere Literatur
- Otto Plöger: Theokratie und Eschatologie. Neukirchen 1959.
- Egon Boshof: Die Salier. 4., aktualisierte Auflage, Kohlhammer, Stuttgart [u. a.] 2000.
- Franz-Reiner Erkens: Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit. Kohlhammer, Stuttgart 2006.
- Karl Jordan: Investiturstreit und frühe Stauferzeit. 1056–1197. 10. Auflage, DTB, München 1999.
- Kevin Phillips: American Theocracy. The Peril and Politics of Radical Religion, Oil, and Borrowed Money in the 21st Century. Viking Books, 2006, ISBN 0-670-03486-X (Rezension; auch als Audiobuch erhältlich)
- Claus Bernet: Gebaute Apokalypse. Die Utopie des Himmlischen Jerusalem in der Frühen Neuzeit. Zabern, Mainz 2007, ISBN 978-3-8053-3706-9.
Weblinks
- Mark Lilla: The Politics of God, New York Times, 19. August 2007 (umfangreicher Essay; Auszug aus Lillas Buch The Stillborn God: Religion, Politics and the Modern West, September 2007)
Einzelnachweise
- Walter Ullmann: Die Machtstellung des Papsttums im Mittelalter. Graz 1960, S. 24 f.
- Vgl. Egon Boshof: Die Salier. 4., aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart [u. a.] 2000; Karl Jordan: Investiturstreit und frühe Stauferzeit. 1056–1197. 10. Auflage. DTB, München 1999, sowie die darin angegebene Literatur und überhaupt die ganze überaus zahlreiche Literatur zum Investiturstreit
- Wahied Wahdat-Hagh: Die islamische Republik Iran. Berlin 2003, ISBN 3-8258-6781-1, S. 259 ff.
- Das neue Grundgesetz des Vatikanstaates