Rohmilch
Rohmilch ist unbehandelte Milch von Nutztieren.
Rohmilch kann mit pathogenen Mikroorganismen kontaminiert sein. Die Keimbelastung von Rohmilch ist unter anderem abhängig von Fütterung und dem Gesundheitszustand des Tieres, der Bakterienflora der Euterhaut, der Hygiene beim Melken und der Melktechnik. Dokumentiert sind Krankheitsausbrüche bei Menschen, die auf Rohmilchkonsum zurückgeführt werden.[1][2] Als Standardverfahren zur Vermeidung von gesundheitlichen Risiken hat sich deshalb die Pasteurisierung durchgesetzt, während die Abgabe von Rohmilch und Rohmilchprodukten in vielen Ländern grundsätzlich verboten oder nur in eng gefassten Ausnahmen zulässig ist.[3][4]
Rechtliche Grundlagen
EU-Recht
In der Europäischen Union darf als „Rohmilch“ bezeichnetes Gemelk weder über 40 °C erhitzt noch einer Behandlung mit ähnlicher Wirkung unterzogen worden sein. Verboten ist auch die Mikrofiltrierung.
Nach dem Lebensmittelrecht der Europäischen Union ist Rohmilch die Bezeichnung für „das unveränderte Gemelk von Nutztieren, das nicht über 40 °C erhitzt und keiner Behandlung mit ähnlicher Wirkung unterzogen wurde“ und auch nicht durch Mikrofiltration behandelt, also durch Filter mit sehr kleinen Poren gefiltert wurde.[5] Zur Minimierung des Infektionsrisikos gelten für die Herstellung, das Behandeln und das Inverkehrbringen von Rohmilch und Rohmilchprodukten in der Europäischen Union besondere Hygienevorschriften sowie Vorgaben zur Kennzeichnung. Rohmilch für den unmittelbaren Verzehr ist mit dem Wort „Rohmilch“ zu kennzeichnen.[6] Den Mitgliedsstaaten ist überlassen, die Abgabe von Rohmilch und Rohrahm an Verbraucher national zu verbieten oder einzuschränken.
Deutschland
Die Abgabe von Rohmilch (oder Rohrahm) an Verbraucher ist unter Strafe grundsätzlich verboten;[7] das gilt auch für den unentgeltlichen Ausschank zum Probieren oder für Rohmilch, in der keine Krankheitserreger nachweisbar sind.
An Verbraucher abgegeben werden darf sie ausnahmsweise nur
- unter der Bezeichnung des Lebensmittels als Vorzugsmilch verpackt, unter höheren hygienischen Anforderungen an ihre Beschaffenheit, an ihre ständige Kühlung und an den behördlich genehmigten Erzeugerbetrieb und bei einer Kennzeichnung mit einem ab Gewinnung gerechnet höchstens 96-stündigem Verbrauchsdatum und dem Warnhinweis „Aufbewahren bei höchstens 8 °Celsius“ und dabei nicht in Gemeinschaftsverpflegungseinrichtungen (wie Schulkantinen)[8] oder
- direkt in und von dem Betrieb, in dem sie behandelt und an diesem Tag oder am Vortag gewonnen wurde, sofern diese oft so genannte „Milch ab Hof“ oder „Milchtankstelle“ der Lebensmittelüberwachungsbehörde angezeigt wurde, allgemeine Hygieneanforderungen beachtet sind[9] und an der Abgabestelle gut lesbar die Erklärung angebracht ist: „Rohmilch, vor dem Verzehr abkochen“.[10]
Schweiz
Eine ähnliche Definition für Rohmilch wie nach EU-Recht gilt im Schweizer Recht: „Rohmilch ist Milch, die nicht über 40 °C erwärmt und keiner weiteren Behandlung mit ähnlicher Wirkung unterzogen wurde“ (Art. 32 Abs. 2 VLth). Sie gilt als „nicht genussfertig“ und muss u. a. mit einem Hinweis versehen werden, dass sie „vor dem Konsum auf mindestens 70 °C erhitzt werden muss“ (Art. 38 Abs. 1 VLth)
Rohmilchaktivismus und -konsum
Die Milchproduktion der USA begann sich ab den 1800er Jahren zu industrialisieren. Massenproduktion und -vertrieb von Milch und Milcherzeugnissen führten zunächst zu sich weit verbreiteten Ausbrüchen von durch Milch übertragenen Krankheiten. Die größten milchbedingten Gefahren jener Zeit waren schlechte Hygiene und Handhabungsverfahren sowie erkrankte Milchkühe. Unter unhygienischen Bedingungen produzierte und transportierte Milch verursachte wiederholt Ausbrüche von Typhus, Scharlach, Diphtherie, Durchfallerkrankungen und Streptokokken-induziertem, toxischem Schocksyndrom. Rohmilch war daneben auch eine wichtige Infektionsquelle für die zoonotische Rindertuberkulose.
Wegen dieser Probleme mit kontaminierter Milch bildeten sich zwei Volksgesundheitsbewegungen, die sowohl die Lieferanten schlechter Milch als auch sich gegenseitig angriffen. Die Bewegung für zertifizierte Milch förderte die Hygiene in allen Phasen der Milcherzeugung und Vermarktung unter der Aufsicht medizinischer Milchkommissionen, wendete sich aber gegen die Pasteurisierung mit der Behauptung, sie verursache Mangelernährung, erlaube die Vermarktung von „sterilisiertem Unrat“ und zerstöre den natürlichen Geschmack der Milch. Dem entgegen verurteilte die Bewegung für pasteurisierte Milch zertifizierte Milch trotz der gesundheitlichen Vorsichtsmaßnahmen als unsicher. Nach mehreren Epidemien, die auf den Konsum zertifizierter Rohmilch zurückgeführt wurden, wurde die Pasteurisierung als primärer Gesundheitsschutz für die nationale Milchversorgung akzeptiert. Die hygienischen Konzepte der Bewegung für zertifizierte Milch gingen als wichtige ergänzende Schutzmaßnahmen in die Milchhygienekodizes ein. Trotz fehlendem Beleg, dass die Milchpasteurisierung negative Auswirkungen auf die menschliche Ernährung oder Gesundheit hat, wurde weiterhin auch Rohmilch (zertifiziert und unzertifiziert) verkauft. „Biolebensmittel“-Enthusiasten warben und werben hierfür intensiv mit Argumenten ähnlich jenen, die schon in den 1890er Jahren vorgebracht wurden.[11] Die aktuellen, gesundheitsbezogenen Hauptargumente der Befürworter von unbehandelter Milch lauten:
- Rohmilch besitze einen höheren Nährwert.
- Rohmilch enthalte wertvolle Enzyme und Antikörper.
- Rohmilch weise eine Laktobazillen-Flora auf.
- Der Verzehr von Rohmilch führe zu einer vermehrten Abwehrbereitschaft gegen Krankheiten.[1]
Verfechter der Rohmilch suggerieren, nicht-pasteurisierte Milchprodukte seien völlig ungefährlich und könnten ein breites Spektrum von Krankheiten, einschließlich Herzerkrankungen, Nierenerkrankungen, Krebs und Laktoseintoleranz, verhindern oder behandeln.[2] Auch das Geschmacksargument spielt bis in die Gegenwart eine Rolle.[12] In bäuerlichen Familien war der Rohmilchkonsum schon immer üblich; die meisten Bauernfamilien nennen Geschmack und Bequemlichkeit als Hauptgründe. Auch ein kleiner Teil der übrigen US-Bevölkerung konsumiert Rohmilch. In der FoodNet-Bevölkerungsumfrage aus dem Jahr 2002 gaben 3,5 % der Befragten an, in den letzten sieben Tagen vor der Umfrage nicht-pasteurisierte Milch konsumiert zu haben.[2] Eine 2014 veröffentlichte Befragung unter US-amerikanischen Rohmilchkonsumenten ermittelte, dass 86 der 153 Teilnehmer ihren Rohmilchkonsum mit dem Glauben an Gesundheitsvorteile und leichtere Verdaulichkeit begründeten. 12 Teilnehmer sagten aus, dass ihnen Rohmilch besser schmecke als pasteurisierte Milch. 8 Teilnehmer zitierten soziale und ökologische Bedenken wie „Unterstützung der lokalen Landwirte“ und „es ist besser für die Kühe“. 6 Teilnehmer gaben an, Allergien gegen pasteurisierte Milch zu haben, und zwei behaupteten, Rohmilchkonsum heile nicht näher spezifizierte Krankheiten. 6 weitere Teilnehmer gaben individuelle Begründungen wie „Ich bin damit aufgewachsen“ oder „Ich esse keine verarbeiteten Lebensmittel“ an.[13]
Gesundheitliche Aspekte von Rohmilch und deren Pasteurisierung
Die potenziellen Gefahren bei Rohmilchverzehr gehen von pathogenen Mikroorganismen wie Salmonellen, Campylobacter, Yersinia, Listerien und Escherichia coli aus. Diese können in Rohmilch nicht nur vorkommen, sie sind in Milch und Milchprodukten auch vermehrungsfähig. Es gibt viele Berichte, bei denen Rohmilch als Quelle für Krankheitsausbrüche nachgewiesen wurde.[1] Besonders riskant ist Rohmilchverzehr für Säuglinge, Kleinkinder, Schwangere, alte Menschen und Menschen mit verminderten Abwehrkräften.[14] Verantwortlich für das Auftreten von Listerien sind vor allem die Verfütterung von Silage schlechter Qualität, schlechte Hygiene sowie unzureichende Beleuchtung der Ställe und des Melkraums.[15] Daher findet man gelegentlich den Hinweis, dass die Rohmilch silofrei bzw. silagefrei erzeugt wurde. In der Vergangenheit spielten in Rohmilch enthaltene Erreger der Tuberkulose der Rinder eine wichtige Rolle als Infektionsquelle für Tuberkulose beim Menschen. Diese Gefahr ist heute in Westeuropa nur noch gering, in anderen Teilen der Welt jedoch nach wie vor hoch.
Ebenfalls durch Rohmilch übertragbar ist die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), eine durch Viren verursachte Gehirnhautentzündung.[16][17] In einer Studie des Robert Koch-Instituts waren von knapp 3700 FSME-Fällen in Lettland im Jahr 1997 bei Kindern in 5,3 Prozent und bei Erwachsenen in 3,1 Prozent der Erkrankungen der Erreger durch Lebensmittel übertragen worden.[18] In Deutschland erkrankten 2012 insgesamt 143 Menschen an FSME, wobei über die Art der Übertragung keine Aussagen gemacht werden können.[19]
Pasteurisierung führt nachweislich nur zu einem sehr geringen Verlust an fettlöslichen Vitaminen (Vitamine A, D und E), während negative Auswirkungen auf andere Nährstoffe nicht nachgewiesen werden können. Enzyme und Antikörper werden durch Wärmebehandlung zwar inaktiviert („denaturiert“), jedoch stellt sich bei Rohmilchverzehr der gleiche Effekt durch die Proteinverdauung im Magen ein. Mit Laktobazillen hergestellte Milchprodukte (zum Beispiel Joghurt) finden sich zahlreich im Handel. Eine nach Rohmilchkonsum verbesserte Abwehrbereitschaft gegen Erkrankungen ist nicht belegt. Der Bundesgesundheitsrat bewertete 1974 in seinem Votum zum Thema „Ernährungsphysiologischer Wert von Rohmilch gegenüber den gesundheitlichen Risiken“, dass „der Verzehr von Rohmilch ernährungsphysiologisch keine Vorteile bietet, daß er aber im Vergleich zum Verzehr von erhitzter Milch ein gesundheitliches Risiko für den Menschen darstellt“. Dieses Risiko könne „nur durch eine erhebliche, kostenaufwendige Untersuchung und Überwachung der Rohmilchlieferbetriebe auf ein vertretbares Minimum beschränkt werden“. Abgesehen von Staphylokokken-Enterotoxinen lassen sich durch anerkannte Hitzebehandlungsverfahren die mikrobiologischen Gefahren von Trinkmilch sicher ausschließen. Lediglich bei technischen Fehlern in der Wärmebehandlung oder durch anschließende Rekontamination kann auch pasteurisierte Milch zum Auslöser von Infektionen werden. Dabei handelt es sich jedoch um Unfälle, die in der modernen Molkereitechnologie zur Ausnahme zählen.[1]
Vermarktung und Verwendung
In Deutschland sind viele Rohmilchprodukte nicht im Supermarkt, sondern nur durch Direktverkauf am Hof erhältlich.[20] Der Einsatz von Rohmilch definiert manche Käsesorte, nämlich den Rohmilchkäse.
Literatur
- M. E. Potter, A. F. Kaufmann, P. A. Blake, R. A. Feldman: Unpasteurized milk. The hazards of a health fetish. In: JAMA. 252(15), 19. Okt 1984, S. 2048–2052. PMID 6481912.
- J. T. Lejeune, P. J. Rajala-Schultz: Food safety: unpasteurized milk: a continued public health threat. In: Clin Infect Dis. 48(1), 1. Jan 2009, S. 93–100. doi:10.1086/595007. PMID 19053805.
- Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): Verbrauchtipps: Schutz vor lebensmittelbedingten Infektionen mit Listerien. (PDF; 653 kB). Berlin 2014.
- M. Hartung (Hrsg.): Erreger von Zoonosen in Deutschland im Jahr 2007. (PDF; 2,0 MB). BfR-Wissenschaft, Berlin 2009, ISBN 978-3-938163-47-4.
Weblinks
- Verordnung mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs (PDF)
- Verordnung über mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel (PDF)
- Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): Listeria monocytogenes: Der Überlebenskünstler unter den Keimen In: Presseinformation. 31. März 2008.
- Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): Hofbesuch ohne Bauchschmerzen In: Presseinformation. 29. Mai 2009.
- Untersuchung der Bundesanstalt für Milchforschung zeigt hygienische Mängel auf
- Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): Rohmilch: Abkochen schützt vor Infektionen In: Presseinformation. 20. Mai 2014.
Einzelnachweise
- Marcus Specker: Untersuchungen zum Vorkommen von Listerien, Salmonellen, Campylobacter und Staphylokokken in Rohmilch im Land Brandenburg. Dissertation. Freie Univ., Berlin 1996, S. 80–83 (Volltext [PDF]).
- J. T. Lejeune, P. J. Rajala-Schultz: Food safety: unpasteurized milk: a continued public health threat. In: Clinical Infectious Diseases. Band 48, Nummer 1, Januar 2009, S. 93–100, ISSN 1537-6591. doi:10.1086/595007. PMID 19053805. (Review).
- § 17 - Abgabe von Rohmilch oder Rohrahm an Verbraucher. In: Verordnung über Anforderungen an die Hygiene beim Herstellen, Behandeln und Inverkehrbringen von bestimmten Lebensmitteln tierischen Ursprungs (Tierische Lebensmittel-Hygieneverordnung - Tier-LMHV). Bundesministerien für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und für Gesundheit im Einvernehmen mit den Bundesministerien für Wirtschaft und Technologie, für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, der Finanzen und der Justiz mit Zustimmung des Bundesrates der Bundesrepublik Deutschland, 18. April 2018, abgerufen am 9. Februar 2020.
- Raw Milk Laws. In: State Milk Laws. National Conference of State Legislatures of the USA, abgerufen am 9. Februar 2020.
- Anhang I Nr. 4.1 EG-Verordnung 853/2004
- Anhang III Abschnitt IX Kap. IV Nr. 1 EG-Verordnung 853/2004.
- § 17 Abs. 1 der Verordnung über Anforderungen an die Hygiene beim Herstellen, Behandeln und Inverkehrbringen von bestimmten Lebensmitteln tierischen Ursprungs (Tierische Lebensmittel-Hygieneverordnung - Tier-LMHV) mit § 23 Abs. 1 Ziff. 5 Tier-LMHV und mit § 58 Abs. 1 LFGB
- § 17 Abs. 2 und Abs. 3, § 18 Tier-LMHV und Anlage 9 hierzu
- § 17 Abs. 4 Satz 2 Tier-LMHV mit entsprechender Anwendung von Anlage 2 zur Lebensmittelhygiene-Verordnung.
- § 17 Abs. 4 Tier-LMHV
- M. E. Potter, A. F. Kaufmann, P. A. Blake, R. A. Feldman: Unpasteurized milk. The hazards of a health fetish. In: JAMA. 252(15), 19. Okt 1984, S. 2048–2052. PMID 6481912.
- Rohmilch direkt vom Bauernhof? In: Webseite des VerbraucherService Bayern im KDFB e.V. Verbraucherservice Bayern, 1. Mai 2019, abgerufen am 9. Februar 2020.
- Gerard E. Mullin, Stephen M. Belkoff: Survey to Determine Why People Drink Raw Milk In: Glob Adv Health Med. 2014 Nov; 3(6): 19–24. doi:10.7453/gahmj.2014.041. PMID 25568829. PMC 4268642 (freier Volltext).
- Infodienst Landwirtschaft – Ernährung – Ländlicher Raum, Baden-Württemberg: Keine Rohmilchprodukte während der Schwangerschaft, 17. Februar 2013.
- M. Sanaa u. a.: Risk factors associated with contamination of raw milk by Listeria monocytogenes in dairy farms. In: Journal of Dairy Science. 76, 1993, S. 2891–2898.
- BLV: Frühsommer-Meningoencephalitis FSME beim Tier und beim Menschen.
- FSME-Risiko auch durch unbehandelte Rohmilch. In: Ärztezeitung. 12. Mai 2010.
- FSME-Infektion durch Rohmilch. In: Süddeutsche Zeitung. 17. Mai 2010, abgerufen am 9. August 2012.
- FSME-Fälle in Deutschland auf Tiefststand. In: Ärzte-Zeitung., abgerufen am 9. August 2012.
- Der Brockhaus Ernährung. F.A. Brockhaus, 2001; aid Infodienst 46/01, 34/03, 27/03.