Vertragsarbeiter
Als Vertragsarbeiter wurden ausländische Arbeitskräfte und Auszubildende bezeichnet, welche in der DDR und anderen wirtschaftlich höher entwickelten RGW-Staaten wie der Tschechoslowakei und der Volksrepublik Ungarn ab den 1960ern zeitlich befristet und ohne Integrationsabsicht als Gastarbeiter vertraglich angeworben wurden. Keine Vertragsarbeiter waren in Betrieben der DDR beschäftigte Flüchtlinge, ausländische Studenten und Auszubildende sowie Angehörige von ausländischen Unternehmen oder der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland.
Vertragsarbeiter wurden für die Verstärkung für unterbesetzte Arbeitsbereiche hergeholt wie z. B. in der Leichtindustrie oder auch in der Konsumgüterindustrie. Die jeweiligen Bedingungen, Aufenthaltsdauer, Rechte und Anzahl der Vertragsarbeiter wurden vertraglich mit der jeweiligen Regierung individuell ausgehandelt (durch einen sog. Staatsvertrag). Die Dauer der Aufenthaltsgenehmigung variierte zwischen zwei und sechs Jahren je nach Herkunft. Ein ständiger Aufenthalt jedoch war vertraglich und gesetzlich nicht vorgesehen. Der Nachzug von Familienangehörigen war ausgeschlossen. Nach Ablauf der vertraglichen Frist mussten die Vertragsarbeiter in der Regel die Länder verlassen und in ihr Heimatland zurückkehren. In der DDR wohnten die Vertragsarbeiter während ihres Aufenthalts in getrennten Wohnheimen, meist von DDR-Betrieben eingerichtet und deutlich abgetrennt von der heimischen Bevölkerung.
Geschichte
Nach Gründung der DDR 1949 waren bis zum Bau der Berliner Mauer im Jahre 1961 rund vier Millionen ihrer Bürger in die Bundesrepublik geflüchtet bzw. übergesiedelt. Die Abwanderung bewirkte in der DDR einen akuten Arbeitskräftemangel.[1]
Ab den 1960er Jahren warb die DDR Vertragsarbeiter an. Derartige Abkommen gab es mit anderen sozialistischen Staaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) wie etwa:
- Volksrepublik Polen (1965)
- Ungarische Volksrepublik (1967)
- Mosambik (1979)[2] (siehe auch Madgermanes)[3]
- SR Vietnam (1980)
Im Rahmen der „sozialistischen Bruderhilfe“ kamen ebenfalls Arbeiter aus:
Die Auszubildenden sollten einen Facharbeiterabschluss erlangen und die an Arbeitskräftemangel leidende DDR-Wirtschaft unterstützen, bis sie nach Ende ihrer Delegierung wieder in ihren Entsendeländern höher qualifiziert arbeiten konnten.
Motivation waren zunächst die Aus- und Weiterbildung von Arbeitskräften und später auch die Deckung des Mangels an billigen Arbeitskräften für schlecht bezahlte und/oder gefährliche Arbeitsplätze. Die Aufenthaltsdauer war limitiert auf zunächst zwei und später fünf Jahre. Das strenge Rotationssystem erlaubte keinen Familiennachzug.
Im Falle einer Schwangerschaft drohte umgehende Ausweisung. Die Vertragsarbeiter lebten in abgeschotteten Baracken oder Wohnblöcken. Kontakte zu Einheimischen waren von den zuständigen Behörden zu genehmigen und berichtspflichtig.
Siedlungszentren waren die industriellen Ballungsgebiete Chemnitz, Dresden und Erfurt. Zwar galten die Anwerbevereinbarungen als Zeichen der „internationalen Völkerfreundschaft“, doch war Integration aufgrund des vorübergehenden Charakters der Arbeit nicht vorgesehen. Den Arbeitern wurden Schritt für Schritt immer unqualifiziertere Arbeiten zugewiesen.[4] Die Vertragsarbeiter kamen bevorzugt bei schwerer oder monotoner Arbeit zum Einsatz, die von DDR-Bürgern abgelehnt wurde. Erfüllten sie die Arbeitsnormen nicht oder verstießen sie gegen die „sozialistische Arbeitsdisziplin“, dann drohte die Rückkehr ins Heimatland.
Polen entsandte jährlich 10.000 bis 30.000 qualifizierte Arbeitskräfte für Bau- und Montagearbeiten in den Nachbarstaat. Die polnischen Fachkräfte hatten ebenfalls eine befristete Aufenthaltsdauer, doch bekamen sie finanzielle Vergünstigungen. Sie lebten ebenfalls abgeschottet in Wohnheimen, Kontakt zu den Einheimischen war auch ihnen verboten. Ebenso arbeiteten zeitweise ungarische Staatsbürger bei der Errichtung von Chemieanlagen in der DDR, einige verheirateten sich hier und blieben dauerhaft.
Am 28. Juni 1979 trat das Gesetz über die Gewährung des Aufenthaltes für Ausländer in der Deutschen Demokratischen Republik in Kraft.[5] Das Regelwerk war sehr flexibel gehalten und erlaubte relativ viel Vereinbarungsspielraum mit den jeweiligen Vertragsstaaten. Laut § 4 waren Ausländer den Einheimischen gleichberechtigt, ausgenommen der unmittelbaren, mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Rechte. § 6 erlaubte jedoch, dass die erteilte Aufenthaltsgenehmigung zeitlich und örtlich beschränkt, versagt, entzogen oder für ungültig erklärt werden konnte. Die Entscheidung bedurfte keiner Begründung. Die Behörden unterbanden weiterhin private Kontakte zwischen Ausländern und Einheimischen.
Nach Vereinbarung des Zweiten Regierungsabkommens zwischen der DDR und Vietnam im Jahr 1980 wanderten in der Hauptsache vietnamesische Vertragsarbeiter ein. Den Großteil stellten Frauen, welche in der Textilindustrie arbeiteten.
1981 arbeiteten 24.000 Vertragsarbeiter in der DDR. Abgesehen von den Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte (GSSD) lebten Ende 1989 etwa 190.000 Ausländer in der DDR, dies entsprach über einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Davon waren etwa 94.000 Vertragsarbeiter. Zwei Drittel waren vietnamesischer Herkunft. Nach der deutschen Vereinigung 1990 bemühte sich die Bundesregierung darum, die noch laufenden zwischenstaatlichen Verträge zu den Vertragsarbeitern aufzulösen und diese in ihre ursprüngliche Heimat zurückzuschicken. Nur wenigen gelang es dabei, sich einen Aufenthaltsstatus in Deutschland zu sichern.[4]
Statistik
Die Einwanderung der Vertragsarbeiter begann in den 1960er Jahren und nahm besonders seit Mitte der 1980er bis Ende der 1980er Jahre erheblich zu. 1990 wurden die Verträge über weitere einreisende Vertragsarbeiter aufgelöst. Die noch auslaufenden Verträge wurden meist beibehalten, sofern der Betrieb die Wendezeit wirtschaftlich überstand. Die meisten Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter kehrten allmählich wieder in ihre Herkunftsländer zurück, da ihnen das Aufenthaltsrecht keinen Status zugestand. Einige bekamen befristete Aufenthaltsbefugnisse oder inzwischen auch eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland.
Anzahl | Herkunft |
---|---|
59.000 | Vietnam |
15.100 | Mosambik |
8.300 | Kuba |
1.300 | Angola |
900 | China |
Gesamtanzahl: etwa 93.500 von insgesamt 191.200 Ausländern in DDR.
Jahr | 1966 | 1967 | 1969 | 1970 | 1971 | 1974 | 1977 | 1978 | 1979 | 1980 | 1981 | 1984 | 1986 | 1987 | 1988 | 1989 |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Anzahl | 3.500 | 14.000 | 14.134 | 12.200 | 14.800 | 18.680 | 16.500 | 18.692 | 20.597 | 26.006 | 24.000 | 29.000 | 61.000 | 52.015 | 87.793 | 93.568 |
Ausstellungen zur Geschichte der Vertragsarbeiter in der DDR
In Berlin widmete sich zum ersten Mal im November 2008 eine umfangreiche Ausstellung den Vertragsarbeitern. Ziel der Ausstellung war es, den Deutschen, aber auch den Nachfahren der Vertragsarbeiter zu zeigen, wie und warum diese damals in die DDR kamen. Die Ausstellung trug den Titel „Bruderland ist abgebrannt“.
„Die Wirtschaft der DDR war ohne sie nicht denkbar, aber niemand war ihnen dankbar.[6]“
Die Ausstellung wurde gefördert von der Amadeu Antonio Stiftung,.[7]
Die Wanderausstellung Als Arbeitskraft willkommen. Vietnamesische Vertragsarbeiter in der DDR[8] der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, die 2009 gemeinsam mit der Integrationsbeauftragten des Landes Brandenburg und dem Song Hong e. V. konzipiert und realisiert wurde, stellt die Situation der vietnamesischen Vertragsarbeiter in der DDR an konkreten Beispielen dar. Ausschnitte aus Interviews mit ehemaligen Vertragsarbeitern werden durch Dokumente und persönliche Erinnerungsstücke ergänzt. Fotografien, Arbeitsverträge, Ausschnitte aus Stasi-Akten und Zeitungsartikel wurden aus den unterschiedlichsten Quellen zusammengetragen und zeichnen ein differenziertes Bild dieses bis heute weitgehend unbekannten Kapitels jüngerer Geschichte. Sie kann kostenlos ausgeliehen werden.
Hörfunk
- Thomas Gaevert: Deutschland ist ein weißgeblümtes Kleid – Warum die Vietnamesin Huong Trute vor über 40 Jahren in die DDR kam und blieb – Produktion: Südwestrundfunk 2019, Erstsendung: 6. März 2019, SWR 2
Siehe auch
Literatur
- Ulrich van der Heyden, Wolfgang Semmler, Ralf Straßburg (Hrsg.): Mosambikanische Vertragsarbeiter in der DDR-Wirtschaft. Hintergründe – Verlauf – Folgen. Lit, Münster 2014, ISBN 978-3-643-12627-6.
- Eric Allina: „Neue Menschen“ für Mosambik. Erwartungen an und Realität von Vertragsarbeit in der DDR der 1980er-Jahre. In: Arbeit – Bewegung – Geschichte. Heft III, 2016, S. 65–84.
- (DHM): Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500–2005. Deutsches Historisches Museum Berlin
- Marianne Krüger-Potratz: Anderssein gab es nicht. Ausländer und Minderheiten in der DDR. Waxmann, Münster 1991, ISBN 3-89325-091-3.
- Informationszentrum Afrika (Hrsg.): Schwarz-weisse Zeiten. AusländerInnen in Ostdeutschland vor und nach der Wende. Erfahrungen der Vertragsarbeiter aus Mosambik. Interviews – Berichte – Analysen. IZA, Bremen 1993, ISBN 3-927429-06-6.
- Eva-Maria Elsner, Lothar Elsner: Ausländerpolitik und Ausländerfeindschaft in der DDR 1949–1990. Reihe Texte zur politischen Bildung H. 13, Rosa Luxemburg-Verein, Leipzig 1994, ISBN 3-929994-14-3 (Dokumentarteil: Gesetze, bilaterale Abkommen etc, S. 53–90)
- Katja Illgen (Hrsg.): Zweite Heimat. Vietnamesen berichten über ihr Leben in Deutschland 1980–1995. (= Thüringen gestern & heute. Bd. 28). Erfurt 2007, ISBN 978-3-937967-14-1.
- Katja Illgen: Fremd in Thüringen? Vietnamesisches Leben in Deutschland und in Vietnam. (PDF; 2,1 MB) 2. Aufl. Der Ausländerbeauftragte beim Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit (Hrsg.), Erfurt 2008.
- Beim Reden nicht so viel lächeln. In: Berliner Zeitung. 22. November 2008; Ausstellung zur Geschichte der Vertragsarbeiter
Weblinks
- Vertragsarbeiter Lexikon Politische Bildung
- Vietnamesen in der Bundesrepublik (PDF; 207 kB) Broschüre GTZ
- Eigensinn im Bruderland Eine interaktive Webdokumentation über Migration in die DDR.
- Vertragsarbeiter*innen aus Mosambik in der DDR / Madgermanes: Trabalhadores Moçambicanos contratados na RDA
Einzelnachweise
- Eine Zahl von 3,8 Millionen Übersiedlern in die Bundesrepublik bis zum Mauerbau ist angegeben in: Wolfgang Seifert: Übersiedler aus der DDR und Auswanderer aus Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung, 31. Mai 2012, abgerufen am 6. April 2021.
- Vgl. Eric Allina: „Neue Menschen“ für Mosambik. Erwartungen an und Realität von Vertragsarbeit in der DDR der 1980er-Jahre. In: Arbeit – Bewegung – Geschichte. Heft III, 2016, S. 65–84.
- Marina Mai: Vertragsarbeiter aus Mosambik: „Moderne Sklaverei“ in der DDR. In: Die Tageszeitung: taz. 3. März 2019, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 24. April 2019]).
- Bade, 2002.
- Gesetz über die Gewährung des Aufenthaltes für Ausländer in der Deutschen Demokratischen Republik
- Beim Reden nicht so viel lächeln. In: Berliner Zeitung. 22. November 2008; Ausstellung zur Geschichte der Vertragsarbeiter
- Ein neues Leben in der DDR: ehemalige Vertragsarbeiter erzählen ihre Geschichte
- Website zur Ausstellung