Horst Kasner
Horst Kasner (* 6. August 1926 in Berlin als Horst Kazmierczak;[1] † 2. September 2011 ebenda)[2][3] war ein deutscher evangelischer Theologe und Vater der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Leben
Eltern
Horst Kasner wurde 1926 als Sohn des preußischen Polizeibeamten Ludwig Kaźmierczak (* 1896 in Posen; † 1959 in Berlin) und dessen Ehefrau Margarete, geborene Pörschke, im Berliner Stadtteil Wedding geboren.
Horst Kasners Vater – sein Nachname Kaźmierczak wurde später in Kasner geändert – war 1896 als uneheliches Kind von Anna Rychlicka Kaźmierczak und Ludwig Wojciechowski in Posen geboren worden.[4] Anfang 1915 wurde er im Alter von neunzehn Jahren in die preußische Armee eingezogen, kämpfte an der Westfront und geriet in französische Gefangenschaft oder desertierte.[5] Die polnische Presse veröffentlichte 2013 ein Foto, das angeblich Kaźmierczak im Jahre 1919/1920 in der Uniform der Blauen Armee zeigt (zusammen mit seiner Frau).[6] Diese wurde unter französischem Kommando aus deutschen Kriegsgefangenen polnischer Herkunft gebildet und kämpfte zumindest in Teilen 1918 in Frankreich auf Seiten der Westalliierten gegen das Deutsche Reich sowie von 1919 bis 1921 im Polnisch-Ukrainischen Krieg und Polnisch-Sowjetischen Krieg. Es ist daher möglich, dass auch Kazmierczak gegen Deutschland gekämpft hat.[7]
Anfang der 1920er-Jahre siedelte Ludwig Kazmierczak nach Berlin über, nachdem die preußische und zum Deutschen Reich gehörende Provinz Posen 1920 Teil des neu gegründeten Polen geworden war. 1930 änderte er seinen Nachnamen in Kasner, wodurch auch die Familienangehörigen diesen Nachnamen erhielten.[1][8] Ludwig Kasner war 1931 Oberwachtmeister und 1943 Hauptwachtmeister der Schutzpolizei in Berlin.[9]
Kindheit, Studium, Heirat
Kasner wuchs im Berliner Stadtteil Pankow auf. Er wurde zunächst katholisch getauft, dann aber protestantisch konfirmiert.[10]
Er wurde aus der Kriegsgefangenschaft nach Heidelberg entlassen, wo er 1946 das Abitur nachmachte. Er studierte ab 1948 Evangelische Theologie, zunächst an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, anschließend an der Kirchlichen Hochschule Bethel.[11] Während des Studiums hielt er regelmäßigen Kontakt zu seiner Heimatkirche, der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, und schon 1951 äußerte er den Wunsch, dorthin zurückzukehren. Da ein Umzug in die DDR wegen des seinerzeit besonders restriktiven kirchenpolitischen Kurses 1953 auf Schwierigkeiten stieß, verabredete er mit dem zuständigen Konsistorium, sein Vikariat in Hamburg abzuleisten.[12] Als Vikar an der Epiphanienkirche in Winterhude heiratete er die zwei Jahre jüngere Latein- und Englischlehrerin Herlind Jentzsch (* 8. Juli 1928 in Danzig; † 6. April 2019[13]). Am 17. Juli 1954 wurde die gemeinsame Tochter Angela geboren.
Übersiedlung in die DDR
Einen Tag vor der Geburt der Tochter siedelte Kasner von Hamburg in die DDR über. Die damaligen Wanderungsbewegungen über die noch nicht vollständig abgeriegelte innerdeutsche Grenze liefen in die umgekehrte Richtung: Allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 1954 hatten 180.000 Menschen die DDR verlassen, zwischen 1949 und dem Mauerbau 1961 rund 2,5 Millionen. Kasner jedoch, der darin auch von dem Hamburger Bischof Hans-Otto Wölber bestärkt wurde, hielt vor dem Hintergrund des damaligen Pfarrermangels innerhalb der DDR an seinem Vorhaben fest, nach Brandenburg zu gehen.[14] Er trat eine Pfarrstelle im Dorf Quitzow bei Perleberg an; Ehefrau und Tochter, die nach der Geburt zunächst bei der Großmutter Gertrud Jentzsch in der Isestraße 95 gewohnt hatten, zogen nach sechs Wochen in das dortige Pfarrhaus.[15] Die Situation von Christen und Kirchen in der DDR war zum damaligen Zeitpunkt durch Bedrängung seitens der SED geprägt. Dabei zeigten einzelne Pfarrer unterschiedlich starke Bereitschaft, mit der Staatsführung zusammenzuarbeiten und beim „Aufbau des Sozialismus“ mitzuwirken.
Pastoralkolleg Templin
1957 wechselte Kasner in die Kleinstadt Templin in Brandenburg. Dort übernahm er auf Wunsch von Albrecht Schönherr, der 1963 Generalsuperintendent wurde, den Aufbau eines Seminars für kirchliche Dienste, später Pastoralkolleg, eine kirchliche Weiterbildungsstelle. „Aufgrund seiner guten Voraussetzungen für das Amt und seiner Fähigkeit auch pädagogisch zu wirken“ sei Kasner nach Templin berufen worden, sagte Schönherr in einem Gespräch 2004. Der Standort der Weiterbildungsstelle war der Waldhof, ein kirchlicher Gebäudekomplex außerhalb des unmittelbaren Stadtgebietes von Templin, auf dessen Gelände ab 1958 auch geistig Behinderte untergebracht waren.
Am 7. Juli 1957 wurde der Sohn Marcus und am 19. August 1964 die zweite Tochter Irene geboren.
Kasner galt als ein Kirchenmann, der nicht in Opposition zur Staatsführung und zur Kirchenpolitik der SED stand, er wurde jedoch auch nicht als IM der Stasi geführt.[16] Er war – ebenso wie Albrecht Schönherr und Hanfried Müller – Mitarbeiter im Weißenseer Arbeitskreis, der Gegenpositionen zum Bischof in Berlin-Brandenburg, Otto Dibelius, vertrat. Aus Sicht der Staatsführung gehörte Kasner zu den „progressiven“ Kräften. Sein Spitzname zu DDR-Zeiten, der auch in der Presse immer wieder zitiert wird, war dementsprechend der „rote Kasner“.[17] Nach Rainer Eppelmann bezeichnete sich Kasner als den eigentlichen Erfinder des Begriffs Kirche im Sozialismus.[18] Er befand sich als langjähriger Leiter des Pastoralkollegs in einer Schlüsselstellung innerhalb der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg: Theologen mussten im Rahmen ihrer Weiterbildung oder während ihrer Ausbildungszeit als Vikare vor dem zweiten theologischen Examen nach Templin. In diesem Zusammenhang ist kein Druck auf Pfarrer bekannt, die – anders als Kasner – als systemkritisch galten. Richard Schröder schreibt 2004:
„Für mich gehörte Herr Kasner immer zu den vertrauenswürdigen Personen. Und jedenfalls war er kein Konformist. Das Pastoralkolleg Templin war für uns immer auch ein Fenster nach Westen, durch westliche Referenten und westliche Literatur. Die theologischen Referenten waren nicht nach Linie handverlesen.“[19]
Kasner nahm an Auslandsreisen der Nationalen Front teil und verfügte neben dem Privileg von Westreisemöglichkeiten über zwei PKW: einen Dienstwagen und ein Privatfahrzeug, das über Genex beschafft worden war. Andererseits jedoch blieb seiner Frau Herlind Kasner die Tätigkeit im DDR-Schuldienst verwehrt. Ein Anwerbeversuch der Staatssicherheit gilt als gescheitert. Die Aufnahme eines Hochschulstudiums der Kinder wurde – anders als bei den meisten anderen Pfarrersfamilien – nicht behindert.
Ständige Gesprächspartner Kasners in Sachen SED-Kirchenpolitik waren Wolfgang Schnur und Clemens de Maizière, der Vater des späteren DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière. Schnur, der spätere Vorsitzende der Partei Demokratischer Aufbruch, war Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche Greifswald, zeitweise Vizepräsident der Synode der Evangelischen Kirche der Union (EKU) und Synodale des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Clemens de Maizière war ebenfalls als Rechtsanwalt in der DDR tätig. Er war daneben Synodaler der berlin-brandenburgischen Kirche und führendes Mitglied der CDU der DDR. Der Verhandlungspartner von de Maizière, Wolfgang Schnur und Kasner in der DDR-Regierung war von 1979 bis 1988 der damalige Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi.
Der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland stand Kasner spätestens seit den 1960er-Jahren kritisch gegenüber, er unterstützte die Wiedervereinigung nicht. Nach der Wende sah er 1992 Ostdeutschland um das versprochene Wirtschaftswunder betrogen. Er kritisierte, dass „sich die etablierten Parteien den Staat zur Beute gemacht“ hätten und sich „der Parteienstaat der BRD ... eigentlich nur noch durch das Mehrparteiensystem von der Parteidiktatur der DDR“ abhebe.[20]
Er engagierte sich zeitweilig gegen die militärische Weiternutzung des Truppenübungsplatzes Wittstock („Bombodrom“).[21] Darüber hinaus war er Vorsitzender des sich für den Erhalt des Kirchleins im Grünen einsetzenden Fördervereins Kirche Alt Placht e. V.[22]
Kasner verstarb am 2. September 2011 im Alter von 85 Jahren in Berlin und wurde in Templin beigesetzt.[23]
Literatur
- Gerd Langguth: Angela Merkel. 3. Aufl. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2005, ISBN 3-423-24485-2.
- Stefan Kornelius: Die Kanzlerin und ihre Welt. Hoffmann und Campe, Hamburg 2013, ISBN 978-3-455-50291-6.
- Ralf Georg Reuth, Günther Lachmann: Das erste Leben der Angela M. 4. Aufl. Piper, 2013, ISBN 978-3-49205581-9.
Weblinks
- Markus C. Hurek: Prediger gegen die Gier. cicero, 23. November 2004
- Judy Dempsey: The young Merkel: Idealist's daughter. International Herald Tribune, 6. September 2005 (engl.)
- Jacqueline Boysen: Wer war Angela Merkels Vater? Tagesspiegel Online, 3. September 2011
Einzelnachweise
- Familiengeschichte der Kanzlerin: Merkels polnische Wurzeln. Spiegel-Online vom 13. März 2013
- Sterbeort war nach Angaben in mehreren Pressemeldungen (z. B. Jörg Ratzsch, Peter Könnicke, Susann Fischer: Angela Merkel trauert um ihren Vater, Sächsische Zeitung, 5. September 2011) Templin; nach Angaben aus der Familie mit Verweis auf die Sterbeurkunde ist Kasner jedoch in Berlin-Mitte gestorben.
- Chronik – Kirchlein im GrünenAbgerufen am 1. März 2015.
- Merkel hat polnische Wurzeln. In: Süddeutsche Zeitung vom 13. März 2013.
- http://www.n-tv.de/panorama/Merkels-Opa-kaempfte-gegen-Deutsche-article10353776.html
- Dziadek Angeli Merkel był w armii Hallera. Walczył z Niemcami? Gazeta Wyborcza (Poznań), 23. März 2013.
- Großvaters Krieg., In: FAZ, 22. März 2013.
- Merkels Opa sorgt für Aufregung. Focus.de
- Familiengeschichte der Kanzlerin (Archiv). Net Forum
- Die Familie von Kanzlerin Merkel war früher katholisch. (Memento vom 5. November 2013 im Internet Archive) Pfälzischer Merkur vom 24. April 2013.
- Günther Lachmann, Ralf Georg Reuth: Das erste Leben der Angela M. Piper, München 2013, S. 20.
- Karl-Heinrich Lütcke: „... sobald der Notruf der ostzonalen Landeskirchen nach Brüdern an sein Ohr kam ...“. Theologen aus Westdeutschland werden Pfarrer in der Ostregion Berlin-Brandenburgs (1949–1956). In: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte. 70, 2015, S. 262–290, hier S. 276 f.
- Angela Merkel trauert um ihre Mutter. Abgerufen am 12. April 2019.
- Lit.: Langguth
- Merkels Vater Horst Kasner gestorben. In: abendblatt.de. Hamburger Abendblatt, 5. September 2011, abgerufen am 2. Juni 2020.
- Der Geistliche Horst Kasner starb mit 85 Jahren – Angela Merkel trauert um ihren Vater. In: Schwäbisches Tagblatt. Schwäbisches Tagblatt, 5. September 2011, abgerufen am 14. März 2018.
- Alexander Cammann: Die Legende von Angela. In: Zeit Online. Zeit Online, 6. September 2009, abgerufen am 14. März 2018.
- Die Journalistin Christiane Hoffmann gibt eine Äußerung Eppelmanns wieder: „Kasner habe ihm gegenüber erklärt, dass er der eigentliche Erfinder der ‚Kirche im Sozialismus‘ sei, sagt Eppelmann, der im Rahmen seiner Pfarrerausbildung in Templin war.“ Chr. Hoffmann: Der Pfarrer und die Pfarrerstochter. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11. März 2012, abgerufen am 29. Oktober 2018.
- zitiert nach Lit. Langguth
- Jacqueline Boysen zitiert seinen Kommentar aus der Kirchenzeitung der Berlin-Brandenburgischen Evangelischen Kirche (Sommer 1992) in: Angela Merkel. Ullstein Buchverlag, Berlin 2005, ISBN 978-3-548-36832-0, S. 159.
- Martin Klesmann, Jürgen Schwenkenbecher: Keine Ruhe in Rheinsberg. In: Berliner Zeitung. 7. Juni 2006
- Das Kirchlein im Grünen. Herausgeber: Förderverein Kirche Alt Placht e. V., Faltblatt, ohne Jahresangabe, vor 2012.
- Gudrun Janicke: Beerdigung von Horst Kasner. Angela Merkel nimmt Abschied von ihrem Vater. In: Stern. 10. September 2011