Karl Laurenz
Karl Anton Laurenz (* 11. September 1905 in Brünn; † 23. November 1955 in Dresden) war ein deutscher Journalist, Jurist und Übersetzer. Wegen Spionagetätigkeit für die Organisation Gehlen – den Vorgänger des Bundesnachrichtendienstes – wurde er 1955 zusammen mit seiner Geliebten Elli Barczatis in der DDR hingerichtet.
Leben
Die Zeit in Brünn
Karl Laurenz wuchs in Brünn auf. Nach fünf Jahren Volksschule, fünf Jahren Realschule und Handelsakademie legte er das Abitur ab. Anschließend studierte er – weiterhin in Brünn – Rechtswissenschaft an der Masaryk-Universität. Seine Dissertation trug den Titel: „De poena capitali mutandis in temporibus“ („Über die Todesstrafe im Wandel der Zeiten“).
1924 nahm Laurenz eine Beschäftigung als Schriftleiter beim Verlag des „Tageboten“ in Brünn an, arbeitete nebenher als Übersetzer (tschechisch-deutsch) sowie als Gerichtsdolmetscher, Gerichts-, Parlaments- und Telefonstenograf. Außerdem war er Korrespondent der Neuen freien Presse Wien und der Ostrauer Morgenzeitung. Laurenz gehörte bis 1939 der „Deutsch-demokratischen Freiheitspartei“ der ČSR (Tschechoslowakei) an. 1934 schrieb er einen Leitartikel in der Neuen freien Presse, in dem er den Überfall der Nationalsozialisten auf eine Brünner Kaserne verurteilte, verhielt sich aber ansonsten weitgehend unpolitisch. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die ČSR trat Laurenz nicht in die NSDAP ein und wurde nach eigenen Angaben wegen „fehlendem politischem Fingerspitzengefühl“ wiederholt vom Sicherheitsdienst verwarnt und trotz militärischer Untauglichkeit 1941 zum Militär eingezogen. Er selbst schilderte seine politische Einstellung später so: Er sei durch seine Gerichtstätigkeit, die ihm tiefe Einblicke in die politischen Verhältnisse gewährte, „jeden guten Glaubens verlustig“ gegangen, habe sich zunehmend als „pazifistischen Kosmopoliten“ gesehen und „nur 3 Götter“ anerkannt: Recht, Gerechtigkeit und gesunden Menschenverstand.[1] Laurenz war katholisch, seit dem 28. Februar 1929 verheiratet und hatte zwei um 1930 geborene Töchter. Diese verschlug es nach dem Krieg nach Wien, Laurenz’ Bruder nach Kirrlach bei Karlsruhe.[2]
Die DDR und Elli Barczatis
Laurenz kam gegen Ende des Zweiten Weltkriegs als Soldat an die Front und geriet 1945 in Profen (Sachsen-Anhalt) für wenige Wochen in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft. Unmittelbar danach begann er in der Kohleindustrie zu arbeiten, zunächst in Profen, dann in Maslo und schließlich in der Zentralverwaltung der Brennstoffindustrie in Berlin. Anfang 1948 trat er in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ein. In der „Zentralverwaltung Kohle“ lernte Laurenz mehrere Frauen näher kennen, unter anderem 1949 die Sekretärin des „Kohle“-Präsidenten Gustav Sobottka, Elli Barczatis.
Elli Barczatis war sechs Jahre jünger als Laurenz und machte eine steile Karriere innerhalb der SED und der DDR. Ab April 1950 war sie Chefsekretärin des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. Laurenz dagegen fiel bei der Partei in Ungnade. 1950 schloss ihn die SED wegen „parteischädigenden Verhaltens“, „mangelnder Wachsamkeit und kleinbürgerlicher Abweichungen“ aus. Laurenz hatte sich unter anderem gegen eine neue Vorschrift ausgesprochen, Kraftfahrern die Wochenendzulagen zu streichen. 1951 geriet er als Rechtsanwaltsgehilfe wegen „Gefangenenbegünstigung“ mit dem Gesetz in Konflikt, wurde zu drei Monaten Einzelhaft verurteilt und bekam anschließend in der DDR keinen Fuß mehr auf den Boden.
Karl Laurenz wandte sein Interesse aus Frust und Ambivalenz gegenüber der DDR nach Westen und knüpfte unter anderem Kontakt zu einem ehemaligen Kollegen aus der Verwaltung „Kohle“, Clemens Laby.[3] Laby war bereits vom Ost- in den Westsektor Berlins umgezogen und vermittelte Laurenz Kontakte zu dem vermeintlichen Unternehmer „Schubert“. Schubert war – wie Laby – Agent für die Organisation Gehlen, den Vorgänger des Bundesnachrichtendienstes; möglicherweise war Schubert der Deckname für Gehlen selbst. Laurenz später vor Gericht über die Anwerbung:
„Laby sagte mir: Hören Sie zu. Schubert ist Leiter oder Direktor so irgendeines westdeutschen Nachrichtendienstes. Die möchten, dass Sie mitarbeiten. Sie können 400 Mark im Monat bekommen und hätten also Berichte zu liefern aus Politik, Wirtschaft, Kultur und so weiter, nicht Militär, gewisse Sachen wohl ausgenommen, über die Deutsche Demokratische Republik.“
Spätestens ab 1952 arbeitete Laurenz als Spion für „den Dienst“, ohne jedoch genau zu wissen, um welchen Geheimdienst es sich handelte. Elli Barczatis, die als Vertraute Otto Grotewohls Zugang zu Geheimdokumenten besaß, gab diese, in dem Glauben, Laurenz benötige sie für seine journalistische Arbeit, an diesen weiter. Beim bundesdeutschen Geheimdienst lief der Vorgang unter dem Decknamen „Gänseblümchen“, beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR als Gruppenvorgang „Sylvester“. Für die Nachrichtenübermittlung erhielt Laurenz im Laufe der Jahre mehrere tausend Mark und machte Elli Barczatis davon kleinere und größere Geschenke, von Schokolade bis zum Rundfunkempfänger.
Schleppende Ermittlungen
Die Ermittlungen waren bereits im Januar 1951 angelaufen, lieferten aber bis Ende 1954 kaum brauchbare Ergebnisse. In den Unterlagen des MfS häuften sich abgebrochene Beschattungsprotokolle, weil die Betroffenen die S-Bahn in den Westsektor Berlins nahmen. Auch die Telefonüberwachung und das Abfangen von Briefen lieferten keinerlei Beweise für eine Agententätigkeit, sondern allenfalls Einblick in eine problematische Liebesbeziehung. Die kriminologische Überführung gelang schließlich mit einer Falle: Ein MfS-Mitarbeiter präparierte Dokumente und erkannte einen Tag später, dass Barczatis sie unerlaubt aus dem Panzerschrank des Ministers entnommen und wieder zurückgebracht hatte. Dass sie die Dokumente mit nach Hause nahm, um sie Laurenz zu zeigen, gab sie später unter richterlichem Druck zu, es konnte ihr jedoch nicht nachgewiesen werden.
Festnahme
Die ursprünglich für den 8. Dezember 1954 geplante Festnahme verschob sich aus unbekannten Gründen auf das Frühjahr 1955. Am 4. März wurde Karl Laurenz beim Verlassen seines Hauses in der Vinetastraße 49 in Berlin-Pankow verhaftet und zur Volkspolizeiinspektion Berlin-Lichtenberg gebracht. Es folgte eine halbjährige Untersuchungshaft in Berlin-Hohenschönhausen. Dort wurden Laurenz von Leutnant Gerhard Niebling vernommen. Laurenz – zunächst geständig – verweigerte später die Aussage, bis die stundenlangen Nachtverhöre gegen ihn eingestellt wurden. In den Vernehmungen verglich er die Staatssicherheit der DDR mit dem nationalsozialistischen Sicherheitsdienst (SD) und der Gestapo.
Prozess und Hinrichtung
Am 17. Juni 1955 wurden die Untersuchungen mit der Empfehlung, die Hauptverhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen, abgeschlossen. Diese fand an einem einzigen Tag, dem 23. September 1955, in Berlin-Mitte vor dem 1. Strafsenat unter Vorsitz des Richters Walter Ziegler statt.[4] Weder Barczatis noch Laurenz verfügten über einen Verteidiger. Neben den Angeklagten, dem Gericht und dem Staatsanwalt saßen nur MfS-Offiziere im Gerichtssaal. Obwohl die ursprüngliche Empfehlung lebenslange Freiheitsstrafe lautete, wurden beide Angeklagten am 23. September wegen „Boykotthetze“ nach Artikel 6 der Verfassung der DDR (dem Standardartikel bei Spionage) zum Tode verurteilt. Es waren die Todesurteile acht und neun des Jahres 1955 in diesem Gericht. Die Gnadengesuche lehnte DDR-Präsident Wilhelm Pieck am 11. November ab.
Beide Urteile wurden am 23. November 1955 in der Zentralen Hinrichtungsstätte der DDR in der Untersuchungshaftanstalt Dresden I durch die Fallschwertmaschine vollstreckt und die Leichname eingeäschert.[5] Am 12. Oktober 1955 schloss die Stasi den Fall „Sylvester“ offiziell ab.
Bewertung und juristische Aufarbeitung
Für die Bundesrepublik war Elli Barczatis angeblich von hohem nachrichtendienstlichen Wert.[6] So bezeichnete der ehemalige BND-Chef Reinhard Gehlen Elli Barczatis in seinen 1971 erschienenen Memoiren als eine „der ersten wichtigen Verbindungen im anderen Teil Deutschlands“ und dankte ihr für ihre „hingebungsvolle und erfolgreiche Tätigkeit“.[7]
Laurenz hielt seine Agententätigkeit für lapidar und die nachrichtendienstliche Bedeutung seiner Informationen an den Westen für bedeutungslos. Ein typisches Zitat aus dem eintägigen Gerichtsprozess:
„Ich habe geschrieben über die Berliner Konferenz, ich habe geschrieben über die […] Umstellung auf Goldbasis unserer Währung, ich habe über das 21. Plenum geschrieben, ich habe gewisse Dinge glossiert, die mir glossierenswert erschienen, z. B. wenn irgendwo […] in der demokratischen Presse geschrieben worden war, dass bei irgendeinem Bau, was weiß ich, die Toiletten nicht funktionierten. […] Es war jedenfalls ein Krampf, diese zwei Meldungen in der Woche zusammenzubekommen, denn ich durfte grundsätzlich nichts mehr berichten, was bereits in der Zeitung stand oder durch den Rundfunk gegeben war. Von Laby weiß ich, dass die Organisation in Westberlin eine eigene Funkanlage hatte, um wichtige Nachrichten per Funk sofort weiterzugeben. Und ich muss feststellen, dass in meiner ganzen zweijährigen Tätigkeit von mir aus nicht eine einzige Meldung per Funk weitergegeben worden ist.“
Die Beisitzende Richterin Helene Heymann (zum Zeitpunkt des Prozesses Helene Kleine) musste sich 1995 vor dem Landgericht Berlin wegen Totschlags, Freiheitsberaubung und Rechtsbeugung verantworten.[8] Weil sie wissentlich unverhältnismäßig hohe Strafen verhängte, erhielt sie eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren, deren Vollstreckung jedoch ausgesetzt wurde.[9]
Karl Laurenz wurde am 28. November 2006 durch das Landgericht Berlin strafrechtlich rehabilitiert.[10]
Originaldokumente
Eröffnung des offiziellen Ermittlungsvorgangs „Sylvester“ 26. Juni 1951 | |
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– Quelle: BStU MfS 57/56 Band 1, S. 67 f. Schreibmaschinen-Dokument. Alle typografischen Eigenheiten und Fehler sind aus dem Originalprotokoll übernommen. | |
Ermittlungsbericht der Staatssicherheit 29. Mai 1952 | |
– Quelle: BStU MfS 57/56 Band 1, S. 98. Handschriftliches Dokument. Alle typografischen Eigenheiten und Fehler sind aus dem Originalprotokoll übernommen. | |
Aktenvermerk der Staatssicherheit 3. Juni 1952 | |
– Quelle: BStU MfS 57/56 Band 1, S. 100. Schreibmaschinen-Dokument. Alle typografischen Eigenheiten und Fehler sind aus dem Originalprotokoll übernommen. | |
Telefonüberwachungsbericht der Staatssicherheit 21. April 1953 | |
– Quelle: BStU MfS 57/56 Band 2, S. 136. Schreibmaschinen-Dokument. Alle typografischen Eigenheiten und Fehler sind aus dem Originalprotokoll übernommen. | |
Anklage 16. Juli 1955 | |
– Quelle: BStU MfS AU 406/55, Band 3, S. 38ff. Schreibmaschinen-Dokument. Alle typografischen Eigenheiten und Fehler sind aus dem Originaldokument übernommen. | |
Todesurteile 23. September 1955 | |
– Quelle: BStU MfS AU 406/55, Band 3, S. 132. Schreibmaschinen-Dokument, Fotokopie der Abschrift. Alle typografischen Eigenheiten und Fehler sind aus dem Originaldokument übernommen. | |
Vollstreckungsprotokoll der Hinrichtung 23. November 1955 | |
– Quelle: BStU MfS AU 406/55, Band 3, S. 141. Schreibmaschinen-Dokument. Alle typografischen Eigenheiten und Fehler sind aus dem Originalprotokoll übernommen. |
Literatur
- Karl Wilhelm Fricke, Roger Engelmann: „Konzentrierte Schläge“ – Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956. Berlin 1998, S. 181–194.
Hörbuch
- Maximilian Schönherr: Fallbeil für Gänseblümchen, Feature. Christoph Merian Verlag, Basel 2012, 1 CD, 53 Min., ausgezeichnet mit dem Deutschen Hörbuchpreis 2014 als bestes dokumentarisches Hörbuch.
Weblinks
- Sekretärin im Visier der Stasi - Die Ermittlungen des Ministeriums für Staatssicherheit gegen Elli Barczatis und Karl Laurenz, in: Mediathek des Stasi-Unterlagen-Archivs
- Der DDR-Strafprozess gegen Elli Barczatis und Karl Laurenz 1955. In: SWR2-Archivradio. 5. November 2018 .
- Jan von Flocken: Agenten: Heimlich aufs Schafott. In: Focus 40/1996. 30. September 1996 .
- Der Fall „Gänseblümchen“: Das Todesurteil gegen die Grotewohl-Sekretärin Elli Barczatis und ihren Gefährten Dr. Karl Laurenz. Pressemitteilung des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), 17. September 2003, archiviert vom Original am 4. März 2016 .
- Nils Klawitter: Casanova-Spione in der DDR: Todesstrafe für Gänseblümchen. In: einestages auf Spiegel Online. 24. September 2019 .
- Nils Klawitter, Olaf Heuser: Spionage: Gänseblümchens Tod – die Audio-Story. (mp3-Audio, 12,8 MB 13:58 Minuten) In: Spiegel Online. 24. September 2019 .
Einzelnachweise und Anmerkungen
- BStU, MfS, AOP 57/56, Bl. 54.
- Das MfS vermerkt in seinem Ermittlungsbericht „Alles über die Person“ vom 8. Dezember 1952: „Mit seinem Bruder […] steht er in Verbindung. Er wohnt in Kirlach und schikt öfter Pakete mit Medikamenten, Zigarren usw. an ihm und dessen Ehefrau.“
- Clemens Laby (* 22. November 1900, † 1984) ist dem Archiv des Bundesnachrichtendiensts unbekannt (Stand: Ende 2011). Er wird jedoch in mehreren Strafprozessen der DDR in den 1950er Jahren erwähnt, stets als Kontaktmann für westliche Geheimdienste. Siehe BStU-Akten MfS HA IX/Tb/2166-2188, MfS AOP 77/53, MfS AU 406/55
- BStU, MfS, ZA, AU 406/55, Bl. 92: Eröffnungsbeschluß „Termin zur Hauptverhandlung ist auf den 23. September 1955, vorm. 9.oo Uhr anberaumt worden. Bl. [für Berlin], d. 16.9.1955“.
- Jochen Staadt: Gänseblümchens Tod. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. April 2001, Berliner Seiten, S. 3.
- Hermann Zölling, Heinz Höhne: Pullach intern. In: Der Spiegel. Nr. 17, 1971, S. 156 (online).
- Reinhard Gehlen: Der Dienst. Erinnerungen 1942–1971. München 1971. Zit. n. Der Fall „Gänseblümchen“: Das Todesurteil gegen die Grotewohl-Sekretärin Elli Barczatis und ihren Gefährten Dr. Karl Laurenz. Pressemitteilung des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), 17. September 2003, archiviert vom Original am 4. März 2016; abgerufen am 24. Oktober 2019.
- Sigrid Averesch: Prozeß gegen Ex-DDR-Richterin / Einstellung beantragt: Sechs Menschen starben unter dem Fallbeil. In: Berliner Zeitung. 17. Januar 1995, abgerufen am 24. Oktober 2019.
- Sigrid Averesch: Landgericht verurteilte frühere DDR-Richterin zu fünf Jahren Gefängnis / Haftverschonung gewährt: Wissentlich zu hohe Strafen verhängt. In: Berliner Zeitung. 31. März 1995, abgerufen am 24. Oktober 2019.
- Landgericht Berlin, Geschäftsnummer (551 Rh), 3 Js 322/06 (331/06).
- Gertrud Rettschlag war Karl Laurenz Geliebte, bevor er Elli Barczatis kennenlernte