Deutschblütig
Die Bezeichnung „deutschblütig“ – oder auch entsprechend „deutschen Blutes“ – wurde in der Zeit des Nationalsozialismus als juristischer Terminus in den Nürnberger Rassegesetzen verwendet. Im Geschäftsverkehr sollte die im Reichsbürgergesetz verwendete Definition einer Person „deutschen oder artverwandten Blutes“ bereits 1935 durch das Wort „Deutschblütiger“ ersetzt werden.[1] Tatsächlich aber fand die Formel deutschen oder artverwandten Blutes weiter Verwendung, unter anderem auch im Reichsgesetzblatt des Jahres 1939.[2] Unklar blieb bis ins Jahr 1942, wie das Adjektiv „artverwandt“ auszulegen sei.
Der Begriff des deutschen Blutes ist eine Metapher für den Sachverhalt, dass ein Mensch von Deutschen (bzw. von Menschen, auf die zum Zeitpunkt der Begriffsverwendung das Attribut „deutsch“ angewendet wurde) abstammt. In diesem Sinne wird der Begriff deutsches Blut seit Jahrhunderten verwendet. Als Metapher impliziert der Begriff nicht notwendigerweise die Vorstellung, dass man anhand einer Blutanalyse mit naturwissenschaftlichen Methoden die Eigenschaft eines Menschen, deutsch zu sein, feststellen könne, wenn auch Seroanthropologen diese Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen.[3] So erkannte beispielsweise Ludwik Hirszfeld, ein Pionier der Blutgruppenforschung, dass die Blutgruppenzugehörigkeit erblich ist und dass Blutgruppen in verschiedenen Volksgruppen verschieden verteilt sind. Die Annahme, durch Analyse der Blutzusammensetzung eines Menschen dessen Zugehörigkeit zu einer „Rasse“ nachweisen zu können, erwies sich jedoch als irrig.
Der Umgang mit dem Begriff „deutsches Blut“ im historischen Kontext
16. Jahrhundert: Niederländische Nationalhymne
In den Jahren 1568 bis 1572 entstand die Hymne „Het Wilhelmus“, die seit 1932 als offizielle Nationalhymne der Niederlande dient. Die erste Strophe beginnt mit den Worten Wilhelmus van Nassouwe / ben ik, van Duitsen bloed […] (deutsch: „Wilhelm von Nassau / bin ich, von deutschem Blut […]“). Damit sollte nicht betont werden, dass Wilhelm von Nassau-Dillenburg kein ethnischer Niederländer war; vielmehr wurde das Wort duits in der damaligen niederländischen Sprache im Sinne von kontinentalwestgermanisch verstanden. Erst 1648 wurde im Westfälischen Frieden völkerrechtlich verbindlich das endgültige Ausscheiden der Niederlande aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation festgestellt. Das lyrische Ich in dem Lied will zum Ausdruck bringen, dass es von Germanen und nicht von Romanen abstammt, obwohl Wilhelm von Nassau auch Besitztümer in Frankreich (bei Orange) hatte.[4] Der Sprachwandel im Wortfeld „deutsch“ im Laufe der Jahrhunderte im Deutschen und in verwandten germanischen Sprachen ist auch an dem englischsprachigen „falschen Freund“ Dutch erkennbar: The Dutch king bedeutet auf Deutsch: „der niederländische König“.
Niederländische Nationalhymne war von 1817 bis 1933 Wien Neêrlands bloed. Darin wird von niederländischem Blut in den Adern des lyrischen Ichs gesprochen.
20. Jahrhundert: Nationalsozialistische Begrifflichkeit
Die Begriffe deutschblütig, artverwandt und arisch wurden von Nationalsozialisten benutzt, um die Angehörigen des sogenannten deutschen „Herrenvolks“ bzw. der sogenannten „Herrenrasse“, der dieses angeblich angehöre, zu bezeichnen.
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Personenkreis, der zu den „Herrenmenschen“ gehören sollte, mit verschiedenen Begriffen bezeichnet. Ausdrücke wie „arisch“, „Arier“, „Ariernachweis“ oder „Arierparagraph“ gehörten durchgängig zum allgemeinen Sprachgebrauch. Zugleich ist jedoch eine Tendenz feststellbar, den schwammigen Begriff „arisch“ durch vermeintlich präzisere Begriffe wie „deutschblütig“ und „artverwandt“ zu ersetzen.
Der Begriff „arisch“
Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 verwendete die Formel „nicht arischer Abstammung“, um im Sinne nationalsozialistischer Weltanschauung jüdische Beamte aus dem Dienst entfernen zu können.
„Nicht arisch“ war in diesem Sinne im Wesentlichen bedeutungsgleich mit „jüdisch“. Nationalsozialistische Wissenschaftler wiesen auf eine gebräuchliche Gleichsetzung von „arisch“ mit „indogermanisch“ hin und empfahlen, stattdessen „nichtjüdisch“ oder „deutschblütig“ zu benutzen.[1] 1935 definierte eine Enzyklopädie: „Vereinzelt sind sie [die Arier] mit der nordischen Rasse gleichgesetzt worden. Im völkischen, rassekundlichen Sinne wird der Begriff heute [i. e. 1934/1935] als Sammelname der europ. Hauptrassen (nordisch, westisch, ostisch, ostbaltisch, dinarisch) gebraucht, und zwar hauptsächlich als Gegensatz zu den nicht ursprünglich europ. Rassen (bes. der vorderasiatischen und orient. Rasse, den Hauptbestandteilen des jüd. Volkes).“[5]
Zu den „nicht-arischen“ „Fremdrassigen“ wurden neben den Juden auch „Zigeuner, Zigeunermischlinge und nach Zigeunerart herumziehende Personen“[6] sowie „Rheinlandbastarde“ und andere Menschen mit dunkler Hautfarbe gezählt. Unterschiedlich wurden in der Ära des Nationalsozialismus (als Einzelfallentscheidungen) Perser, Afghanen und Japaner bewertet.
Hochrangige Vertreter des Reichsjustizministeriums, des Rasse- und Siedlungshauptamtes sowie Ernst Rüdin vom Reichsinnenministerium schlugen im Juni 1935 eine andere Bezeichnung anstelle von „Arier“ vor: Es solle unterschieden werden zwischen Deutschstämmigen aus Deutschland und dem germanischen Lebensraum, „Stammesverwandten“ aus angrenzenden Nachbarstaaten und „Fremdstämmigen“ ohne jede „blutsmäßige Verbindung zum deutschen Volke“.[7] Bei künftigen Verordnungen sollten demzufolge Angehörige befreundeter Länder wie Japan nicht mehr als „Nicht-Arier“ eingeordnet und diskriminiert, sondern als „stammesverwandt“ von Benachteiligungen befreit werden.
Noch 1940 wurde jedoch in einer amtlichen Verordnung das Attribut „arisch“ als Erläuterung für „deutschblütig“ beigefügt.[8]
Der Begriff „deutschblütig“
Im September 1935 wurden die Nürnberger Rassegesetze verabschiedet, in denen nicht mehr die Formel „arischer Abstammung“ als Gegenstück zu „Jude“ gebraucht wird, sondern von Reichsbürgern „als Staatsangehörige(n) deutschen oder artverwandten Blutes“ die Rede ist. Ein Runderlass des Preußischen Ministeriums des Inneren vom 26. November 1935 bestimmte, dass nunmehr „im Geschäftsverkehr für eine Person deutschen oder artverwandten Blutes der Begriff ‚Deutschblütiger‘ zu verwenden“ sei.[1]
Bereits das 25-Punkte-Programm der NSDAP aus dem Jahre 1920 enthielt den Grundsatz, dass Staatsbürger oder Volksgenossen nur Personen „deutschen Blutes“ sein sollten; der Begriff „arisch“ wurde dort nicht verwendet.[9] Als „deutschblütig“ galten Personen, die von deutschen Vorfahren abstammten.[10]
Der Judenstatus eines Menschen wurde amtlich trotz der rassistischen Grundlage der nationalsozialistischen Gesetzgebung vor allem aufgrund seiner Religionszugehörigkeit festgestellt. Bei „Juden“, die nicht als religiöse Juden registriert waren, galten Kirchenbücher als wichtigste Quelle. Wer selbst zum Christentum konvertiert war oder wer Vorfahren hatte, für die dies nachgewiesen werden konnte (was hinsichtlich des 19. und 20. Jahrhunderts mit Hilfe von deutschen Kirchenbüchern in der Regel mühelos möglich war),[11] der galt als „Volljude“, „Halbjude“, „Vierteljude“ usw. Die Praxis der Einstufung nach einem kulturellen Merkmal wurde durch § 5 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz offiziell abgesichert.[12]
Der Begriff „artverwandt“
Die Formel „deutschen oder artverwandten Blutes“ wurde während des Zweiten Weltkriegs häufig in amtlichen Dokumenten benutzt: In einem Führererlass betreffend die Verwaltung der Ostgebiete vom 8. Oktober 1939 zum Beispiel werden Bewohner „deutschen oder artverwandten Blutes“ nach Maßgabe näherer Vorschriften zu deutschen Staatsangehörigen erklärt.[13] Auslegungsfähig und unpräzise blieb lange Zeit der Terminus „artverwandten Blutes“.
Im Zusammenhang mit der Rekrutierung zur Waffen-SS, die Freiwillige aus Skandinavien, den Niederlanden und Flandern aufnahm, erließ Heinrich Himmler am 23. März 1942 eine geheime Anordnung, wonach „germanische“ Völker als „artverwandtes Blut“ zu gelten hätten, während „nichtgermanische Völker“ und insbesondere Slawen nicht dazu gehören sollten. Folgerichtig wurden Ostarbeiter als Zwangsarbeiter besonders schlecht behandelt. Ein Kommentar zur „Rassen- und Erbpflege“ führt zur Unterscheidung fremder Völker näher aus: „Zu den Trägern artverwandten Blutes gehören die Angehörigen derjenigen Völker, die im wesentlichen von denselben Rassen abstammen wie das deutsche Volk.“ Hierzu zählten die nordischen Völker einschließlich der Engländer, aber auch Franzosen, Italiener, Balten und weitere, soweit sie sich „artrein“ erhalten hätten. Der Besitz der entsprechenden Staatsangehörigkeit reiche indes für die Beurteilung von „artverwandt“ oder „artfremd“ nicht aus; es komme auf die persönlichen rassebiologischen Merkmale an.[14]
Isabel Heinemann spricht in diesem Zusammenhang von „einer begrifflichen Neufassung“: „Waren bisher Norweger wie Russen in der nationalsozialistischen Rassentheorie als ‚artverwandtes Blut‘ bezeichnet worden, so unterteilte man nun stattdessen in ‚germanische‘ (‚stammesgleiche‘) und ‚nichtgermanische‘ (,nichtstammesgleiche‘) Völker sowie ‚wiedereindeutschungsfähige Angehörige nichtgermanischer Völker‘ mit Sonderstatus.“[15]
Letztlich ging es den Nationalsozialisten bei ihrer Begriffsverwendung stets darum, zu begründen, warum man Menschen, die nachweislich nicht deutscher Abstammung waren, trotzdem bescheinigen wollte, dass sie es „wert seien“, in Zukunft Teil des „deutschen Herrenvolks“ zu sein, dass es zumindest aber keinen Grund gebe, sie zu diskriminieren. Auf diese Weise kamen Konstrukte wie das des „artverwandten“ Japaners zustande.
Das Reden von „deutschem Blut“ nach 1945
Auch nach 1945 ist die Vorstellung lebendig geblieben, Menschen „deutschen Blutes“ hätten genetisch bedingt bestimmte Eigenschaften. Der in der NS-Zeit einschlägig hervorgetretene Schriftsteller Karl Götz beispielsweise sah 1951 ein „feine(s) Netz aus deutschem Blut, das über alle Länder gesponnen ist“.[16] Emil Wezel, seit 1939 Herausgeber der Reihe Brot und Wein, postulierte 1958 eine „dunkle Erinnerungstiefe des Blutes“.[17] 1999 berichtete Die Welt von einem Pfälzer, der „es schon immer“ gewusst habe, „dass Rock-’n’-Roll-Star Elvis Presley […] deutsches Blut in den Adern gehabt haben“ müsse. Begründung: „Er war wie die Pfälzer – nett, offen und hilfsbereit. Das kann kein Zufall sein.“[18]
Literatur
- Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-019549-1, Wortfeld „Blut…“: S. 109–125.
- Christina von Braun/Christoph Wulf (Hrsg.): Mythen des Blutes, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-593-38349-1.
- Caspar Battegay: Das andere Blut: Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830–1930, Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2011, ISBN 978-3-412-20634-5.
Weblinks
- Christina von Braun: Blut als Metapher in Religion und Kunst. Vortrag auf dem Evangelischen Kirchentag Frankfurt am Main, 15. Juni 2001 (PDF; 154 kB)
- Dem Führer blond genug, Die Zeit Nr. 15/1997 vom 4. April 1997
Einzelnachweise
- Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. 2., durchges. und überarb. Aufl., Berlin 2007, S. 57.
- RGBl. 1939 I S. 2042, § 6.
- Veronika Liphardt: Biologie der Juden: Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900–1935. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, S. 150 ff.
- Luc DeGrauwe: Emerging Mother-Tongue Awareness: The special case of Dutch and German in the Middle Ages and the early Modern Period, in: Andrew Robert Linn, Nicola McLelland (Hrsg.): Standardization: studies from the Germanic languages, 2002, S. 99–116, insb. S. 107.
- Der Große Brockhaus – Ergänzungsband A–Z, Leipzig 1935, Stichwort „Arier“.
- Siegfried Maruhn: Staatsdiener im Unrechtsstaat. Die deutschen Standesbeamten und ihr Verband unter dem Nationalsozialismus, Verlag für das Standesamtswesen, 2002, S. 125.
- Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas. Wallstein, Göttingen 2003, ISBN 3-89244-623-7, S. 81.
- Siehe Verordnung über den Nachweis deutschblütiger Abstammung vom 1. August 1940.
- LeMO: 25-Punkte-Programm der NSDAP, Punkt 4.
- Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 3. Aufl., Mannheim 1999, ISBN 3-411-04753-4 (neue ISBN 3-411-70362-8), Bd. 2, S. 798.
- Christine Kükenshöner: Deutsches Blut in Kirchenbüchern, Evangelische Zeitung, 18. Juni 2008.
- Diemut Majer: „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Harald Boldt Verlag, Boppard 1993, S. 118.
- Erlaß des Führers und Reichskanzlers über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete vom 8. Oktober 1939 (RGBl. I S. 2042, § 6 Abs. 1)
- Stuckart/Schiedermair: Rassen und Erbpflege in der Gesetzgebung des Reiches. 3., erw. Aufl. 1942; zitiert nach Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 2007, S. 71.
- Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“, Göttingen 2003, S. 476.
- Karl Götz: Ein schwäbisches Vetternnetz. In: Schwäbische Heimat 5/1951, S. 204.
- Emil Wezel: Erlebte Heimat in der schwäbischen Dichtung unserer Zeit. In: Schwäbische Heimat 9/1958, S. 24–27, S. 25.
- Mirjam Mohr: Forscher auf den deutschen Spuren von Elvis Presley. Seine Vorfahren sollen aus der Pfalz stammen, in: Die Welt vom 19. April 1999.