Nephrotisches Syndrom
Das nephrotische Syndrom ist ein medizinischer Sammelbegriff für mehrere Symptome, die bei verschiedenen Erkrankungen des Glomerulums (im Nierenkörperchen) auftreten. Allgemein wird das nephrotische Syndrom vom nephritischen Syndrom abgegrenzt,[1] ebenso die Nephrose von der Nephritis wie auch die Nephropathie von der Nephrosklerose. Auch muss an die Niereninsuffizienz ohne Nierenkrankheit gedacht werden; das sind die extrarenalen Nierensyndrome nach Wilhelm Nonnenbruch.[2]
Klassifikation nach ICD-10 | |
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N04.9 | Nephrotisches Syndrom |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Das nephrotische Syndrom ist gekennzeichnet durch vier Leitsymptome:
Von der sogenannten großen Proteinurie spricht man bei einer Eiweißausscheidung im Urin von mehr als 3–3,5 g pro 24 Stunden, bei Kindern von mehr als 1 g pro m² Körperoberfläche in 24 Stunden. Das Albumin im Serum ist auf unter 2,5 g/dl verringert.
Pathogenese
Das nephrotische Syndrom entsteht durch eine vermehrte Durchlässigkeit des Glomerulums für Proteine (Eiweiße), es werden Eiweißmoleküle >60 kDa filtriert. Den größten Anteil an den Eiweißverlusten hat das Albumin, das eine Masse von ca. 65 kD hat und ca. 60 % des im Blutplasma gelösten Eiweißes ausmacht. Es kommt zu einer Hypoproteinämie mit Hypoalbuminämie sowie durch die vermehrte renale Eiweißausscheidung zu einer Proteinurie. Eine tägliche Eiweißausscheidung von mehr als 4 g deutet auf eine erhebliche Schädigung der Filterfunktion der Nieren hin. Regulär werden weniger als 0,05 g Eiweiß pro Tag über die Nieren ausgeschieden.
Bei sinkendem Albumingehalt im Blut kommt es zudem zu hypalbuminämischen Ödemen. Diese entstehen aufgrund eines durch den Eiweißverlust bedingten erniedrigten kolloidosmotischen Drucks in den Gefäßen. Es kommt zu Flüssigkeitsverlusten aus dem Blutplasma in das die Gefäße umschließende Gewebe. Die Ödeme sind umso ausgeprägter, je niedriger der Eiweiß- bzw. der Albumingehalt im Blut ist. Bedingt durch die Hypalbuminämie kann es auch zu einem Pleuraerguss[4] kommen.
Dem Eiweißverlust versucht der Körper nun zu begegnen, indem er diesen Verlust so schnell wie möglich ersetzt. Es kommt zu einer vermehrten Produktion von Lipoproteinen durch die Leber, was gemeinsam mit dem im Rahmen der Proteinurie auftretenden Verlust des Enzyms Lipoproteinlipase zur Hyperlipidämie führt. Zudem ist aufgrund von Größe und Beschaffenheit der Teilchen der Verlust von Cholesterin- und Triglyzerid-transportierenden Lipoproteinen relativ geringer, so dass sich das Verhältnis der Blutfette untereinander in ungünstiger Weise ändert (Dyslipidämie).
Durch den vermehrten Flüssigkeitsverlust aus den Gefäßen in das Gewebe kommt es zu einer Hypovolämie. Dieser Flüssigkeitsmangel stimuliert nun das sog. RAAS (Renin-Angiotensin-Aldosteron-System) des Körpers. Dieses System soll den Flüssigkeitsverlust ausgleichen, indem es für eine Verengung der Gefäße und somit eine Blutdrucksteigerung sorgt. Zudem werden durch die Nieren vermehrt Wasser und Natrium im Körper zurückgehalten. Genau dieser Mechanismus führt aber über erhöhten Blutdruck zu einer Steigerung der Glomerulären Filtrationsrate (GFR) und somit zu weiterem Proteinverlust (positive Rückkopplung).
Ursachen
Das nephrotische Syndrom stellt an sich keine Krankheit, sondern einen gleichartigen Symptomenkomplex dar, hinter dem sich verschiedenartige Krankheiten verbergen. Die häufigsten Ursachen eines nephrotischen Syndroms:
- Membranöse Glomerulonephritis (mit etwa 30 % häufigste Ursache beim Erwachsenen)
- Minimal-Change-Glomerulonephritis (häufigste beim Kind mit >90 %, beim Erwachsenen ca. 20 %)
- Fokal segmentale Glomerulosklerose (ca. 15 %, in der farbigen Bevölkerung ca. 50 %)[3]
Seltenere Ursachen:
- membranoproliferative Glomerulonephritis (selten, ca. 5 %)
- diabetische Nephropathie
- C1q-Nephropathie
- Nierenbeteiligung bei Kollagenosen (v. a. systemischer LE) und anderen Autoimmunerkrankungen
- Nierenbeteiligung bei Amyloidose
- Nierenschädigung durch ein Plasmozytom
- Nierenvenenstauung
- Akute interstitielle Nephritis, toxisch-pharmakologisch, z. B. Gold, Penicillamin, NSAR etc.
- Komplikation der Malaria quartana (Malarianephrose)
Symptome
Neben den bereits erwähnten Leitsymptomen des nephrotischen Syndroms bestehen bei den Patienten noch die Symptome der auslösenden Grunderkrankung. Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu einer vermehrten Neigung zu Infekten, da durch den Eiweißverlust auch Antikörper, besonders das IgG, verloren gehen. Des Weiteren kommt es zu einem Verlust an Antithrombin III. AT III ist ein Bestandteil des Blutplasmas und hat eine starke Hemmwirkung auf die Blutgerinnung. Geht AT III verloren, kommt es zu vermehrter Gerinnung des Blutes in den Gefäßen und somit zu Thrombosen, insbesondere der Nierenvenen. Durch eine anhaltende Schädigung der Nieren zeigen sich in fortgeschrittenen Stadien Zeichen der Niereninsuffizienz, wie zum Beispiel Flankenschmerzen, blutiger Urin, verminderte Urinausscheidung.
Weitere mögliche Folgen beinhalten Anämie, Hypothyreose, Vitamin-D-Mangel, Hypovolämischer Schock und Invagination.[5]
Therapie
- Im Vordergrund einer Therapie stehen zunächst die Behandlung der Grunderkrankung bzw. die Beseitigung toxischer Ursachen als Auslöser des nephrotischen Syndroms.
- Kochsalzarme Diät
- Adäquate Proteinzufuhr (1–2 g/kg Körpergewicht pro Tag) aus natürlichen fettarmen Quellen mit dem Ziel einer positiven Stickstoffbilanz.[6][7][8] Einzelne Quellen empfehlen hierzu eher eine Proteinrestriktion.
- Beschränkung der Flüssigkeitszufuhr und Diuretikagabe (vornehmlich kaliumsparende Diuretika und Thiaziddiuretika, später evtl. auch Schleifendiuretika)
- Behandlung der bakteriellen Infektionen und deren Prophylaxe (empfohlen: Pneumokokken-Impfung); die Gabe von Immunglobulinen hat wenig Sinn: sie erleiden rasch dasselbe Schicksal wie die Albumine.
- Senkung des Cholesterinspiegels durch CSE-Hemmer
- Therapie des Bluthochdrucks, je nach Grad der Nierenfunktion. Mittel der Wahl ist ein ACE-Hemmer.
- standardisierte Prednisolontherapie als kausale Behandlung (i. d. R. 1 mg/kg pro Tag), weil dadurch die Proteindurchlässigkeit der Basalmembran beeinflusst wird.
- Bei Absinken des AT III auf unter 70 % ist eine Marcumarisierung indiziert.
Einteilung
- Typ I: Komplette Ausheilung nach einem Schub
- Typ II: Rezidivneigung bei vollständiger Remission
- Typ III: Bleibende eingeschränkte Nierenfunktion trotz partieller Remission
- Typ IV: Rasches Fortschreiten mit schlechter Prognose
Geschichte
Im antiken Griechenland wurde die Ansammlung von Körperwasser als ein einheitliches Krankheitsbild (Wassersucht, hydropisis) angesehen.[9] 1827 erkannte Richard Bright, dass ein Teil der Patienten mit Wassersucht auch an einer vermehrten Urin-Eiweiß-Ausscheidung und an krankhaften Nierenveränderungen litt.[10][11] 1914 unterschieden Franz Volhard und Theodor Fahr zwischen degenerativen (Nephrose), entzündlichen (Nephritis) und arteriosklerotischen (Sklerose) Nierenkrankheiten.[12] 1963 untersuchte George Schreiner die Urin-Eiweiß-Ausscheidung von 186 Patienten mit den klinischen Zeichen eines nephrotischen Syndroms. Die niedrigste Eiweißmenge, die er dabei beobachtete, war 3,5 g pro Tag.[13] 1983 schlug Ginsberg vor, anstelle eines Sammelurines über 24 Stunden das Verhältnis zwischen Protein und Kreatinin in einer spontan gelassenen Urinprobe zu bestimmen. Da die Ausscheidung von Kreatinin über den Urin zufälligerweise ca. 1 g pro Tag beträgt, schlug er als Grenzwert zum nephrotischen Syndrom einen Eiweiß/Kreatinin-Quotienten im Urin von 3,5 g Protein/g Kreatinin vor.[14] In jüngster Zeit wird zunehmend die Ausscheidung von Albumin im Urin bestimmt, die genauere Werte liefern soll als die Bestimmung des Gesamteiweißes.[15] Als unterer Grenzwert des nephrotischen Syndroms wurde von Stoycheff ein Albumin/Kreatinin-Quotient im Urin von 2,2 g Albumin pro g Kreatinin vorgeschlagen.[16]
Siehe auch
Literatur
- Innere Medizin. Gerd Herold, 2004, und jährliche Neuauflagen
- Thiemes Innere Medizin. Georg Thieme Verlag, 1999
- Basislehrbuch Innere Medizin. 3. Auflage. Urban & Fischer, 2004
- Intensivkurs Pädiatrie. 4. Auflage. Urban und Fischer, 2007
Einzelnachweise
- Roche Lexikon Medizin, 5. Auflage, Urban & Fischer, München, Jena 2003, ISBN 978-3-437-15156-9, S 1303–1305.
- Wilhelm Nonnenbruch: Die doppelseitigen Nierenkrankheiten, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1949, S. 180–192.
- Gerd Herold: Innere Medizin: eine vorlesungsorientierte Darstellung. 2012. Auflage. Herold, Köln 2012, ISBN 978-3-9814660-1-0.
- Berthold Jany, Tobias Welte: Pleuraerguss des Erwachsenen – Ursachen, Diagnostik und Therapie. In: Deutsches Ärzteblatt, Jahrgang 116, Heft 21/2019, 24. Mai 2019, S. 377–386, hier: S. 379 und 381 f.
- Gesellschaft für Pädiatrische Nephrologie (GPN): AWMF Leitlinie (S2e): Idiopathisches Nephrotisches Syndrom im Kindesalter: Diagnostik und Therapie. In: Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. Abgerufen am 28. Oktober 2018.
- Artikel "Hypoalbuminemia Medication" in Medscape
- Artikel "Nephrotic Syndrome Treatment & Management in Medscape
- Artikel "Nephrotic Syndrome: Lifestyle and home remedies" in mayoclinic.com
- G. Eknoyan: A history of edema and its management. In: Kidney International. Supplement. Band 59, Juni 1997, ISSN 0098-6577, S. S118–126, PMID 9185118.
- Bright’s disease in der englischsprachigen Wikipedia
- J. S. Cameron: Bright’s Disease Today: The Pathogenesis and Treatment of Glomerulonephritis – I. In: British Medical Journal. Band 4, Nr. 5832, 14. Oktober 1972, ISSN 0007-1447, S. 87–90, PMC 1786202 (freier Volltext).
- A. Heidland, et al.: Franz Volhard and Theodor Fahr: achievements and controversies in their research in renal disease and hypertension. In: Journal of Human Hypertension. Band 15, Nr. 1, Januar 2001, ISSN 0950-9240, S. 5–16, PMID 11223997.
- M. B. Strauss, L. G. Welt. Diseases of the Kidney. (ed 2). M. A. Boston: Little Brown; 1963.
- J. M. Ginsberg, et al.: Use of single voided urine samples to estimate quantitative proteinuria. In: The New England Journal of Medicine. Band 309, Nr. 25, 22. Dezember 1983, ISSN 0028-4793, S. 1543–1546, doi:10.1056/NEJM198312223092503, PMID 6656849.
- W. Greg Miller, et al.: Current issues in measurement and reporting of urinary albumin excretion. In: Clinical Chemistry. Band 55, Nr. 1, Januar 2009, ISSN 1530-8561, S. 24–38, doi:10.1373/clinchem.2008.106567, PMID 19028824.
- Nicholas Stoycheff, et al.: Nephrotic syndrome in diabetic kidney disease: an evaluation and update of the definition. In: American Journal of Kidney Diseases. Band 54, Nr. 5, November 2009, ISSN 1523-6838, S. 840–849, doi:10.1053/j.ajkd.2009.04.016, PMID 19556043.