ʿAlī ibn Abī Tālib
Abū l-Hasan ʿAlī ibn Abī Tālib (arabisch أبو الحسن علي بن أبي طالب, DMG Abū l-Ḥasan ʿAlī b. Abī Ṭālib; geboren um 600 in Mekka; gestorben am 28. Januar 661 in Kufa), häufig kurz Ali genannt, war der Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammed und ist eine zentrale Figur des Islam. Er war der erste männliche Anhänger Mohammeds und heiratete dessen Tochter Fatima. Nach dem Tode des Propheten im Jahre 632 war er von 656 bis 661 Kalif. Über die Frage, ob er berechtigt gewesen wäre, unmittelbar nach dem Tode Mohammeds dessen Nachfolge anzutreten, entzweiten sich die Muslime: Für die Schiiten, deren Name sich von schīʿat ʿAlī (شيعة علي / šīʿat ʿAlī /‚Partei ʿAlīs‘) ableitet, war ʿAlī der rechtmäßige Nachfolger Mohammeds, die Sunniten dagegen meinen, dass Mohammeds Schwiegervater Abū Bakr, der auch tatsächlich die Nachfolge antrat, größeren Anspruch darauf hatte. Den Sunniten gilt ʿAlī als vierter und letzter Rechtgeleiteter Kalif, den Schiiten und den Aleviten, deren Name sich ebenfalls von ʿAlī ableitet, als erster der Zwölf Imame. Auch ʿAlīs Söhne Hasan und Husain sind zentrale Personen im schiitischen und alevitischen Islam. Bis heute genießen die Aliden (al-ʿAlawiyyūn, die Nachkommen ʿAlīs) hohes Ansehen in den muslimischen Gesellschaften.
Abstammung
ʿAlī war der Sohn von Abū Tālib ibn ʿAbd al-Muttalib und Fātima bint Asad. Sowohl durch seinen Vater als auch durch seine Mutter gehörte er der quraischitischen Großfamilie der Banū Hāschim an. Sein Vater Abū Tālib war durch ʿAbd al-Muttalib ein Enkel von Hāschim ibn ʿAbd Manāf, seine Mutter Fātima war eine Tochter von ʿAbd al-Muttalibs Bruder Asad.[1]
Leben
Rolle zur Lebenszeit des Propheten
ʿAlī wurde am Freitag, den 13. Radschab, im dreißigsten Jahr nach dem Jahr des Elefanten bzw. am 29. September im Jahre 600 in der Kaaba in Mekka geboren.[2] Seine Geburt in der Kaaba wird von vielen Schiiten (einschließlich al-Sayyid al-Radi, al-Shaykh al-Mufid, Qutb al-Rawandi und Ibn Shahrashub) und vielen sunnitischen Gelehrten (einschließlich al-Hakim al-Nishaburi, al-Hafiz al-Ganji al-Shafi'i, Ibn al-Jawzi al-Hanafi, Ibn Sabbagh al-Maliki, al-Halabi und al-Mas'udi) allgemein akzeptiert.[3] Er gilt damit als einziger Mensch, der in der Kaaba geboren wurde.
Seine Mutter wollte ihm zunächst den Namen Ḥaidar oder Asad (beides heißt „Löwe“) geben, doch als sie mit dem Kind in das Haus Abu Talibs, des Vaters ʿAlīs, kam und der Vater nach dem Namen des Kindes fragte, soll der dort anwesende Muhammad gesagt haben, dass er ʿAlī heißt. Vor allem Schiiten gebrauchen diesen oder ähnliche Beinamen wie Asad Allāh („Löwe Gottes“) noch heute.
Als ʿAlī sechs Jahre alt war, gab es in Mekka eine Hungersnot und Abu Talib, der eine große Familie hatte, hatte Schwierigkeiten, seine Familie zu versorgen. Mohammed half Abu Talib und seiner Familie, indem er den noch jungen ʿAlī in seinen Haushalt aufnahm und sich um ihn kümmerte.[4]
ʿAlī wurde daraufhin einer der engsten Vertrauten des Propheten. Seine Konversion zum Islam erfolgte noch im Kindesalter. Sein genaues Alter beim Übertritt zum Islam ist umstritten. Nach al-Dschahiz (gest. 869) schwankten die Meinungen zu seiner Zeit zwischen fünf und neun Jahren.[5] Nach Laura Veccia Vaglieri, die allerdings keine Quelle nennt, war ʿAlī zu diesem Zeitpunkt höchstens zehn bis elf Jahre alt.[6]
Eine wichtige Rolle spielte ʿAlī während der Wallfahrt des Jahres 9 nach der Hidschra (631 n. Chr.). Während Mohammed Abū Bakr mit der Leitung dieser Wallfahrt betraute, verblieb ʿAlī bei Mohammed in Medina. Nach Abū Bakrs Abreise erhielt Mohammed jedoch eine wichtige Offenbarung, die den Umgang mit den in Mekka verbliebenen Muschrikūn betraf, nämlich die ersten sieben Verse von Sure 9. Er sandte daraufhin ʿAlī nach Mekka, der den Text der sieben Verse vor der Pilgerversammlung in Minā öffentlich verlas.[7]
Nachfolgestreit
Der Tod des Propheten Mohammed stellte die muslimische Umma vor die Frage, wer die Nachfolge des Propheten innerhalb der Gemeinde antreten sollte. Mohammed hatte jedoch vor seinem Tod Vorkehrungen getroffen. An Ghadīr Chumm gab er seinen Nachfolger mit folgenden Worten bekannt: „Wessen Gebieter (Führer) ich bin, dessen Gebieter (Führer) ist auch Ali.“ Das Ereignis von Ghadir Chumm ereignete sich am 10. März 632 (18. Dhū l-Hiddscha) nach der Hedschra, vor angeblich über 100.000 Muslimen, während der letzten Pilgerfahrt Mohammeds. Abu Bakr, Omar, Othman, Talha und Zubair ergriffen als erste die Hand ʿAlīs und schworen Gefolgschaft. Ihnen folgten einer nach dem anderen die Auswanderer (Muhādschirūn) und Helfer (Ansār), dann die übrigen Versammlungsteilnehmer, die die Treue schworen und ʿAlī zu seiner Ernennung als Führer der Gläubigen gratulierten. Diese Feier dauerte drei Tage lang.[8] Nach dem Tod Mohammeds traten jedoch zwischen den mekkanischen Muhādschirūn und den medinischen Ansār schwere Meinungsverschiedenheiten auf. Umar ibn al-Chattāb huldigte nämlich zu einem Zeitpunkt, als ʿAlī und seine Familie noch mit der Bestattung des Propheten beschäftigt waren, bei einer Versammlung der Ansār in der sogenannten Saqīfa des Saʿd ibn ʿUbāda überraschend Abū Bakr als dem neuen Befehlshaber. Abū Bakr nahm in der Folgezeit den Titel „Nachfolger des Gottesgesandten“ (ḫalīfat rasūl Allāh) oder Kalif an.[9]
Viele Ansār weigerten sich zunächst, Abū Bakr zu huldigen. Auch die Banū Hāschim, die Großfamilie des Propheten, protestierten dagegen, dass sie bei der Regelung der Nachfolge übergangen worden waren. Alī hatte offensichtlich auch die Unterstützung der Familie ʿAbd Schams. Nur das intensive Werben ʿUmars führte dazu, dass im Laufe der Zeit die meisten Prophetengefährten Abū Bakr als Kalifen anerkannten. Ali verweigerte Abu Bakr den Treueid. Unter der Führung von Abu Bakr und Umar wurde das Haus von Fatima und Ali als ein Druckmittel zum Treueeidzwang in Brand gesetzt. Fatima starb kurze Zeit darauf an den Folgen des Ereignisses; sie verlor nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch ihr noch ungeborenes Kind. Ali leistete dem Abū Bakr unter Zwang und Abscheu erst sechs Monate später den Treueid, nachdem Fātima verstorben war. Damit war die Nachfolgefrage vorläufig geklärt.[10]
Auseinandersetzung mit ʿUthmān
Als 644 der zweite Kalif ʿUmar starb, gehörte ʿAlī zusammen mit ʿUthmān ibn ʿAffān, ʿAbd ar-Rahmān ibn ʿAuf, Talha ibn ʿUbaidullah, az-Zubair ibn al-ʿAuwām und Sa'd ibn Abi Waqqas dem Konsultationsgremium an, das den neuen Kalifen wählen sollte.[11] Von den sechs Personen hegten allein er und ʿUthmān Ambitionen auf die Nachfolge. ʿAbd ar-Rahmān verzichtete auf die Kandidatur unter der Bedingung, dass ihm im Falle der Uneinigkeit die Aufgabe des Schiedsrichters übertragen würde. Da Saʿd für ʿAlī votierte und az-Zubair für ʿUthmān, Talha aber abwesend war, kam ʿAbd ar-Rahmān als Schiedsrichter zum Einsatz. Er entschied sich nach Beratungen mit den Häuptern der quraischitischen Großfamilie für ʿUthmān, wodurch dieser zum neuen Kalifen wurde.[12]
Während des Kalifats von ʿUthmān kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung mit diesem über die Beurteilung von Abū Dharr al-Ghifārī, der den Umayyaden Selbstbereicherung vorgeworfen hatte. Während ʿUthmān Abū Dharr wegen seiner Kritik hinrichten wollte, übernahm ʿAlī seine Verteidigung. Er empfahl dem Kalifen, Abū Dharr nicht zu töten, sondern sich hinsichtlich seiner an die koranische Aussage von Sure 40:28 zu halten: „Wenn er ein Lügner ist, ist er es zu seinem eigenen Nachteil. Wenn er aber die Wahrheit sagt, wird euch etwas von dem treffen, was er euch androht.“[13] Als ʿUthmān schließlich Abū Dharr aus Medina nach ar-Rabadha verbannte, begleitete ihn ʿAlī trotz eines Verbots des Kalifen aus der Stadt.[14] Die Verteidigung Abū Dharrs durch ʿAlī wird nicht nur in Quellen erwähnt, die der Schia nahestehen, sondern auch in Texten ibaditischer Autoren.[15]
Die umstrittene Wahl zum Kalifen
Nach der Ermordung ʿUthmāns am 17. Juni 656 leisteten viele der Aufständischen, die dessen Haus belagert hatten, ʿAlī den Treueid und forderten ihn dazu auf, das Kalifat zu übernehmen. ʿAlī zögerte zunächst, nahm aber fünf Tage später die Huldigung als Kalif entgegen. Auch die Ansār leisteten ihm den Treueid.[16] Das Kalifat ʿAlīs wurde jedoch nicht allgemein anerkannt. Viele bedeutende Prophetengefährten, darunter Tala ibn ʿUbaidallāh, az-Zubair ibn al-ʿAuwām, Sa'd ibn Abi Waqqas, ʿAbdallāh, der Sohn ʿUmars und Zaid ibn Thabit, verweigerten ihm die Huldigung. Andere wie Abū Bakra ath-Thaqafī kritisierten, dass bei ʿAlīs Wahl kein reguläres Wahlgremium getagt habe.[16] Auch wenn Mālik al-Aschtar, einer der glühendsten Anhänger ʿAlīs, einige von denen, die den Treueid verweigerten, mit Waffengewalt bedrängte, änderte dies nichts an ihrer Haltung.[17]
Die Angehörigen und Anhänger des Umayyaden-Hauses, darunter auch mehrere bekannte Dichter, hatten schon vorher Medina verlassen und sich nach Syrien begeben, wo Uthmans Gouverneur und Verwandter Muʿāwiya an der Macht blieb und ʿAlī die Gefolgschaft verweigerte. Sie machten ʿAlī den Vorwurf, an der Ermordung Uthmans mitschuldig zu sein, zumal er gezwungen war, sich auf die Kräfte zu stützen, die gegen ihn opponiert hatten.
Kamelschlacht
Eine dritte Partei in dem Konflikt bildeten Mohammeds Witwe ʿĀ'ischa und die beiden Prophetengefährten Talha ibn ʿUbaidallāh und az-Zubair ibn al-ʿAuwām. Sie begaben sich nach Basra und bauten sich dort eine Widerstandsbasis auf. Am 10. Dschumada th-thaniyya des Jahres 36 (= 4. Dezember 656) kam es zu einer Schlacht zwischen den beiden Lagern, die für die Partei ʿĀ'ischas mit einer vernichtenden Niederlage endete.[1] Talha und az-Zubair fielen, die Verbände ʿAlīs gingen als klare Sieger hervor. Da ʿĀ'ischa dieser Schlacht in einer Kamelsänfte beigewohnt hatte, hat man sie Kamelschlacht genannt.
Unter Ali begann sich das politische Zentrum des Kalifats zu verschieben. So befand sich nicht nur seine Residenz Kufa außerhalb der Arabischen Halbinsel, sondern auch seine Feinde Aischa und Muawiya stützten sich auf ihre Anhängerschaft im Irak bzw. in Scham (Syrien).
Siffīn und die Abspaltung der Charidschiten
Gegenüber Muawiya konnte Ali die Anerkennung seines Kalifats jedoch nicht durchsetzen. Während der Schlacht von Siffin am Euphrat im Juli 657 ließ sich ʿAlī dazu überreden, ein Schiedsgericht einzusetzen, das darüber entscheiden sollte, welche der beiden Parteien recht hatte. Dies führte zur Spaltung seiner Anhängerschaft und zum Abfall der egalitären Charidschiten, die gegen Verhandlungen mit Muawiya waren. In der Folgezeit musste sich Ali vor allem der Bekämpfung der Charidschiten im Irak widmen. Ab dem September 658 kam es zu einer ganzen Reihe charidschitischer Aufstände gegen ihn.[18] In der Auseinandersetzung mit den Charidschiten berief sich ʿAlī zum ersten Mal darauf, dass ihn Mohammed vor seinem Tod auf der Rückkehr von seiner letzten Wallfahrt in der Oase Ghadīr Chumm als Nachfolger designiert habe. Die Worte, die von Mohammed in diesem Zusammenhang überliefert werden, lauten: „Jeder, dessen Herr ich bin, der hat auch ʿAlī zum Herrn“ (man kuntu maulā-hu fa-ʿAlī maulā-hu).[19]
Machtverfall und Tod
Im Februar 659 trat in Dūmat al-Dschandal das vereinbarte Schiedsgericht zusammen, bei dem ʿAlī durch Abū Mūsā al-Aschʿarī und Muʿāwiya durch ʿAmr ibn al-ʿĀs vertreten wurde.[20] Die beiden Schiedsmänner konnten sich allerdings nicht auf einen gemeinsamen Schiedsspruch einigen. ʿAlīs Machtposition verschlechterte sich in der nachfolgenden Zeit zusehends. So verlor er im Sommer 660 die Kontrolle über den Hedschas und den Jemen an die Truppen Muʿāwiyas.
Am 28. Januar 661 wurde ʿAlī bei einem Attentat durch den Charidschiten ʿAbd ar-Rahmān ibn Muldscham al-Murādī in der Großen Moschee von Kufa tödlich verletzt. Das Alter, in dem ʿAlī verstarb, ist umstritten. Die Angaben in den arabischen Quellen schwanken zwischen 58 und 68 Jahren. Der Streit über das Alter ʿAlīs zur Zeit seiner Ermordung hängt mit der Kontroverse über sein Alter bei der Konversion zum Islam (siehe oben) zusammen.[21] Der Oxforder Historiker James Howard-Johnston plädierte 2010 dafür, den Tod des Kalifen bereits auf das Jahr 658 n. Chr. zu datieren; die Chronologie der Quellen sei im Nachhinein aus diversen Gründen verfälscht worden.[22]
Die Aliden, die Schia und die Diskussion um das Imamat
Ali heiratete im Laufe seines Lebens insgesamt neun Frauen und hatte daneben mehrere Konkubinen, die ihm insgesamt 14 Söhne und 19 Töchter schenkten.[23] Drei von seinen Söhnen spielten nach seinem Tod eine politische Rolle: sein Sohn Hasan folgte ihm im Frühjahr 661 im Kalifenamt, dankte dann aber im Sommer zugunsten von Muawiya I. ab; sein Sohn Husain unternahm 680 einen Aufstand gegen die Umayyaden, fiel aber bei Kerbela im Kampf; und sein Sohn Muhammad ibn al-Hanafīya wurde 685 in Kufa während des Aufstands von al-Muchtār ibn Abī ʿUbaid als Thronprätendent genannt.
Insgesamt hinterließen fünf von ʿAlīs Söhnen Nachkommen. Diese Aliden spielten eine wichtige Rolle in den religiös-politischen Oppositionsbewegungen der Umayyaden- und frühen Abbasidenzeit. Diejenigen, die allein die Aliden als zur Herrschaft berechtigt ansahen, wurden als „Partei Alis“ (šīʿat ʿAlī) bezeichnet, wovon der deutsche Begriff Schiiten abgeleitet ist. Die Schiiten waren der Auffassung, dass ʿAlī nach Mohammed der vorzüglichste Mensch und insofern berechtigt gewesen sei, seine Nachfolge anzutreten. ʿAlīs Anspruch auf das Imamat leiteten sie auch aus Mohammeds Worten am Ghadīr Chumm ab, die sie als eine Designation interpretierten.
Sunniten wie Abū l-Hasan al-Aschʿarī meinten dagegen, dass Mohammeds Ausspruch am Ghadīr Chumm nicht als eine Designation zu verstehen sei, und verwiesen darauf, dass ʿAlī selbst – wenn auch spät – Abū Bakr den Treueid geleistet hatte.[24] Al-Aschʿarī vertrat die Lehre, dass die Vorzüglichkeit (faḍl) der vier ersten Kalifen ihrer zeitlichen Reihenfolge im Imamat entspreche. Demnach nimmt ʿAlī nur die vierte Stelle hinter Abu Bakr, Umar ibn al-Chattab und Uthman ibn Affan ein.[25]
ʿAlī-Verehrung
Ali wird von den Muslimen für seine Weisheit und seine außerordentliche literarische Begabung gerühmt. Der Überlieferung nach soll der Prophet Mohammed gesagt haben: „Ich bin die Stadt des Wissens und Ali ist ihr Tor. Wer zu mir gelangen will, muss erst Ali passieren.“ Nach einer Tradition, die in verschiedenen Versionen in vielen sunnitischen und schiitischen Hadith-Sammlungen überliefert wird, sagte Mohammed sinngemäß: „O ʿAlī, du verhältst dich zu mir, wie Aaron zu Mose, nur gibt es keinen Propheten nach mir.“[26] Diese und ähnliche Aussagen des Propheten finden allgemeine Akzeptanz bei der überwiegenden Mehrheit der Muslime.
In der imamitischen Schia wurde ʿAlī glorifiziert und in eine halblegendarische Figur mit tragischen und heroischen Zügen verwandelt. So wird ihm ein Buch zugeschrieben, das den Bericht über alles enthalten soll, das bis zum Tag des Jüngsten Gerichts auf der Welt geschehen wird. Außerdem werden in zahlreichen imamitischen Texten die wunderhaften Fähigkeiten ʿAlīs beschrieben. Dazu gehören seine Kenntnis der unsichtbaren Welt (ġaib), seine Fähigkeit, auf die kosmischen Elemente einzuwirken, seine Beherrschung der divinatorischen Wissenschaften und seine Prophezeiungen.[27] Ein fester Bestandteil der schiitischen Frömmigkeit ist außerdem die Pilgerfahrt zu ʿAlīs Grabmoschee im irakischen Nadschaf, das auch zu einem Zentrum der schiitischen Theologie wurde. Ein anderer Ort, an dem ʿAlī verehrt wird, ist Masar-e Scharif im heutigen Afghanistan mit dem Ali-Mausoleum. Auch der usbekische Ort Shohimardon verfügt über einen Schrein, der als Ali-Mausoleum verehrt wird.
ʿAlī-Verehrung findet sich auch bei modernen arabischen Christen. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung war der libanesische Dichter Dschūrdsch Dschurdāq, der im Jahre 1956 in Beirut ein Buch mit dem Titel „Der Imam ʿAlī, die Stimme der menschlichen Gerechtigkeit“ (al-Imām ʿAlī, ṣaut al-ʿadāla al-insānīya) veröffentlichte, das in kürzester Zeit Übersetzungen ins Persische, Hindi und Englische erlebte und begeisterte Zustimmung von zwölfer-schiitischen Autoritäten wie Hossein Borudscherdi erfuhr. 1958 veröffentlichte Dschurdchān eine auf fünf Bände erweiterte Version seines Werks.[28]
Von ʿAlī überlieferte Werke
- Nahdsch al-Balāgha (Methode der Rhetorik) ist die bekannteste Sammlung von Predigten, Briefen und Überlieferungen, die Ali zugeordnet werden und vom schiitischen Geistlichen Scharif Radi zusammengetragen wurden.[29] Die Sammlung nimmt in der schiitischen Literatur eine prominente Rolle ein und gilt als wichtiges intellektuelles, politisches und religiöses Werk des schiitischen Islams.[30][31] Die Authentizität dieses Werkes wird von einigen Sunniten hinterfragt, da die Überlieferer des Textes und somit auch die Überlieferungskette der einzelnen Überlieferungen Schwachstellen enthalten sollen,[32] während bekannte schiitische Gelehrte das Werk als authentisch ansehen.[33]
- Der Regierungsauftrag an Malik al-Aschtar (vollständig in Nahdsch al-Balāgha enthalten) ist ein Instruktionsschreiben Alis an seinen Gouverneur für Ägypten, in der die Ideen und Verfahrensweisen einer Regierung festgelegt werden. Dieser Auftrag, der von vielen Muslimen und Nicht-Muslimen als idealtypische Verfassung einer islamischen Regierung betrachtet wird, trifft detaillierte Beschreibungen über die Rechte und Pflichten von Herrschern, aber auch die Funktionen eines Staates und dessen sozialer Zusammensetzung.[34] Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen führt in seinem 2002 veröffentlichten Arab Human Development Report den Regierungsauftrag als Beispiel von Good Governance auf.[35]
- Duʿāʾ Kumail ist das unter Schiiten bekannteste Bittgebet Alis, welches über den Prophetengefährten Kumail ibn Ziyad übermittelt wurde und seitdem das Bittgebet von Kumail genannt wird.[36][37]
Literatur
- Arabische Quellen
- Al-Masʿūdī: Kitāb at-Tanbīh wa-l-išrāf. Frz. Übersetzung von B. Carra de Vaux. Imprimerie Nationale, Paris, 1896. S. 385–390. Digitalisat
- Sekundärliteratur
- William L. Cleveland: A History of the Modern Middle East. 3rd Edition. Westview Press u. a., Boulder CO u. a. 2004, ISBN 0-8133-4048-9.
- Ulrich Haarmann (Begründer), Heinz Halm (Hrsg.): Geschichte der Arabischen Welt. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. C. H. Beck, München 2001, ISBN 3-406-47486-1.
- Wilferd Madelung: The succession to Muḥammad. A study of the early caliphate. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1997, ISBN 0-521-56181-7.
- Gernot Rotter: Die Umayyaden und der zweite Bürgerkrieg. (680–692) (= Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes. Bd. 45, 3). Steiner, Wiesbaden 1982, ISBN 3-515-02913-3.
- Laura Veccia Vaglieri: ʿAlī ibn Abī Ṭālib. In: The Encyclopaedia of Islam. Band 1: A – B. New Edition. Brill u. a., Leiden u. a. 1960, S. 381–386.
Weblinks
Einzelnachweise
- Vgl. Al-Masʿūdī: Kitāb at-Tanbīh, S. 385.
- Mufid: al-Irshad. Band 1, S. 5.
- Amini: al-Ghadir. Band 6, S. 21–23.
- Ibn Hisham: al-Sira al-nabawiyya. Band 1, S. 162.
- Vgl. ʿAmr b Baḥr al-al-Ǧāḥiẓ: al-ʿUṯmānīya (= Maktabat al-Ǧāḥīẓ. Bd. 3). Herausgegeben von ʿAbd al-Salām Muḥammad Hārūn. Maktabat al-K̲ānǧī, Kairo 1374 (= 1955), S. 5.
- Veccia Vaglieri: ʿAlī ibn Abī Ṭālib. In: The Encyclopaedia of Islam. Band 1. 1960, S. 381b.
- Vgl. Al-Masʿūdī: Kitāb at-Tanbīh, S. 360f.
- Kitabul Wilayah von Mohammad bin Jarir Tabari, gest.310
- Vgl. Madelung: The succession to Muḥammad. 1997, S. 28–34.
- Vgl. Madelung: The succession to Muḥammad. 1997, S. 50–52.
- Vgl. Rotter: Die Umayyaden und der zweite Bürgerkrieg. 1982, S. 12.
- Vgl. Madelung: The succession to Muḥammad. 1997, S. 71 f.
- Vgl. Abū l-ʿAbbās Aḥmad ibn Saʿīd aš-Šammāḫī: Kitāb as-Siyar. Ed. Muḥammad Ḥasan. 3 Bde. Dār al-Madār al-Islāmī, Bairūt, 2009. Bd. I, S. 144.
- Vgl. al-Masʿūdī: Murūǧ aḏ-ḏahab wa-maʿādin al-ǧauhar. Ed. und ins Französische übers. von Barbier de Meynard et Pavet de Courteille. 9 Bde. Imprimerie Impériale, Paris, 1861–1877. Bd. IV, S. 271f. Digitalisat
- Vgl. Moncef Gouja: La grande discorde de l'Islam. Le point de vue des kharéjites. L'Harmattan, Paris, 2006. S. 161–163.
- Vgl. ʿAbd al-Malik ibn Ḥabīb: Kitāb al-ta'rīj = Kitāb at-ta'rīh (= Fuentes Arábico-Hispanas. Bd. 1). Edición y estudio por Jorge Aguadé. Consejo Superior de Investigaciones Científicas u. a., Madrid 1991, ISBN 84-00-07185-9, S. 114.
- Vgl. Laura Veccia Vaglieri: Al-Ashtar. In: The Encyclopaedia of Islam. Band 1: A – B. New Edition. Brill u. a., Leiden u. a. 1960, S. 704a.
- Vgl. Rudolf Ernst Brünnow: Die Charidschiten unter den ersten Omayyaden. Ein Beitrag zur Geschichte des ersten islamischen Jahrhunderts. Brill, Leiden 1884, S. 22 (Strassburg, Universität, Dissertation, 1884).
- Vgl. Madelung 253.
- Vgl. Al-Masʿūdī: Kitāb at-Tanbīh, S. 386.
- Vgl. Al-Masʿūdī: Kitāb at-Tanbīh, S. 387.
- Vgl. James Howard-Johnston: Witnesses to a World Crisis. Historians and Histories of the Middle East in the Seventh Century. Oxford University Press, Oxford u. a. 2010, ISBN 978-0-19-920859-3, z. B. S. 382.
- Vgl. Veccia Vaglieri: ʿAlī ibn Abī Ṭālib. In: The Encyclopaedia of Islam. Band 1. 1960, S. 385a.
- Vgl. Richard J. McCarthy: The Theology of al-Ashʿarī. Beirut: Imprimerie Catholique 1953. S. 112–116.
- Vgl. Abu-'l-Fath' Muhammad asch-Schahrastâni's Religionspartheien und Philosophen-Schulen. Zum ersten Male vollständig aus dem Arabischen übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Theodor Haarbrücker. Erster Theil. Schwetschke und Sohn, Halle 1850, S. 112, hier online verfügbar.
- Vgl. z. B. Muslim ibn al-Haddschādsch: Ṣaḥīḥ, K. Faḍāʾil aṣ-ṣaḥāba.
- Vgl. Mohammad Ali Amir-Moezzi: Savoir c'est pouvoir. Exégèses et implications du miracle dans l'imamisme ancien in Denise Aigle (Hrsg.): Miracle et Karāma. Hagiographies médiévales comparées. Brepols, Turnhout, 2000. S. 251–286. Hier S. 252, 257, 259.
- Vgl. dazu Werner Ende: Arabische Nation und islamische Geschichte. Die Umayyaden im Urteil arabischer Autoren des 20. Jahrhunderts. Beirut-Wiesbaden: Franz Steiner 1977. S. 180–189.
- Reza Shah-Kazemi: Ali ibn Abi Talib. In: Josef W. Meri (Hrsg.): Medieval Islamic Civilization. An Encyclopedia. Band 1: A – K, Index (= Routledge encyclopedias of the Middle Ages. Bd. 13, 1). Routledge, New York NY u. a. 2006, ISBN 0-415-96691-4, S. 36–37.
- Reza Shah-Kazemi: Justice and Remembrance. Introducing the Spirituality of Imam Ali. I. B. Tauris u. a., London 2006, ISBN 1-84511-065-X.
- Regierungsauftrag in englischer Sprache
- Reliability of the Sermons. In: Nahjul Balagha. Abgerufen am 20. Februar 2019 (amerikanisches Englisch).
- FAQs - Nahjul Balagha. Abgerufen am 26. März 2019.
- Reza Shah-Kazemi: Ali ibn Abi Talib. In: Josef W. Meri (Hrsg.): Medieval Islamic Civilization. An Encyclopedia. Band 1: A – K, Index (= Routledge encyclopedias of the Middle Ages. Bd. 13, 1). Routledge, New York NY u. a. 2006, ISBN 0-415-96691-4, S. 36–37.
- Arab Human Development Report. S. 83–107.
- Dua Kumayl auf deutsch
- ʿAlī ibn Abī Ṭālib: Supplications. = Duʿā. Translated by William C. Chittick. Muhammadi Trust, London 1986, ISBN 0-9506986-4-4.
Vorgänger | Amt | Nachfolger |
---|---|---|
ʿUthmān ibn ʿAffān | Rechtgeleiteter Kalif 656–661 | Muʿāwiya I. (erster der Umayyaden-Kalifen) |