Varian Fry
Varian Mackey Fry (* 15. Oktober 1907 in New York City; † 13. September 1967 in Redding, Connecticut) war ein US-amerikanischer Journalist und Freiheitskämpfer im Zweiten Weltkrieg in Frankreich. Er führte in Marseille ein Rettungsnetzwerk, das etwa 2000 Menschen ermöglichte, vor den Nationalsozialisten zu fliehen.
Leben
Varian Fry besuchte die Hotchkiss School und die Harvard University, die er 1931 als Bachelor of Arts abschloss. Als Korrespondent für die amerikanische Zeitschrift The Living Age besuchte er 1935 Berlin und wurde mehrfach persönlich Zeuge der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten. Aufgrund seiner Erlebnisse schwer erschüttert, begann er, für die Arbeit gegen den Nationalsozialismus Geld zu sammeln. 1938 promovierte er an der Columbia-Universität in New York, bis 1940 gab er Bücher für die Gesellschaft für Außenpolitik heraus.
Kurz nach der Besetzung Frankreichs wurde in den Vereinigten Staaten das Emergency Rescue Committee (ERC) gegründet, um vor allem Intellektuellen, die nach Frankreich geflohen waren, die Ausreise in die USA zu ermöglichen. Im deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrag war eine Liste von Regimegegnern erstellt worden, die an Deutschland ausgeliefert werden sollten, darunter vor allem jüdische Intellektuelle. Im Juni 1940 beschloss die US-Regierung, den von Verfolgung Bedrohten freie Einreise in die USA zu gewähren. Daher wurden 200 Visa vor allem für Intellektuelle erteilt. Varian Fry wurde nach Marseille geschickt, wo eine große Zahl von Regimekritikern versammelt war. Er erhielt finanzielle Mittel und Listen mit Personen, denen er die Ausreise ermöglichen sollte.
In Marseille wurde seine Ankunft bekannt, und weit mehr Menschen wandten sich an ihn, um Hilfe zur Ausreise zu bekommen. Fry sammelte eine kleine Gruppe Freiwilliger um sich (darunter Albert O. Hirschman), die unter wachsamer Aufsicht des Vichy-Regimes Menschen in der Villa Air-Bel versteckten,[1] bis sie – häufig unter der Führung von Lisa und Hans Fittko – aus dem Land geschmuggelt werden konnten. Auf diesem Weg gelang es ihm, mehr als 2200 Flüchtlingen den Weg über die Grenze ins neutrale Portugal zu ermöglichen, von wo sie in die Vereinigten Staaten weiterreisen konnten. Anderen ermöglichte er die Ausreise per Schiff von Marseille zu der französischen Kolonie Martinique, von wo ebenfalls der Weg in die USA möglich war.
Seine Arbeit ließ sich nicht lange geheim halten. Die US-Behörden waren misstrauisch, weil sie meinten, Fry setze sich besonders für „Linke und Juden“ ein.[2] Sowohl die US-Botschaft in Vichy-Frankreich als auch das Vichy-Regime selbst versuchten, seinem Streben Einhalt zu gebieten. Lediglich Hiram Bingham (1903–1988), der Vizekonsul der USA in Marseille, unterstützte ihn.[2] Im Dezember 1940 wurde er inhaftiert, kam aber frei und arbeitete weiter. Nach 13 Monaten Arbeit in Marseille wurde er im August 1941 durch einen Hinweis der US-Botschaft endgültig von der französischen Polizei festgenommen und in die USA abgeschoben.
Unter Frys engsten Helfern befanden sich Amerikaner wie Miriam Davenport, eine frühere Kunststudentin an der Sorbonne, und die amerikanische Erbin Mary Jayne Gold, eine Kunstliebhaberin, die in den frühen 30er Jahren nach Paris gekommen war. Als die Nazis 1940 in Frankreich einmarschiert waren, ging Gold nach Marseille, wo sie mit Fry zusammenarbeitete und half, die von ihm aufgebaute Organisation zu finanzieren.
Unter den von Fry geretteten Personen befanden sich unter anderen Hannah Arendt, Ernst Josef Aufricht, Georg Bernhard, André Breton und seine Frau Jacqueline, Marc Chagall, Marcel Duchamp, Max Ernst, Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Fritz Kahn, Siegfried Kracauer, Konrad Heiden, Heinz Jolles, Wifredo Lam, Wanda Landowska, Jacques Lipchitz, Alma Mahler-Werfel, Heinrich Mann und Golo Mann, André Masson, Walter Mehring, Otto Meyerhof, Soma Morgenstern, Hans Natonek, Hans Namuth, Hertha Pauli, Alfred Polgar, Hans Sahl und Franz Werfel.
1945 veröffentlichte Fry unter dem Titel Surrender on Demand (deutsch Auslieferung auf Verlangen) ein Buch über seine Zeit in Frankreich. 1968 gab der amerikanische Schulbuchverleger Scholastic eine Taschenbuchausgabe unter dem Titel Assignment: Rescue heraus; in der Folge sind noch viele Auflagen unter beiden Titeln erschienen. Fry machte durch deutliche kritische Aussagen gegen die US-Einwanderungsregelungen von sich reden und brachte diese in direkten Zusammenhang mit dem Schicksal der Juden in Europa. Bereits im Dezember 1942 hatte er einen Artikel The Massacre of Jews in Europe veröffentlicht.[3]
Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten im September 1941 fiel Fry rasch dem Vergessen anheim. Der Zutritt zum ERC wurde ihm verwehrt. Er wandte sich an Künstler, die er gerettet hatte, darunter Marc Chagall, Max Ernst und André Breton, und bat sie, ein neues Hilfsprojekt für Exilanten zu unterstützen – vergebens.[2]
Fry engagierte sich in der Bürgerrechtsbewegung und wurde Mitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte. 1944 trat er der Liberal Party of New York bei. Von 1943 bis 1946 war er Direktor für Internationale Angelegenheiten der American Labor Conference. Ab 1946 versuchte er sich mit einer Filmproduktionsfirma (Cinemart), die den Betrieb 1953 einstellen musste. Danach arbeitete er als Werbetexter, u. a. für die Coca-Cola Company, als Journalist und als Lehrer.[4]
Auszeichnungen
1967 wurde er „für seinen heldenhaften Beitrag für die Freiheit“ in die französische Ehrenlegion aufgenommen. Abgesehen davon geriet Fry lange Zeit fast in Vergessenheit, bis seine Taten durch die Veröffentlichung von Mary Jayne Golds Buch Crossroads Marseilles 1940 (1980) wieder bekannt wurden. Er wurde nun teilweise als „amerikanischer Schindler“ bezeichnet. 1994 war Varian Fry der erste und bis 2005 einzige US-Bürger, der unter die Gerechten unter den Völkern in Israels Holocaust-Mahnmal Yad Vashem aufgenommen wurde. Am 1. Januar 1998 erhielt er eine zusätzliche Würdigung als Ehrenbürger des Staates Israel.
Seit dem 3. Dezember 1997 heißt eine Straße im neu angelegten zentralen Potsdamer-Platz-Areal in Berlin „Varian-Fry-Straße“.
Auf Initiative von Samuel V. Brock, dem US-Generalkonsul in Marseille von 1999 bis 2002, wurde der Platz vor dem Konsulat in „Place Varian Fry“ umbenannt.
Das Aktive Museum Faschismus und Widerstand in Berlin zeigte vom 18. November bis 30. Dezember 2007 in der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin-Mitte die Ausstellung „Ohne zu zögern. Varian Fry: Berlin-Marseille-New York“.
Veröffentlichungen (Auswahl)
- Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41. Hanser Verlag, München 1986, ISBN 3-446-13791-2. Hrsg. u. mit e. Anh. vers. von Wolfgang D. Elfe u. Jan Hans. Englische Originalausgabe unter dem Titel Surrender on demand, New York 1945
- War in China: America’s role in the Far East. With maps and charts by Henry Adams Grant, Foreign Policy Association, New York 1938
- War atlas: a handbook of maps and facts. Foreign Policy Association, New York 1940
- The peace that failed: how Europe sowed the seeds of war. Foreign policy Association, New York 1939
sowie Beiträge in den Zeitschriften The Nation, New Leader, The New Republic, Common Sense und New Europe.
Verfilmungen
- Assignment: Rescue (auch: The Story of Varian Fry and the Emergency Rescue Committee) (1997) in der Internet Movie Database (englisch)
- Der Dokumentarfilm Villa Air Bel – Varian Fry in Marseille von Jörg Bundschuh (1987, 90 Min.) wurde 1987 auf dem Filmfestival von Chicago mit dem Silver Hugo Award ausgezeichnet.[5]
- Villa Air Bel – Varian Fry in Marseille 1940/41 in der Internet Movie Database (englisch)
- 1997 brachte der irische Filmregisseur David Kerr eine Dokumentation unter dem Titel „Varian Fry: The Artists’ Schindler“ heraus, mit Sean Barrett als Erzähler.
- Varian Fry: The Artists’ Schindler in der Internet Movie Database (englisch)
- In dramatischer Form wurde seine Geschichte wiedergegeben, als 2001 die amerikanische Schauspielerin Barbra Streisand den Fernsehfilm Varian’s War mit William Hurt und Julia Ormond mitproduzierte.
- Varian’s War in der Internet Movie Database (englisch)
Literatur
Fachliteratur:
- Lisa Fittko: Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1989, ISBN 3-423-11028-7 (dtv – dtv-Zeitgeschichte 11028).
- Mary Jayne Gold: Crossroads Marseille 1940. A Memoir. Doubleday, New York 1980, ISBN 978-0-385-15618-9.
- Karen J. Greenberg (Hrsg.): Columbia University Library, New York. The Varian Fry Papers, the Fort Ontario Emergency Refugee Shelter papers. Garland Verlag, New York NY 1990, ISBN 0-8240-5487-3 (Archives of the Holocaust 5).
- Emmanuelle Loyer: Paris à New York. Intellectuels et artistes français en exil, 1940–1947. Éditions Grasset et Fasquelle, Paris 2005.
- Andy Marino: A Quiet American. The Secret War of Varian Fry. St. Martin’s Press, New York NY 1999, ISBN 0-312-26767-3.
- Sheila Isenberg: A Hero of Our Own. The Story of Varian Fry. Random House, New York 2001, ISBN 0-375-50221-1.
- Angelika Meyer, Marion Neumann (Red.): Ohne zu zögern. Varian Fry: Berlin – Marseille – New York. 2. verbesserte Auflage. Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin, Berlin, 2008, ISBN 978-3-00-022946-6 (Ausstellungskatalog, Berlin, Akademie der Künste, 18. November – 30. Dezember 2007).
- Anne Klein, Flüchtlingspolitik und Flüchtlingshilfe 1940–1942. Varian Fry und die Komitees zur Rettung politisch Verfolgter in New York und Marseille. Metropol, Berlin 2007, ISBN 978-3-938690-17-8 (Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin: Reihe Dokumente, Texte, Materialien 61), (Zugleich: Berlin, Freie Univ., veränd. Diss., 2004: Flüchtlingshilfe 1940–1942).
- Julijana Ranc, Odysseus und Don Quichotte – Zum hundertsten Geburtstag von Varian Fry (1907–1967). In der Zeitschrift Exil 1933–1945: Forschung, Erkenntnisse Ergebnisse. Verlag Editha Koch, Frankfurt am Main, Bd. 27 (2007), Teil I; S. 5–39.
- Giorgia Sogos, Varian Fry: „Der Engel von Marseille“. Von der Legalität in die Illegalität und zur Rehabilitierung, in Gabriele Anderl, Simon Usaty (Hrsg.). Schleppen, schleusen, helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Mandelbaum, Wien 2016, S. 209–220, ISBN 978-3-85476-482-3
- Rüdiger Strempel, Letzter Halt Marseille – Varian Fry und das Emergency Rescue Committee, in Winrich C.-W. Clasen / W. Peter Schneemelcher (Hrsg.), Mittelmeerpassagen, CMZ-Verlag, Rheinbach 2018, ISBN 978-3-87062-307-4
Belletristische Darstellung:
- Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff. Der gefährliche Auftrag von Varian Fry. Eine Erzählung. Nagel & Kimche, Zürich 2013, ISBN 978-3-312-00563-5.
- Kate Lord Brown: Das Sonntagsmädchen. Roman. Piper, München 2014, ISBN 978-3-492-30545-7 (Titel der englischen Originalausgabe: The House of Dreams).
Weblinks
- Literatur von und über Varian Fry im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Varian Fry Institute
- „Der Fluchthelfer der Dichter und Denker“, Die Welt, 22. November 2007
- Varian Fry – auf der Seite von Yad Vashem
Einzelnachweise
- La villa d’Air Bel à La Pomme à Marseille, abgerufen am 6. Januar 2018.
- Knud von Harbou: Einsamer Retter. In: Süddeutsche Zeitung vom 9. September 2017, S. 51.
- The Massacre of the Jews, www.varianfry.org, abgerufen am 12. Februar 2012.
- Sheila Isenberg: A Hero of Our Own. The Story of Varian Fry. Random House, New York 2001, S. 250–254.
- Inhaltsangabe.