École des hautes études en sciences sociales
Die École des hautes études en sciences sociales (kurz EHESS) ist eine französische Elite-Hochschule für Sozialwissenschaften in Paris. Die Hochschule genießt als Grand établissement das höchste Prestige aller wissenschaftlichen Einrichtungen Frankreichs. Als Teil der Université de recherche Paris Sciences et Lettres (unter anderem mit der École normale supérieure oder dem Collège de France) zählt sie zudem zur besten Universität von ganz Frankreich.[1][2]
École des hautes études en sciences sociales Hochschule für Sozialwissenschaften | |
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Gründung | 1947 |
Trägerschaft | staatlich |
Ort | Paris |
Land | Frankreich |
Direktor | Christophe Prochasson |
Studierende | 3418 |
Mitarbeiter | 800 |
davon Professoren | 250 |
Jahresetat | 60 Mio. Euro |
Netzwerke | Université de recherche Paris Sciences et Lettres (PSL) |
Website | www.ehess.fr |
Seit ihrer Gründung als Grand établissement zählt die Hochschule zu den wichtigsten und prestigeträchtigsten Forschungsinstitutionen im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften von ganz Frankreich und ist demnach mit einer Vielzahl von den führenden Intellektuellen des Landes assoziiert. Darunter befinden sich mitunter die beiden Nobelpreisträger für Ökonomie Esther Duflo und Jean Tirole, die Soziologen Pierre Bourdieu, Claude Lévi-Strauss und Eva Illouz, die Philosophen Raymond Aron, Roland Barthes und Jacques Derrida sowie die Historiker Fernand Braudel, Jacques Le Goff und Emma Rothschild.
Geschichte
Anfänge und Einfluss der Annales-Schule
Die EHESS wurde im Jahr 1947 als sechste Abteilung der École libre des hautes études (ELHE) in Paris gegründet, nachdem die Hochschule aus ihrem Exil in New York City zurück nach Frankreich gekehrt war. Die ELHE wurde im Jahr 1942 in New York City von Claude Lévi-Strauss, Gustave Cohen, Henri Focillon, Jacques Maritain und Jean Perrin mit dem Ziel gegründet, die aus dem von Nazi-Deutschland besetzten Frankreich in die Flucht getriebenen Forscher und Intellektuellen in einem gemeinsamen Hochschulinstitut zu vereinen. Durch die logistische und finanzielle Unterstützung der amerikanischen Regierung unter Franklin D. Roosevelt und der Rockefeller-Stiftung wurde die Schule zum französischen Ableger der New School for Social Research in New York City.[3]
Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die Schule in der 1947 gegründeten sechsten Abteilung der École pratique des hautes études (EPHE) in Paris einen institutionellen Rahmen. In der Folgezeit wurde sie durch ihr heute unter dem Begriff der Annales-Schule bekanntes Wirken zur einflussreichsten Strömung in der französischen Geschichtswissenschaft und entwickelte große internationale Wirkung. Viele bedeutende Lehrstühle (z. B. an der Sorbonne oder dem Collège de France) wurden von Vertretern der EHESS besetzt. Auch in der Darstellung der Geschichte in der französischen Öffentlichkeit nahmen die Annales-Historiker der EHESS eine dominierende Stellung ein.[4][5][6]
Autonomie und Status als Elite-Hochschule
Im Jahr 1975 emanzipierte sich die Abteilung schließlich unter der Ägide von Jacques Le Goff (Gründer) und entwickelte sich zum eigenständigen Hochschulinstitut, das sich ausschließlich dem Doktoratsstudium widmete. Im Jahr 1984 wurde das Institut schließlich zu einer grande école ernannt, wodurch es seitdem zu den prestigeträchtigsten Forschungs- und Hochschuleinrichtungen ganz Frankreichs zählt. Die Auswahl der Studenten ist selektiv und es werden nur Studenten mit abgeschlossenem Bachelor-of-Arts-Studiengang zugelassen. Bachelor-Studiengänge gibt es an der EHESS nicht. Unter anderem zusammen mit der ENS Ulm, der École des Mines und dem Collège de France bildet sie die Paris Science et Lettres, welche eine aus 13 Institutionen vereinigte Forschungsuniversität im Rahmen der französischen Exzellenzinitiative ist und in den gängigen internationalen Rankings als beste französische Universität gilt.
Annales-Zeitschrift
Die im Jahr 1929 von Marc Bloch und Lucien Febvre gegründete Annales-Zeitschrift, welche es sich zur Aufgabe machte, Arbeiten zu publizieren, in denen verschiedene humanwissenschaftliche Disziplinen für die Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht werden konnten, wird heute von der Hochschule vertrieben. Aus der methodologischen Herangehensweise an die Geschichtswissenschaft unter Einbeziehung anderer Disziplinen entwickelte sich die nach der Zeitschrift benannte Annales-Schule, die bis heute in den Annales publiziert. Die Zeitschrift zählt heute als die meistverbreitete Fachpublikation für Geschichtswissenschaften in französischer Sprache. Seit dem Jahr 2016 wird die englische Ausgabe der Zeitschrift in Zusammenarbeit mit der University of Cambridge editiert und vertrieben.[7][8]
Studentenzahlen und Professoren
Die Zahl der Studierenden ist mit rund 3400 recht klein im Vergleich zu anderen Pariser Hochschulen. So zählt die Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne 14-mal oder die Sciences Po viermal so viele Studenten wie die EHESS. Außergewöhnlich ist auch der Betreuungsschlüssel; so kommen an der EHESS auf nur etwas mehr als vier Studierende eine Lehrperson (knapp 3400 Studierende und 800 Lehrende). Etwas weniger als die Hälfte der Studenten sind Doktoranden, 36 % der Studierenden und 51 % der Doktoranden kommen aus dem Ausland.[9]
Aufgabenfelder
Aufgabe der EHESS ist die Forschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften, Geschichte, Soziologie, Ökonomie, Anthropologie, Demographie, Geographie, Archäologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie, Rechtswissenschaften sowie Mathematik. Die EHESS bietet seit einigen Jahren vereinzelt auch Master-Programme an, wobei sie traditionell allerdings vor allem auf Doktoratsstufe aktiv war.
Partnerschaften
Wichtige Partnerschaften bestehen insbesondere zum Centre national de la recherche scientifique (CNRS) im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften (deren wichtigster Partner die EHESS darstellt), der New School for Social Research in New York City sowie der University of Chicago.[10] Im Fach Geschichte unterhalten sowohl die Yale University, als auch die Columbia University in Frankreich einzig mit der EHESS sowie der ENS Austauschprogramme und Partnerschaftsabkommen.[11][12][13] Im Jahr 2008 wurde ebenfalls der deutsch-französische Exzellenz-Master in Geschichtswissenschaften in Kooperation mit der Universität Heidelberg aufgebaut.
Standort
Der Standort der Hochschule befindet sich seit der Gründung im Quartier Saint-Germain-des-Prés im 6. Arrondissement von Paris. Da das ursprüngliche Hauptgebäude am Boulevard Raspail asbestbedingt grundsaniert wurde, mussten Dozenten und Verwaltungsangehörige den Traditionsbau im Dezember 2010 vorübergehend räumen, konnten inzwischen aber teilweise zurückkehren. Der Hauptsitz der Hochschule befindet sich nunmehr wieder am ursprünglichen Gebäude am Boulevard Raspail 54.[14]
Professoren und Dozenten
Zu ihren Professoren und Dozenten gehörten und gehören die führenden Intellektuellen des französischen Geisteslebens des 20. und 21. Jahrhunderts, unter anderem (alphabetisch):
- Raymond Aron (1905–1983)
- Stéphane Audoin-Rouzeau (* 1955)
- Georges Balandier (1920–2016)
- Roland Barthes (1915–1980)
- Nicolas Barreyre
- Henri Berestycki (* 1951)
- Pierre Bourdieu (1930–2002)
- Hamit Bozarslan (* 1958)
- Fernand Braudel (1902–1985)
- Luc Boltanski (* 1940)
- Claude Calame (* 1943)
- Fernando Henrique Cardoso (* 1931)
- Manuel Castells (* 1942)
- Cornelius Castoriadis (1922–1997)
- Roger Chartier (* 1945)
- Alain Chatriot (* 1975)
- Natalie Zemon Davis (* 1928)
- Jacques Derrida (1930–2004)
- Philippe Descola (* 1949)
- Georges Didi-Huberman (* 1953)
- François Dubet (* 1946)
- Vincent Duclert (* 1961)
- Esther Duflo (* 1972)
- Christophe Duhamelle (* 1966)
- Didier Fassin (* 1955)
- Marc Ferro (1924–2021)
- François Furet (1927–1997)
- Marcel Gauchet (* 1946)
- Maurice Godelier (* 1934)
- Nilüfer Göle (* 1953)
- Bernard E. Harcourt (* 1963)
- François Hartog (* 1946)
- Eva Illouz (* 1961)
- Pierre Jeannin (1924–2004)
- Rainer Maria Kiesow (* 1963)
- Christiane Klapisch-Zuber (* 1936)
- Jacques Lacan (1901–1981)
- Antoine Lilti (* 1972)
- Claude Lefort (1924–2010)
- Jacques Le Goff (1924–2014)
- Moshe Lewin (1921–2010)
- Antonín Jaroslav Liehm (* 1924)
- Louis Marin (1931–1992)
- Philippe Maurice (* 1956)
- Georges de Ménil (* 1940)
- Pierre-Michel Menger (* 1953)
- Pierre Monnet (* 1963)
- Gérard Noiriel (* 1950)
- Pierre Nora (* 1931)
- Jean-Pierre Olivier de Sardan (* 1941)
- Thomas Piketty (* 1971)
- Krzysztof Pomian (* 1934)
- Christophe Prochasson (* 1959)
- Denis Richet (1927–1989)
- Pierre Rosanvallon (* 1948)
- Emma Rothschild (* 1948)
- Olivier Roy (* 1949)
- Ignacy Sachs (* 1927)
- Jacques Sapir (* 1954)
- Gisèle Sapiro (* 1965)
- Jean-Claude Schmitt (* 1946)
- René Taton (1915–2004)
- Émile Témime (1926–2008)
- Jean Tirole (* 1953)
- Alain Touraine (* 1925)
- Cécile Vidal
- Pierre Vidal-Naquet (1930–2006)
- Michael Werner (Historiker) (* 1946)
- François Weil (* 1961)
- Michel Wieviorka (* 1946)
- Heinz Wismann (* 1935)
Weblinks
- Offizielle Website (französisch)
Einzelnachweise
- World University Rankings. 18. August 2017, abgerufen am 13. Oktober 2019 (englisch).
- Wikiwix's cache. Abgerufen am 28. März 2020.
- Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales: Dates clefs de l'histoire de l'EHESS. 10. Dezember 2015, abgerufen am 13. Oktober 2019 (französisch).
- École des hautes études en sciences sociales. Abgerufen am 28. März 2020 (französisch).
- Olivier Godechot: How Did the Neoclassical Paradigm Conquer a Multi-disciplinary Research Institution?. Economists at the EHESS from 1948 to 2005. In: Revue de la régulation. Capitalisme, institutions, pouvoirs. Nr. 10, 17. November 2011, ISSN 1957-7796, doi:10.4000/regulation.9429 (openedition.org [abgerufen am 28. März 2020]).
- Historisches Seminar, Jürgen Miethke: Geschichte in Heidelberg: 100 Jahre Historisches Seminar 50 Jahre Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde. Springer-Verlag, 2013, ISBN 978-3-642-76669-5 (google.ch [abgerufen am 28. März 2020]).
- Sommaire : Les Annales. Abgerufen am 25. März 2020 (französisch).
- Annales HSS. Abgerufen am 25. März 2020 (französisch).
- L’EHESS, une grande école ouverte aux réfugiés. In: Le Monde.fr. 26. März 2016 (lemonde.fr [abgerufen am 28. März 2020]).
- École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) Exchange Fellowship in Paris, France – UChicagoGRAD | The University of Chicago. Abgerufen am 28. März 2020.
- Columbia University: The Ecole des hautes études en sciences sociales. Abgerufen am 8. April 2020 (englisch).
- Columbia University: Courses at French Universities. Abgerufen am 8. April 2020 (englisch).
- International Exchanges | The Center for Historical Enquiry and the Social Sciences. Abgerufen am 7. Mai 2020.
- Inauguration du siège de la Fondation Maison des Sciences de l'Homme et de l'Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales. Abgerufen am 28. März 2020 (französisch).